Die beiden Frauen, die auf den Stühlen vor Lucs Schreibtisch warteten, waren leichenblass. Pierre schätzte sie auf Ende fünfzig. Sie hatten beide kinnlanges, aschblondes Haar und trugen olivgrüne Funktionsjacken.
Die größere, eine hagere Person mit spitzer Nase, setzte gerade ihre Brille ab und nahm dankbar ein Taschentuch entgegen, das Penelope ihr vom benachbarten Schreibtisch aus reichte.
»Die Damen kommen aus der Bourgogne«, raunte Luc, der Pierre an der Tür abgefangen hatte. »Sie machen hier einen Wanderurlaub. Zurzeit wohnen sie in der Auberge Signoret. «
»Hast du schon Kopien von ihren Ausweisen gemacht?«
»Selbstverständlich. Sie heißen Corinne Gosselin und Martine Poulain.«
Pierre nickte, doch als er zu den beiden Frauen an den Schreibtisch trat, hatte er ihre Namen zu seinem Leidwesen schon wieder vergessen. »Guten Tag. Ich bin Pierre Durand, Chef de police municipale. Mein Kollege sagt, Sie hätten möglicherweise einen Leichnam entdeckt?«
»Jetzt, im Nachhinein bin ich mir nicht mehr ganz sicher«, sagte die kleinere mit ruhiger Stimme. »Es könnte auch ein Haufen weggeworfener Kleidung gewesen sein.«
Die Hagere schüttelte heftig den Kopf. »Ich schwöre dir, ich habe eine Hand gesehen. Sie war grob und fleischig.«
»Und wenn es nur ein Pilz war? Ich meine, wir waren doch nicht nahe genug dran.«
Pierre sah Luc fragend an.
Dieser hob die Schultern. »Es gibt kein Foto vom Tatort«, murmelte er. »Wir haben nur ihre Aussagen.«
»Und wo«, fragte Pierre, an beiden Frauen gewandt, »haben Sie diesen … Kleiderhaufen gesehen?«
Die Kleinere kam ihrer Freundin zuvor. »So genau können wir das nicht sagen. Wir waren schon ein ganzes Stück unterwegs in Richtung der Fontaine de Vaucluse. Der Wassertopf der Quelle soll gut gefüllt sein und kräftig sprudeln. Ein Naturschauspiel, das wir uns nicht entgehen lassen wollten.«
»Nahe der Fontaine de Vaucluse ? Das wäre dann eventuell eine andere Zuständigkeit.«
»Nein, nein, wir waren noch im Gebiet von Sainte-Valérie«, entgegnete die Hagere und setzte ihre Brille wieder auf. Dann zog sie eine Wanderkarte aus der Jackeninnentasche, die sie mit einer energischen Bewegung auf dem Tisch ausbreitete. »Sehen Sie hier.« Mit spitzem Finger tippte sie auf den Parkplatz am Waldrand, der etwa zwei Kilometer nordwestlich von Sainte-Valérie lag. »Dort sind wir losgelaufen und waren höchstens fünfzehn Minuten unterwegs. Laut meiner Handy-App sind es von dort noch gut vier Kilometer bis zur Quelle.«
»Ja, höchstens fünfzehn Minuten«, bekräftigte ihre Freundin. »Wir sind sofort umgekehrt, um Meldung zu machen.«
Pierre beugte sich über die Karte, auf der die Höhenlagen verzeichnet waren. »Und wo ungefähr liegt der Fundort?«
Die beiden starrten unschlüssig auf den Plan, schließlich fuhr die Kleinere mit dem Finger einen Weg entlang, der parallel zu einem Bach verlief. »Irgendwo hier.«
»Nein, das war ein Stück weiter«, widersprach die Hagere. »Das weiß ich ganz genau.«
Pierre blies die Luft durch die Wangen. Das bezeichnete Gebiet war groß. Zu groß, um ohne die beiden Frauen auf die Suche zu gehen. »Ich schlage vor, wir fahren gemeinsam zum Wald, und dann zeigen Sie mir die Stelle.«
Die beiden Freundinnen warfen sich einen raschen Blick zu.
»Muss das sein?«, fragte die Kleinere und zog die Schultern nach vorne, sodass sie fast wie ein Schulmädchen wirkte, das eine Strafarbeit aufgebrummt bekam.
»Es würde uns sehr weiterhelfen.«
»Na schön.« Die Hagere straffte den Rücken. »Bringen wir es hinter uns.«
Der Parkplatz lag seitlich einer in engen Kurven hinaufführenden Straße. Luc war schon vor ihnen eingetroffen und holte gerade eine Rolle Absperrband aus der Transportbox des Motorrades. Pierre stellte den Dienstwagen direkt daneben ab, dann tauchte die kleine Truppe in den Kiefernwald ein.
Schweigsam liefen sie hintereinander her, ein jeder in seine Gedanken vertieft. Vorneweg die Hagere, die energischen Schrittes voranging, als sei sie gewohnt, dass man ihr widerspruchslos folgte. Hinter ihr Luc mit der kleineren Frau, neben der selbst er wie ein Riese wirkte. Pierre bildete das Schlusslicht.
Der von geschliffenen Steinen übersäte Weg war an manchen Stellen noch feucht, und man musste aufpassen, um nicht auszurutschen. Aber es war inzwischen regelrecht warm geworden, und Pierre öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, während er sich aufmerksam umsah.
Dort, wo ein Brand vor Jahren große Flächen vernichtet hatte, riss die Sicht auf. Über die nachgewachsene Macchialandschaft aus Thymian, Wacholder und Ginsterbüschen konnte man über die Monts de Vaucluse blicken, deren gezackte Kalkspitzen in der Vormittagssonne leuchteten. Ein gewaltiges Massiv, das sich in östlicher Richtung bis zum Plateau d’Albion erstreckte, mit seinen im Sommer weithin sichtbaren Lavendelfeldern.
Bald standen die Bäume wieder dichter. Lärchen und Fichten wechselten sich mit blattlosen Buchen ab, der Weg war bedeckt von abgerissenen Zweigen und Ästen. Diesen Teil des Waldes hatte, wie Pierre feststellte, die Forstverwaltung offenbar noch nicht geräumt.
»Dort hinten ist es!«, rief die Hagere plötzlich, und ihre Stimme kiekste vor Aufregung. Sie streckte den Arm aus und zeigte auf den Bach, der ein Stück unterhalb des Weges verlief. Seitlich seines natürlichen Bettes hatte das Wasser eine schlammig-braune Spur hinterlassen, die sich wie eine Narbe über die Senkung legte. »Sehen Sie? Da.«
Tatsächlich. Mitten im Wasser trieb ein schlammgrüner Parka, dessen Stoff sich in der sanften Strömung hin und her bewegte. Dazu etwas, das wie umspülte Baumstämme anmutete, die jemand mitten in den Bach gerollt hatte.
Doch als Pierre die Augen zusammenkniff und den Blick fokussierte, konnte er erkennen, dass die sich im Wasser bewegende Jacke einen menschlichen Körper umhüllte, der mit dem Gesicht nach unten im Flussbett lag. Und dass die umspülten Teile keine Baumstämme waren, sondern Hosenbeine.
Pierre schluckte. Er verabscheute den Anblick des Todes und musste sich zusammenreißen, um den beiden Damen ein Gefühl von Tatkraft und Sicherheit zu vermitteln. Mechanisch aktivierte er die Kamera seines Mobiltelefons und zoomte den Körper heran. Gedrungene Statur, ein beinahe kahler Hinterkopf. Offenbar ein Mann.
»Sie warten hier«, wies er die Frauen an. Dann winkte er Luc, ihm zu folgen.
Vorsichtig kletterten sie den Hang hinab. Der Regen hatte den Untergrund stark aufgeweicht, und das am Boden liegende Herbstlaub war nurmehr eine glitschige Masse, sodass Pierre immer wieder Halt an Baumstämmen und Ästen suchte, um nicht auszurutschen.
Während er unten angekommen auf Luc wartete und sich die Erde von der Hose klopfte, rasten seine Gedanken in dem Versuch, die Situation zu erfassen.
Gut möglich, dass der Mann ebenfalls den Hang hinabgestolpert und unglücklich aufgeschlagen war. Fragte sich nur, wie er dann bis zum Bach kommen konnte. Vielleicht war er ja auch Opfer eines Querschlägers geworden. So etwas kam immer wieder vor, jetzt, mitten in der Jagdsaison.
Doch als Pierre am Ufer angelangt war und in die Hocke ging, um die Leiche zu betrachten, lösten sich seine Spekulationen im Licht der Eindeutigkeit der Lage sofort auf. Der Parka des Toten wies Löcher auf, die von Stichverletzungen zeugten. Zweifellos war der Mann Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.
Mit einem Seufzen betrachtete Pierre das im Wasser liegende Gesicht und schob einen Zweig beiseite, der sich am stiernackigen Hals verfangen hatte.
»Kennst du ihn?«, fragte Luc, der sich interessiert nach vorne beugte, die Hände auf die Oberschenkel gestützt.
»Nein«, antwortete Pierre, obwohl ihn eine plötzliche Ahnung befiel. Dieser Nacken … »Wir sollten ihn mal umdrehen.«
Luc schüttelte heftig den Kopf. »Nee, lass das mal lieber die Kollegen vom Kommissariat machen. Der liegt schon zu lange hier. Sieh nur, wie gedunsen die Haut ist. Das wird kein schöner Anblick, glaub mir.« Er richtete sich auf.
Auch Pierre erhob sich. Suchend sah er sich um. Schließlich griff er einen herumliegenden Ast vom Boden und schob ihn mit breit aufgestellten Beinen unter den Körper. Bewegte ihn dann nach vorne, sodass sich der Tote ein Stück drehte.
Der Anblick war grauenhaft.
»Verdammte Scheiße!«, stieß Pierre hervor und trat einen Schritt zurück. Dabei ließ er den Ast los, sodass der Körper wieder in seine alte Position verfiel. Das Gesicht war fast bis zur Unkenntlichkeit verquollen. Und dennoch hatte er keinen Zweifel mehr, wer vor ihnen im Bach lag.
»Habe ich es dir nicht gesagt?«, feixte Luc und verzog den Mund, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Das hätten wir uns echt ersparen können.«
»Das ist es nicht. Hast du ihn denn nicht erkannt?«
»Nein. Du?«
»Und ob«, sagte Pierre und schluckte heftig. »Es ist Gilbert Langlois.«