»Brigadier Chevallier, kommen Sie jetzt endlich?«
»Sofort.« Luc nickte der Lieutenante zu. »Ich muss nur rasch eine Nachricht auf meiner Mobilbox abhören.«
Er war nicht rangegangen, als er Pierres Nummer auf dem Display gesehen hatte, es war ihm verboten, mit seinem Chef zu kommunizieren. Doch als er merkte, dass Pierre ihm eine Nachricht hinterlassen hatte, war er neugierig geworden. Es könnte wichtig sein.
Luc hob das Telefon ans Ohr und lauschte Pierres Stimme. Er komme gerade von dem Trüffelhof von Maurice Marechals Bruder. Er habe interessante Dinge herausgefunden und müsse sich dringend mit ihm unterhalten. Ob er Zeit habe, ihn zurückzurufen.
Pierre hatte wirklich Nerven! Während hier die Lutzi abging, schaukelte er in aller Ruhe mit Carbonnes Kastenwagen durch die schöne Landschaft und besuchte Trüffelplantagen.
Kann gerade nicht, tippte er. Konnten Langlois’ Mobiltelefon über die Seriennummer orten. Melde mich später.
Luc schob das Telefon zurück in die Jackentasche, befestigte den Bügel seines Kopfhörers am rechten Ohr und setzte den Helm auf. Dann betätigte er den Kickstarter seiner Maschine und folgte Lieutenante Fenech, die den Wagen der police nationale durch die Gassen lenkte, als wäre sie damit verwachsen. Dabei gab sie so kräftig Gas, dass Spaziergänger und Flanierende hastig beiseite sprangen.
Eine taffe Person, dachte Luc anerkennend. Er mochte Frauen, die rasant fuhren. Auch wenn die Lieutenante ansonsten nicht seinem Typ entsprach, burschikos wie sie war, so hatte die militärische Art, wie sie ihn herumkommandierte, durchaus etwas Erregendes. Noch erregender jedoch war die Aussicht auf die Aufgabe, die nun vor ihm lag, und während er durch das Stadttor brauste, spürte er eine nervöse Anspannung, die sich als Knoten im Magen bemerkbar machte.
Die Zielperson, die für Langlois’ Mobiltelefon inzwischen eine neue SI M -Karte benutzte, sollte gestellt werden.
Luc hätte sich ausschütten können vor Lachen, als Commissaire Lechat ihnen die Mitteilung machte. Es gab anscheinend noch immer Menschen, die glaubten, mit einem neuen Handyanbieter durch die Polizei nicht ortbar zu sein.
Der Mann gehörte zum Team der Waldarbeiter, die bei der Gemeinde fest angestellt waren. Yanis Vallon, er hatte den Namen noch nie gehört, wohl auch, weil der Verdächtige nicht in Sainte-Valérie wohnte. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht, als wäre er vom Himmel gefallen und direkt auf dem Präsentierteller der Ermittler gelandet.
Aber so war es manchmal, wenn es einen Mord aufzuklären gab. Eine klitzekleine, völlig unverhoffte Spur, die zwischen all den akribisch verfolgten zum Mörder führte. Weit abseits jeglicher Spekulationen. Vielleicht, so dachte Luc, war der Fall damit schneller gelöst als erwartet. Und er, der ewige Assistent, war ganz vorne dabei.
Bald ließen sie Sainte-Valérie in nördlicher Richtung hinter sich und nahmen die Straße nach Murs, wo Yanis Vallon angeblich wohnte.
Luc legte sich schwungvoll in die engen Kurven, die hier, in dem noch bewohnten Teil der Gemeinde, von hüfthohen Steinmauern begrenzt waren, den Polizeiwagen vor ihm fest im Blick. Er konnte nur hoffen, dass ihnen auf der Strecke kein Fahrzeug entgegenkam. Sein Motorrad schlingerte, kam an einer sandigen Stelle sogar ein wenig ins Rutschen, und er lenkte heftig gegen, damit das nagelneue Gefährt nicht an den Bruchsteinen entlangschrammte.
Luc wurde warm. Eine Schweißperle tropfte ihm in den Nacken.
Er musste ganz schön Gas geben, um Lieutenante Fenech nicht aus den Augen zu verlieren. Sie schien es auf einen Wettkampf anzulegen, doch er wollte sich vor der Kollegin keine Blöße geben. Er würde ihr schon zeigen, was er als frisch gebackener Policier motocycliste draufhatte.
Endlich ließen sie die begrenzenden Mauern hinter sich. Brausten an immergrünen Garrigue-Landschaften vorbei, an Sträuchern und Kräutern, blühendem Ginster, niedrigen Kiefern und krüppelwüchsigen Eichen, deren Zweige bis auf die Straße ragten.
Als sie schließlich in die Route de Murs einbogen und die Straße breiter wurde, blies Luc erleichtert die Luft aus. Mit dem Ausatmen entspannte sich auch sein Magen.
Jetzt hielt er das Motorrad mühelos hinter dem Auto der police nationale, und er begann, die Fahrt, den Druck des Luftzuges an seinen Flanken zu genießen. Vor ihm tauchte jetzt das Plateau de Vaucluse mit dem Schachbrettmuster seiner Felder auf, rechts die in bläulichen Dunst getauchten Provenzalischen Alpen. Wie schön es hier ist, dachte er ergriffen.
Fast hätte er nicht bemerkt, dass Lieutenante Fenech das Tempo rausnahm, und er musste heftig bremsen, damit er nicht auffuhr.
»Brigadier Chevallier«, drang ihre Stimme über Funk an sein Ohr. »Alles im Griff?«
»Natürlich. Warum haben Sie das Tempo verlangsamt?«
»Wir sind bald da. Ich werden Ihnen jetzt Anweisungen geben und möchte, dass Sie sich daran halten.«
»Verstanden.«
»Gut.« Es rauschte und knackte, dann war ihre Stimme wieder klar zu hören. »Wir sind nicht alleine vor Ort. Mehrere Kollegen haben sich unauffällig um das Haus der Zielperson verteilt. Wir werden gleich ein wenig für Aufmerksamkeit sorgen. Wenn ich das Blaulicht anschalte, bitte ich Sie, es mir gleichzutun. Aber die Sirene starte ich alleine.«
»Aber dann ist Vallon doch vorgewarnt.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Das ist ja auch unsere Absicht. Das Haus, in dem die Zielperson wohnt, hat einen Hinterausgang. Wenn er flieht, ist das quasi ein Schuldeingeständnis.«
»Ah«, sagte Luc. »Verstehe.«
Es knackte im Kopfhörer. Lieutenante Fenech hatte die Verbindung unterbrochen.
Die Straße führte jetzt in Kurven hinab auf die Ebene, sie passierten Felder und kahle Waldstücke. Über ihnen der blaue Himmel, durchzogen von weißen Wolkenschichten, die sich träge über der Landschaft verteilten.
Kaum, dass sie die ersten Häuser von Murs erreichten, drehte sich das blaue Licht auf dem Dach des Polizeiwagens vor ihm. Die Nervosität im Magen brach sich pulsierend Bahn, als hätte sie nur ein Nickerchen gehalten. Diesmal fühlte es sich an, als trete ihm jemand direkt in den Solarplexus.
Luc betätigte den Schalter für das Blaulicht, das seine Hände an den Griffen umtanzte, während sie die Hauptstraße von Murs mit ihren niedrigen Steinbauten entlangrasten.
Der Ort wirkte wie ausgestorben. So als hielten die Bewohner noch immer Winterschlaf, der ganze Aufwand lockte nicht einen Rentner ans Fenster. Vielleicht hätten sie doch mit Sirenengeheul kommen sollen.
Sie hatten beinahe das Ende von Murs erreicht, als Lieutenante Fenech die Sirene für drei kurze Töne an- und sofort wieder ausschaltete. Dann riss sie den Wagen nach rechts auf eine abschüssige Straße und brachte ihn quer vor dem Eingang eines Hauses mit schwarz gerußten Steinen zum Stehen.
Mit dynamischem Schwung stieg sie aus und sah zu Luc, der jetzt neben ihr hielt und das Motorrad abstellte. Aus dem Augenwinkel spähte er nach den angekündigten Kollegen, doch es war niemand da.
»Was nun?«, fragte er und sah zweifelnd auf das Haus, das in dem blau flackernden Licht gespenstisch verwaist wirkte.
»Vielleicht nehmen Sie als Erstes Ihren Helm ab«, feixte sie. »Und dann geben Sie mir Rückendeckung.«
Luc grinste vielsagend. Damit kannte er sich aus. »Bei der hübschen Rückenansicht mache ich das sogar mit Vergnügen.«
Fenech starrte ihn an. »Das ist nicht der Zeitpunkt für sexistische Scherze. Wo ist Ihre Waffe?«
Luc nahm seine halb automatische Glock 17 aus dem Halfter und folgte der Lieutenante, die nun den Türklopfer betätigte, der schwer und dröhnend auf das Holz fiel.
»Monsieur Vallon, öffnen Sie, Polizei.« Es geschah nichts. »Wenn Sie nicht sofort aufmachen, trete ich die Tür ein!«
Plötzlich wurden Stimmen laut, sie kamen aus dem Bereich hinter dem Haus. Man hörte ein Schlagen, dann ein Brüllen. Kurz darauf traten zwei Beamte in Zivil über einen Seitenweg nach vorne, zwischen ihnen ein junger Mann Mitte zwanzig mit dunklem, langem Haar, der versuchte, sich aus ihrem Griff zu winden. Keine Minute später hatten die Beamten seine Handgelenke fixiert und den Waldarbeiter auf den Rücksitz des Polizeiwagens verfrachtet. Einer von ihnen hielt triumphierend das Mobiltelefon in die Höhe und ließ es schließlich in einen Plastikbeutel gleiten.
»Was soll das?«, rief Yanis Vallon. »Ich habe nichts Schlimmes getan!«
Lieutenante Fenech beugte sich zu ihm hinab. »Und warum haben Sie uns dann nicht die Tür geöffnet?«
»Weil ich in Panik geraten bin. Sie kommen hier mit Blaulicht an, als wäre ich ein Schwerverbrecher.«
»Nach Ihrem Fluchtversuch müssen wir davon ausgehen, dass Sie einer sind.«
»Ich kann mir schon vorstellen, warum Sie hier sind. Aber ich habe den Mann nicht getötet. Ich kenne ihn überhaupt nicht. Bevor seine Leiche aufgetaucht ist, habe ich seinen Namen nie gehört.«
»Woher haben Sie dann sein Telefon?«
»Ich habe es gefunden, während der Arbeit im Wald.«
»Wann war das?«
»Am Dienstag, nachdem unser Trupp mit den Aufräumarbeiten begonnen hat.«
»Wo genau hat das Telefon gelegen?«
»Das weiß ich doch heute nicht mehr, irgendwo auf dem Waldboden.«
»Es lag nicht zufälligerweise an der Stelle, wo der Bach parallel zum Wanderweg verläuft?«
»Da war ich überhaupt nicht. Wir haben am öffentlichen Parkplatz begonnen und uns allmählich vorgearbeitet. Das Gebiet ist ziemlich groß. Und es waren eine Menge abgerissener Zweige und Äste, die es wegzuräumen gab.«
»Ich glaube, er sagt die Wahrheit«, meinte Luc. »Ich habe vorhin mit dem Forstleiter gesprochen. Er hat sich am Donnerstag ein Bild von der Lage gemacht und dann entschieden, die starken Regenfälle abzuwarten, um die Arbeiter wegen der unpassierbaren Wege nicht zu gefährden. Erst am Dienstag, also sechs Tage nach der Tat, haben die Aufräumarbeiten begonnen. Sie haben beim öffentlichen Parkplatz angefangen.«
»Ja, so war es.« Vallon schluchzte auf. »Das ist ein teures Ding, das konnte ich doch nicht einfach liegen lassen. Ja, ich habe es eingesteckt, aber das wird ja wohl nicht so schlimm sein, dass Sie mich gleich verhaften.«
Lieutenante Fenech schnalzte mit der Zunge. »Sie sehen ja, dass es reicht. Sie hätten das Telefon in der mairie von Sainte-Valérie oder bei der police municipale abgeben müssen. Eine Fundunterschlagung ist sehr wohl eine Strafsache. Und wer weiß? Es wurde schon für viel weniger gemordet als für ein so teures Telefon.«
»Das ist eine verdammte Unterstellung!«
»Warten wir es ab. Wir verhaften Sie jetzt erst mal wegen der Fundunterschlagung und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Es steht Ihnen frei, einen Anwalt hinzuzuziehen.«
Die Lieutenante nickte ihrem Kollegen in Zivil zu, der sich neben den Waldarbeiter in den Fond des Wagens setzte.
Ein weiterer Beamter kam aus dem Haus. »Wir haben einen Laptop gefunden«, sagte er. »Ich bin gespannt, ob der auch von dem Mordopfer stammt.«
»Das ist meiner«, rief Vallon aus dem Fond, und seine Stimme klang verzweifelt. »Das kann ich beweisen. Ihr verdammten … Ihr werdet mir doch jetzt nichts unterschieben wollen bloß wegen dieses Telefons.«
Der Beamte zuckte nur mit den Schultern. »Wir warten jetzt erst einmal auf das Ergebnis der Durchsuchung. Das Telefon schicken wir in die Kriminaltechnik. Mal sehen, ob noch Daten zu retten sind. Ich bin da allerdings skeptisch.«
Lieutenante Fenech nickte. Ihr Blick glitt zu Luc, der noch immer seine Dienstwaffe in der Hand hielt. »Was ist, wollen Sie die Glock nicht wieder ins Holster stecken? Bevor Sie hier noch was anrichten.« Damit öffnete sie die Fahrertür.
Luc tat, wie ihm befohlen. Er betrachtete den jungen Mann, der den Kopf erschöpft zurückgelegt hatte und nun so hemmungslos weinte, dass ihm Rotz und Tränen über das Gesicht liefen. Ihm kamen plötzlich Zweifel an dessen Schuld, auch wenn er nicht wusste, woran er das festmachen sollte. Vielleicht ging ihm das alles auch einfach zu glatt.
Er klopfte an die Scheibe auf der Fahrerseite und beugte sich vor, nachdem die Lieutenante es heruntergelassen hatte.
»Meinen Sie wirklich, dass das der Mörder ist?«
»Ticken Sie noch richtig?«, fauchte Fenech und wies mit einem Nicken nach hinten. »Sie glauben doch wohl nicht, dass ich das jetzt mit Ihnen ausdiskutiere. Einfach mal die Klappe halten. Ein bisschen Mitdenken wäre nicht verkehrt.«
Luc presste die Lippen aufeinander und richtete sich auf. »Das war gerade eine Beleidigung.«
»Ihre Anmache vorhin war auch eine. Jetzt sind wir quitt.« Sie lächelte süffisant. »Au revoir, Brigadier Chevallier.«
»Wohin fahren Sie? Zur Dienststelle in Cavaillon? Soll ich hinterherkommen?«
»Nein. Ich habe momentan keine Verwendung für Sie.« Sie betätigte den Fensterheber. »Am besten«, sagte sie, während die Scheibe langsam wieder hinaufglitt, »Sie fahren zurück zur Wache und warten dort auf weitere Anweisungen.«
Dann gab sie Gas.
»Na großartig«, sagte Luc lakonisch und zog hastig den Fuß zurück, damit er nicht vom Vorderrad überrollt wurde.
Mit gerunzelter Stirn sah er dem Wagen nach, dann setzte er den Helm auf und schwang sich aufs Motorrad. Grummelnd. Die Aktion hatte er sich irgendwie anders vorgestellt.
Luc verband den Kopfhörer mit dem Smartphone und wählte Mistral von Rodriguez Jr. aus, drehte die Musik auf, laut und dröhnend.
Lieutenante Fenech konnte sich gehackt legen.