20

Ein heller Lichtschein fiel auf das Pflaster vor der Wache. Luc stand bereits im Türspalt und erwartete ihn.

Pierre fiel auf, dass sein Assistent noch immer den Motorradblouson trug, der den Oberkörper sichtlich aufpolsterte. Immerhin hatte er den Reißverschluss geöffnet, sodass es sogar ganz lässig aussah.

»Gut, dass du endlich da bist«, sagte Luc. »Komm rein, wir haben schon alles vorbereitet.«

In einer schnellen Drehbewegung überblickte Pierre die menschenleere Gasse, dann folgte er seinem Assistenten ins Innere.

Auf dem Besprechungstisch lagen bedruckte Zettel, ein Stapel Karteikarten, farbige Pinnnadeln und bunte Stifte. Daneben – mit dem Rücken zum Eingang – stand die neue mobile Stellwand, von der Luc ihm erzählt hatte. Darauf waren der Plan des Waldes angebracht, ein Zeitungsausschnitt, mehrere Listen und Fotos mit Namenskarten.

Pierre erkannte Didier Carbonne, den Mechaniker Stephane Poncet, den Gastronomen Albert Piquet, den Bauunternehmer Alain Partouche und weitere Dorfbewohner, die er gar nicht als tatverdächtig registriert hatte.

Dazu ein junger Mann mit langen dunklen Haaren, den er nicht kannte.

Penelope nahm gerade einen großformatigen Ausdruck ab, auf dem die Collage seines eigenen, dartpfeilübersäten Konterfeis abgebildet war, wofür Pierre ihr sehr dankbar war.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie, und er bat sie um einen café noir und ein Glas Wasser.

Dann trat er zu den Fenstern links und rechts der Eingangstür und zog die Vorhänge zu. Das hatte er noch nie getan, daher fiel ihm auch erst jetzt auf, dass es eher Vorhangschals waren, die sich nicht vollständig schließen ließen. Es sollte reichen, dachte er, und ging zurück zu Stellwand und Tisch.

Offenbar wollte Luc ihn tatsächlich vorbehaltlos in sämtliche Ermittlungsschritte einbeziehen. Es rührte Pierre mehr, als er zugeben wollte. Obwohl ihm, als er am Besprechungstisch Platz nahm, nun doch etwas mulmig zumute war, derart offensiv gegen die Anweisungen des Commissaires und der Lieutenante zu verstoßen. Eine weitere Suspendierung konnte er sich schlicht nicht leisten. Abgesehen davon hätte dann auch Gilbert Langlois sein Ziel erreicht, ohne dafür einen Finger krümmen zu müssen. Pierre stellte sich vor, wie der ehemalige Polizist den Kopf aus der Höllentür steckte und sich krumm und scheckig lachte.

»Willkommen zurück im Team«, erklärte Luc, der seinen Blick richtig gedeutet hatte und sich nun ebenfalls setzte. »Keine Sorge, nach allem, was wir wissen, besteht ganz offiziell kein Grund mehr, dich als tatverdächtig zu führen.«

Pierre richtete sich kerzengerade auf. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. »Warum denn das?«

»Auf den Zeitungsaufruf hin haben sich zwei Zeugen gemeldet. Beides Jäger, die am Mittwochnachmittag gegen halb vier gemeinsam durch den Wald gelaufen sind, um ihre Wildkamera zu holen. Sie hatten Sorge, das Gerät würde von den heftigen Regengüssen beschädigt. Die beiden sind denselben Weg entlanggegangen, den auch die Wanderinnen aus der Bourgogne acht Tage später genommen haben, nur kamen die Jäger aus nördlicher Richtung. Sie haben ebenfalls den Parka im Bach liegen sehen. Nur haben sie dem Ganzen keine Bedeutung zugemessen, es kommt ja häufiger vor, dass Leute ihren Müll in der Landschaft entsorgen. Außerdem wollten sie so schnell wie möglich wieder ins Trockene.«

»Halb vier!« Pierre lachte befreit auf. Das war wirklich eine gute Nachricht. Die zeitliche Lücke zwischen sechs und zwanzig nach sieben, als Charlotte ihre Freundin Anouk vom Bahnhof abgeholt hatte, war damit irrelevant. Bis zum Feierabend hatte er ja ein durchgängiges Alibi. »Weiß der Commissaire schon davon?«

Sein Assistent zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Bericht online auf die Teamplattform gestellt.«

»Es wäre einfacher gewesen, du hättest ihn angerufen.«

»Nicht nötig«, winkte Luc ab. In seiner Stimme schwang ein kaum zu überhörender Widerwille mit. »Momentan ist die Lieutenante für den Fall zuständig, und die soll sich das mal schön selbst raussuchen.«

Pierre runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Offenbar waren sein Assistent und Fenech heftig aneinandergeraten. Dankbar sah er zu Penelope, die gerade einen café noir vor ihm abstellte und ihnen Wasser eingoss, bevor auch sie mit einem Schreibblock in der Hand Platz nahm.

»Also.« Luc rieb sich die Hände. »Wir haben einiges zu besprechen. Wo fangen wir an?«

Pierre tat einen Löffel Zucker in den Kaffee und rührte bedächtig um, bevor er einen Schluck trank. Es tat gut, wieder hier zu sein, er genoss es und wollte den Moment auskosten, bevor er antwortete.

»Erzähl mir von den Befragungen«, sagte er schließlich, es war sein dringendstes Anliegen.

»Die waren leider nicht so ergiebig.« Luc schob eine Namensliste über den Tisch, es war dieselbe, die auch an der Stellwand hing. »Das hier ist eine Kopie der Liste, die in der Geldkassette in Langlois’ Wohnung lag. Wir haben alle darauf verzeichneten Personen verhört, aber niemand hat zugegeben, erpresst worden zu sein. Sie behaupteten einhellig, sie könnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie auf diese Liste gelangt seien, es müsse sich um eine Verwechslung handeln. Wir hatten keine Chance, es ist schließlich nur eine Namensliste, und es gibt keine stichhaltigen Beweise für eine Erpressung, die sind ja allesamt verschwunden. Und das wussten die Leute auch.«

»Von wem?«

»Ich nehme an, von Didier Carbonne. Der ist ja nach seiner Verhaftung direkt auf den Bouleplatz gerannt und hat sich über die dämliche Polizei ausgelassen. Außerdem hat er jedem, der es hören wollte, eröffnet, dass Gilbert Langlois der anonyme Erpresser war.«

»Gehört der Uhrmacher etwa noch immer zu den Tatverdächtigen?«, fragte Pierre mit Blick auf die Stellwand.

»Wenn es nach der Lieutenante geht, schon.« Luc strubbelte sich mit beiden Händen durch das kurze Haar, als brauche er eine Massage, um seine Gedanken zu ordnen. »Jedenfalls war Stéphane Poncet an dem Tag ebenfalls auf dem Bouleplatz«, fuhr er fort. »Und der hat dann, wie mir später ein Dorfbewohner berichtete, gleich weitergetragen, dass niemand, der erpresst worden ist, befürchten müsse, dass der Grund dafür herauskäme. Es gebe ja keine Beweise, der Mörder habe sie dankenswerterweise gleich mit entfernt.« Luc hob die Schultern. Dabei konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen, es war keine Frage, auf wessen Seite er stand. »Die Nachricht ist natürlich wie ein Lauffeuer durch den Ort gegangen. Und als wir dann bei den Leuten ankamen, die auf der Liste standen, wollte niemand etwas von einer Erpressung wissen.«

»Kein Wunder, dass Lieutenante Fenech eine Verschwörung wittert«, feixte Pierre. »Wahrscheinlich dachte sie, Carbonne selbst hätte die Beweise entfernt.«

»Sie denkt, du steckst dahinter.«

»Aber dann wären doch keine Bilder von mir in Langlois’ Wohnung gewesen«, entgegnete Pierre verwundert. »Die hätte ich als Allererstes abgemacht.«

Luc schüttelte lachend den Kopf. »Die Lieutenante glaubt, dass sich die Spuren vor seiner Tür auch anders erklären lassen. Es sei nicht zwangsläufig ein Beweis dafür, dass jemand in der Wohnung war.«

Eine enorm hartnäckige Frau, dachte Pierre, aber das Thema war ja nun mit den Aussagen der beiden Jäger endgültig vom Tisch. Er zog die Liste zu sich heran.

»Serge Oudard fünfhundert Euro«, las er staunend. »Albert Piquet tausendvierhundert, Stéphane Poncet achthundert …«

Es folgten die englische Tierärztin Sarah Williams, die auch Pierres Ziegen betreute, Bauunternehmer Alain Partouche, der Züchter Arthur Joffroy, Gärtner Patrick Flamant und Thomas Bussan, der eine Confiserie in der Rue du Portail besaß.

Gilbert Langlois war tatsächlich ein guter Polizist, dachte Pierre, wenn er derart brisante Dinge herausgefunden hat, dass die Opfer bereit waren, so viel Geld zu zahlen.

Acht Namen …

Pierre sah auf. »Und alle haben sie nachprüfbare Alibis für die Tatzeit?«

»Alle«, bestätigte Luc. »Partouche, Joffroy, Flamant und Bussan saßen beim Mittagessen im Restaurant von Albert, der wiederum die Gäste begrüßte. Unser Mechaniker hatte sich für ein Schläfchen hingelegt, wurde aber vom Paketboten geweckt, der das bezeugen konnte. Oudard war mit seiner Frau und einer Aushilfe im Krämerladen, um eine Getränkelieferung auszupacken und einzusortieren, und die Tierärztin hatte in Apt einen Notfall zu versorgen.«

»Sind das alle Namen von der Liste?«

»Ja. Stimmt etwas nicht damit?«

»Einer fehlt«, stellte Pierre fest. »Der von Didier Carbonne, dem Erpressungsopfer, wegen dem Langlois in den Wald gefahren war. Das ist bedeutsam. Ist irgendjemand darauf eingegangen?«

»Nein …« Luc war sichtlich irritiert. »Warum sollte das bedeutsam sein?«

»Weil Langlois nur diejenigen aufschrieb, von denen er das Geld bereits erhalten hatte. Darum stehen die Summen hinter den Namen. Wenn wir davon ausgehen, dass Langlois seine Opfer nicht mehrfach erpresst hat, dann helfen uns die Personen auf der Liste bei der Suche nach dem Mörder nur bedingt weiter. Wichtiger sind diejenigen, die noch nicht draufstehen. Was ist mit dem Waldarbeiter, hat der ein Alibi?«

»Yanis Vallon? Nein. Er sagt, er sei den ganzen Tag zu Hause gewesen. Er gehört ebenfalls zu den Tatverdächtigen.«

»Konnten die Kriminaltechniker eigentlich die Bilder von Gilbert Langlois’ Mobiltelefon wiederherstellen oder haben einen Zugang zu seiner Cloud bekommen?«

»Bislang nicht«, bemerkte Penelope. »Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass ihnen das noch gelingt. Aber dieser Vallon hat das Smartphone entsperrt, als es noch funktionstüchtig war, so viel ist sicher. Vielleicht hat er vor dem Löschen die Fotos durchgescrollt? Aus reiner Neugierde.«

Luc sah sie fragend an. »Wie soll er das Teil denn entsperrt haben ohne Code? Der wird es einfach nur zurückgesetzt haben.«

»Das funktioniert nicht bei diesem Modell. Es gibt eine Aktivierungssperre, die an das Passwort der Apple-ID gekoppelt ist. Ohne die kann man das System nicht neu aufspielen und das Telefon benutzen, und das hat er ja offensichtlich getan. Dafür braucht es einen Löschvorgang. Und den kann man nur starten, wenn man die Zugangsdaten hat. Oder wenn man einen illegalen Unlocker drauflädt, der die Sperre umgeht.«

Pierre hörte ihr aufmerksam zu. Er spürte, dass dies ein Weg zur Lösung sein könnte.

»Es gibt da noch etwas, das für den Fall bedeutsam ist.« Penelope erhob sich und ging zur Stellwand. »Wir haben hier eine Karte von dem Waldgebiet. Die rote Nadel kennzeichnet den Tatort, die gelbe den Holzstapel, an dem Langlois’ Wagen geparkt war. Etwa fünfzehn Gehminuten vom Tatort entfernt befindet sich der Parkplatz. Vallon hat das Telefon in diesem Umkreis hier unter dem Laub gefunden. Die ungefähre Stelle ist mit einem weißen Pin gekennzeichnet. Es ist also davon auszugehen, dass der Mörder das Telefon direkt nach der Tat eingesteckt und auf dem Weg zum Parkplatz verloren hat. Das schließt übrigens auch aus, dass er zu Fuß oder mit dem Fahrrad gekommen ist, denn dann hätte er den kürzeren Weg an der Straße entlang genommen.«

Luc verschränkte die Arme. »Und? Was sagt das aus?«

»Na, das ist doch eindeutig!«, rief sie. »Der Täter muss sein Fahrzeug mindestens vierzig Minuten auf dem Parkplatz abgestellt haben, wenn man die Tat einberechnet. Wahrscheinlich sogar länger. Er hat offensichtlich das Risiko in Kauf genommen, dass jemand den Wagen bemerkt. Oder er hat die Konsequenzen nicht bedacht. Was wiederum für eine hohe Emotionalität spräche. Einen fehlenden Plan.«

Pierre nickte. Penelope war klug. In ihr steckte mehr als eine Schreibkraft. Er fragte sich, ob sie wohl schon mal daran gedacht hatte, eine Ausbildung zur Polizistin zu machen. Er würde sie bei Gelegenheit darauf ansprechen.

Luc rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich komme da allmählich nicht mehr mit. Wofür soll das alles gut sein?«

»Es bedeutet, dass jemand richtig ausgetickt ist«, sagte Penelope und setzte sich wieder an ihren Platz. »Der Täter hat sehr spontan gehandelt, verstehst du? Im Affekt.«

Luc lehnte sich mit einem Stöhnen zurück. »Dann bleibt niemand mehr übrig, der die Tat begangen haben könnte. Nicht einmal die Verschwörung, die die Lieutenante vermutet, passt da noch rein.«

»Das tut sie doch sowieso nicht«, feixte Penelope. »Wegen der Alibis.«

»Aber der Täter existiert«, sagte Pierre. »Wir haben ihn nur noch nicht erkannt. Oder etwas übersehen.«

Das war sein Stichwort. Zeit, von seinen eigenen Ermittlungen zu berichten. In wenigen Worten fasste er zusammen, was er im Laufe des Tages in Erfahrung gebracht hatte. Er berichtete von seinem Besuch auf dem Trüffelhof von Frédéric Marechal, von den Männern im Aufenthaltsraum, offenbar Harragas, und von dem Schwager Aziz Bensaid, der mit ihnen in Streit geraten war. Außerdem von der Begegnung mit seinem Kollegen in Mazan, der ihm erzählt hatte, dass Gilbert Langlois ihn wegen der Schwester des Bürgermeisters kontaktiert hatte, und zu guter Letzt von der algerischen Vergangenheit der Familie Marechal.

»Gilbert Langlois hat sich ganz offensichtlich für Maurice Marechals Geschwister interessiert«, schloss er.

»Oder für seine Vergangenheit«, sagte Penelope und holte das Foto mit dem Gabelstapler von der Stellwand. »Wenn ich es richtig verstanden habe, dann hat eine Familie von Harkis auf dem Trüffelhof gewohnt und gearbeitet, die in einem Flüchtlingslager lebten, bevor sie nach Mazan kamen. Dieser Mann hier …« Sie tippte mit dem Finger auf das Foto. »Der gehört doch zur Familie Bensaid, oder etwa nicht?«

Pierre nickte. Irgendwie schien Maurice Marechal im Mittelpunkt zu stehen, ohne der Mörder zu sein. So, als habe Gilbert Langlois die ganze Zeit um ihn gekreist wie eine Spinne um ein Insekt.

»Offenbar hatte der ehemalige Polizist zwei Kategorien von Opfern«, sagte er. »Die einen haben ihm sein regelmäßiges Einkommen gesichert. Und die anderen …« Er sah zur Stellwand, an der jetzt weder er selbst hing noch jemand aus der Familie Marechal. »Die anderen haben womöglich seiner Rache gedient.«

Ein langes Schweigen trat ein, in dem jeder seinen Gedanken nachhing.

»Ich wusste gar nicht, dass die Familie unseres Bürgermeisters aus Pieds Noirs besteht«, sagte Penelope schließlich. Sie beugte sich vor, die Ellenbogen aufgestützt.

»Sein Bruder Frédéric meinte, es sei ihm unangenehm«, erklärte Pierre. »Es hat wohl etwas mit der kolonialen Vergangenheit zu tun.«

Luc zog die Brauen zusammen. »Das verstehe ich nicht. Er kann schließlich nichts für die Taten seiner Vorfahren. Außerdem waren ja auch nicht alle Pieds Noirs brutale Kolonialisten. Denkt nur mal an Yves Saint-Laurent, der in Oran geboren wurde, oder an Albert Camus aus Algier. Oder an die fabelhafte Nicole Garcia, die eine Rolle in einem der vielen Louis-de-Funès-Filme innehatte. Und sie spielt die Anne Pellegrini in dem Netflix-Kracher Lupin. «

»Woher weißt du das?«, fragte Penelope.

»Ich habe gerade eine Reportage über die Pieds Noirs gesehen. Die meisten waren einfache Leute. Arbeiter, Handwerker, Angestellte, Lehrer. Viele lebten mit der arabischen Bevölkerung in friedlicher Koexistenz und Freundschaft, bevor der Krieg begann.«

»Das mag sein.« Pierre wiegte den Kopf. »Aber das sehen längst nicht alle so. Manche nennen sie abfällig nostalgériens, weil sie noch immer an der verlorenen Heimat hängen, auch die jüngeren Generationen, obwohl die das Land ihrer Eltern nur vom Hörensagen kennen.«

»Außerdem wählen viele Algerienfranzosen ganz weit rechts«, ergänzte Penelope, noch immer nach vorne gebeugt. »Von ihnen hat der Rassemblement National die allermeisten Stimmen, in Perpignan stellt die Partei sogar den Bürgermeister. So etwas ist natürlich Gift für die Eitelkeit von Monsieur le maire Marechal. Da ist er in der Familie Pannetier mit ihren generösen Burgherren als Vorfahren weit besser aufgehoben.«

Pierre nickte. »Und trotzdem: Niemand würde ihm einen Strick draus drehen, wenn das ans Tageslicht käme. Für eine Racheaktion wäre das gänzlich ungeeignet.«

»Vielleicht«, spekulierte Luc, »hat ja Marechals Großvater eine unrühmliche Vergangenheit bei der geheimen Terrororganisation des französischen Militärs, der OAS . Das ist so, wie früher bei den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wollte auch niemand eine Nazigröße in der Familie gehabt haben. So eine Vergangenheit könnte sehr wohl Wellen schlagen.«

Penelope nickte. »Es gibt ein staatliches Archiv für Militärgeschichte. Dort lagern auch alte Personalakten. Soll ich mal nachsehen, ob ich etwas dazu finde?«

»Mach das«, sagte Pierre, obwohl er nicht sicher war, ob diese Information sie zum Täter führen würde. »Ich werde jetzt Commissaire Lechat anrufen. So können wir nicht weitermachen. Ich will zurück ins Ermittlerteam und da …«

Eine Bewegung, die sich in seinem Display spiegelte, ließ ihn innehalten. Er schwenkte das Telefon vorsichtig hin und her. Jetzt erkannte er den Umriss eines Mannes, der im Dunkel des seitlichen Fenstervorsprunges vor der Wache verharrte und zwischen dem Spalt in den Vorhängen hindurchlinste. Pierre konnte die tief ins Gesicht gezogene Schirmmütze erahnen, den bis zur Nase reichenden Schal.

Er atmete tief durch. Sein Bauchgefühl hatte ihm recht gegeben. Die Observierung hatte nicht Frédéric Marechals Trüffelhof gegolten. Sondern ihm.

»Ich bitte euch, verhaltet euch vollkommen normal«, flüsterte Pierre, der das Telefon sinken ließ. »Tut so, als wärt ihr noch voll und ganz in die Ermittlungen vertieft. Auf keinen Fall dreht ihr euch um oder guckt aus dem Fenster. Ich werde jetzt gleich in mein Büro gehen und über den Hinterhof auf die Straße laufen.«

Penelope nickte. Dann tippte sie auf eine Karteikarte, als liege all ihr Interesse auf dem Papier. »Wer ist da draußen?«, wisperte sie.

»Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde seit meinem Besuch auf dem Trüffelhof verfolgt. Und ich will endlich wissen, von wem.«

»Es ist ein Risiko, den Kerl alleine zu stellen«, wandte Luc ein. »Wir sollten Verstärkung rufen.«

»Das dauert zu lange. Aber ich habe da eine Idee.« Pierre nahm seine leere Tasse und blickte in die Runde. »Möchte noch jemand einen Kaffee?«, fragte er in normaler Stimmlage.

»Nein, danke«, rief Luc, lauter als notwendig, und beugte sich mit demonstrativ gerunzelter Stirn über Penelopes Karteikarte.

Pierre ging in Richtung der Kaffeeküche, die vom Fenster aus nicht einsehbar war, und an ihr vorbei in sein Büro, wo er nach einem Paar Handschellen griff. Dann entriegelte er das Gitter vor seinem Fenster und kletterte ins Freie.