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Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Träumen. Weil durch die Fensterläden noch kein Licht drang, brauchte Pierre einen Moment, bis er erkannte, wo er war. Schlaftrunken tastete er nach dem Handy auf dem Nachttisch. Wie spät mochte es wohl sein?

Neben ihm bewegte sich Charlotte. Doch bevor er den Anruf entgegennehmen konnte, erstarb das Klingeln und Pierres Kopf sank zurück in die Kissen, ohne dass er einen Blick auf das Display gerichtet hätte.

Während er ein wenig vor sich hindämmerte, erinnerte er sich daran, dass es gestern spät geworden war.

Nachdem Charlotte schlafen gegangen war, hatte er noch im Wohnzimmer gesessen und im Licht des flackernden Kaminfeuers einige Gläser Weißwein getrunken. Dabei grübelte er über den Fall, der sich stark verheddert hatte und aus unzähligen Informationen und möglichen Motiven zu bestehen schien, die kein schlüssiges Gesamtbild ergaben.

Er hoffte, dass sich dies ändern würde, sobald Robert Lechat mit den Kollegen in Carpentras und er selbst mit Caroline Payot gesprochen hatten. Und er nahm sich vor, gleich am Morgen bei ihr anzurufen.

Dann wanderten seine Gedanken wieder zu dem Tag im Mai, der einer der schönsten in seinem und Charlottes Leben werden sollte.

Sein Blick fiel auf ein Foto, das gerahmt auf dem Beistelltisch neben dem Sofa stand. Und das sie beide auf der Terrasse des Château des Vignes zeigte, wenige Tage bevor er ihr den Antrag gemacht hatte.

Er nahm es in die Hand und betrachtete es lange.

Das war sie also, seine Zukünftige: Charlotte Berg, ehemalige Chefköchin der Domaine des Grès, die zielstrebig aus den verstaubten Räumen einer ehemaligen Weinhandlung die Épicerie to go gemacht hatte, deren mit Blumenranken bedruckte Tüten inzwischen zum Dorfbild gehörten. Gefüllt mit ihren modernen Interpretationen klassischer Rezepte. Alles Manufakturarbeit, eine saisonal wechselnde Karte. Keine Geburtstagsfeier, kein Firmenjubiläum, für das sie nicht das Catering übernahm. Bodenständige Erziehung, eine strahlende, perfektionistische und gleichsam begeisterungsfähige Frau.

Sie war nicht nur überaus hübsch, sondern auch enorm erfolgreich, zweifellos.

Daneben er, Pierre Durand, ehemaliger Commissaire aus Paris. Aus wohlhabendem Hause, aufgewachsen mit einem Vater, der nach dem unerwarteten Tod der Mutter seine verloren geglaubte Jugend wiederentdeckt hatte. Weshalb er selbst ausgezogen war, kaum, dass er auf eigenen Beinen stehen konnte. Derzeit Dorfpolizist mit Bauchansatz, aber immerhin noch einigermaßen vollem Haar, der sein Erspartes in einen ehemaligen Bauernhof gesteckt hatte, dessen laufende Kosten ihm immer wieder schlaflose Nächte bereiteten.

Vor zwei Jahren hätte er erneut Commissaire werden können, doch er hatte Robert Lechat den Vortritt gelassen, weil er seinen Job in Sainte-Valérie und das beschauliche Dorfleben zu sehr liebte. Und nun saß er da: mit einem lächerlich geringen Gehalt und – seit Maurice Marechal Bürgermeister geworden war – einem Vorgesetzten, der immer mal wieder darüber nachsann, wie er seinen Chef de police municipale am elegantesten loswerden könnte.

Es war eine unsichere Zukunft, während Charlottes wie auf Samt gebettet war.

Als Pierre um zwei Uhr nachts die Treppe ins Obergeschoss hinaufstieg, wurde ihm klar, dass Charlotte mit ihrer Einschätzung recht hatte. Seine Weigerung, in der Domaine des Grès zu feiern, hatte überhaupt nichts mit der Feier an sich zu tun. Es war sein Stolz, der an ihm nagte und der sich tief in sein Herz gefressen hatte.

Charlotte verdiente gut. Weit besser als er, vielleicht sogar das Doppelte. Und das war wohl das allergrößte Problem an ihrem Plan.

Er war noch immer von alten Rollenvorstellungen geprägt, so unmodern sie auch sein mochten. Aber er konnte nicht aus seiner Haut. So sehr er sie auch liebte, er würde niemals zulassen, dass sie die Hochzeitsfeier aus eigener Tasche bezahlte.

Im Schlafzimmer brannte noch Licht, aber Charlotte atmete schon tief und ruhig. Neben ihr auf dem Nachttisch lag die vorläufige Liste der Hochzeitsgäste. Auf der Kommode stapelten sich die Einladungskarten, die noch auf das Inlet mit dem Veranstaltungsort warteten, und die Briefumschläge, die beschriftet werden wollten.

Pierre hatte ihr Gesicht betrachtet, den leicht geöffneten Mund. Dann hatte er das Licht gelöscht und sich zu ihr gelegt. Eng an ihren Körper gepresst, war er sofort eingeschlafen.

Wieder ging das Telefon. Pierre schrak auf und angelte es vom Nachttisch.

»Wer ist das?«, murmelte Charlotte. Im Licht des hellen Displays waren von ihrem Kopf nur die kastanienbraunen Locken zu sehen, die sich wie eine Kaskade über das Laken verteilten. Ihre Hand glitt unter die Bettdecke, bewegte sich tastend bis zu seinem Oberarm, wo sie matt liegenblieb. »Lass es doch einfach klingeln, es ist schließlich Samstag, ich muss erst um zehn im Laden sein.«

»Das geht nicht, es könnte wichtig sein«, murmelte Pierre und spähte auf den Bildschirm. Es war Robert Lechat. Sofort war er hellwach. »Ja?«

»Guten Morgen, Pierre. Na, schon munter?«

»Geht so. Wie spät ist es?«

»Halb acht.«

Pierre verdrehte die Augen. Robert Lechat war bekennender Frühaufsteher, selbst am Wochenende. Wahrscheinlich war er vor dem Anruf sogar noch joggen gewesen. »Was gibt’s denn?«

»Ich habe Lieutenante Fenech nach den Bildern auf Langlois’ Mobiltelefon gefragt. Sie sagt, Yanis Vallon habe sich auf dem Telefon gar nichts angesehen. Es hätte ihn nicht interessiert.«

»Können wir ihm das glauben?«

»Uns bleibt nichts anderes übrig. Ich habe mit Fenech auch über die Beschattung gesprochen. Sie hat zugegeben, damit über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Der Verdacht aber sei begründet gewesen. Sie habe dich gebeten, Sainte-Valérie nicht zu verlassen, was du vehement abgelehnt hättest. Sie wollte kein Risiko eingehen, was ich gut nachvollziehen kann. Allerdings hätte sie das mit mir absprechen müssen. Sie kommt heute um neun Uhr in die Wache, um sich mit dir darüber auszutauschen und alle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Ich bin leider noch in dem anderen Fall gebunden, also bitte ich dich, ihr alles zu erzählen, was du herausgefunden hast. Ganz im Sinne einer guten Zusammenarbeit, denn«, er machte eine bedeutungsvolle Pause, »ich konnte die Ermittlungsrichterin davon überzeugen, dass deine Mitarbeit für den Fall unerlässlich ist.«

»Wirklich?« Pierre hatte es so laut gerufen, dass nun Charlottes verwundertes Gesicht unter dem Lockenberg erschien. »Du hast die Ermittlungsrichterin doch nicht etwa aus dem Bett geklingelt?«

»Nein. Sie war gestern ebenfalls auf der Veranstaltung. Wir haben das sozusagen auf dem kleinen Dienstweg geklärt.«

»Großartig, ich danke dir.«

»Keine Ursache.«

Jetzt konnte Pierre nicht schnell genug aufstehen. Er beendete das Telefonat und öffnete das Fenster. Dann stieß er die Läden weit auf. Dunstiges Morgenlicht trieb durch den Raum. Er atmete die kühle Luft tief ein und drehte sich zu Charlotte.

»Ich bin wieder offiziell Teil des Ermittlungsteams«, sagte er. Dann gab er ihr einen Kuss und eilte hinaus.

Zwanzig Minuten später betrat er frisch geduscht die Küche und machte sich einen Kaffee. Um halb neun rief er bei Caroline Payot an. Eine ausgeschlafene Frau meldete sich, und er stellte sich vor.

»Ich soll Sie sehr herzlich von Romain Martinez grüßen«, sagte er, in der Hoffnung, dies wäre ein guter Gesprächsanfang. »Wir ermitteln im Mordfall Gilbert Langlois, und der Kollege meinte, Sie könnten uns dabei helfen.«

Es war tatsächlich ein guter Gesprächsanfang.

»Romain Martinez«, sagte sie versonnen. »Das ist ja eine Überraschung. Was kann ich für Sie tun?«

»Das würde ich gerne persönlich mit Ihnen besprechen.«

Caroline Payot erklärte ihm, dass sie in der Tourismusinformation von Carnoux-en-Provence arbeite und um halb eins Mittagspause habe. Sie schlug vor, sich im Restaurant der Hostellerie La Crémaillère zu treffen. Das liege im Zentrum, direkt neben der mairie, dort esse sie samstags immer zu Mittag, ob es ihm recht sei.

Das war es.

Beschwingt trat Pierre auf den Hof. Dort fiel ihm ein, dass er ja gar kein Auto hatte und sein Fahrrad noch immer angeschlossen auf der Place du Village stand. Ihm blieb also nichts anderes übrig als der Gang durch die Felder, die grau und neblig vor ihm lagen. Er schlenderte gemächlich, genoss den unverhofften Spaziergang, der ihn erneut durch das Wäldchen führte. Pierre lachte über seine gestrige Angst. Aber als sein Telefon unverhofft die Stille zerriss, gerade, als er am dunkelsten Stück angelangt war, zuckte er doch zusammen.

»Guten Morgen, Pierre. Hier ist Penelope.«

»Bist du etwa auch so eine Frühaufsteherin wie unser Commissaire

»Ja. Der frühe Vogel … Na, du weißt schon. Ich bin seit sieben am Computer.«

»Arbeitest du in der Wache?«

»Nein, von zu Hause aus. Ich sitze hier in Jogginghose, wenn du es genau wissen willst. So habe ich zumindest halbwegs ein Gefühl von Wochenende.« Sie lachte. »Und du? Dem Geräusch deiner Schritte zufolge bist du auch schon unterwegs.«

»Ich bin auf dem Weg ins Dorf. Ein Treffen mit Lieutenante Fenech, ich gehöre wieder zum Team.«

»Gratuliere. Dann kriecht sie jetzt also zu Kreuze?«

»Das will ich mal hoffen. Also, was ist der Grund für deinen Anruf? Hast du schon eine Antwort vom Militärarchiv?«

»Noch nicht, dafür ist es viel zu früh am Tag. Aber ich habe mir die Geschichte von dieser geheimen Militärorganisation mal genauer angesehen, der OAS . Also, wenn mein Großvater dort Mitglied gewesen wäre, ich wäre zutiefst entsetzt.«

Pierre nickte. Er wusste, was Penelope meinte. Die 1961 von fanatischen Militäranhängern gegründete Vereinigung hatte alles getan, um die sich anbahnende Unabhängigkeit Algeriens durch eine Eskalation der Lage zu verhindern. Dabei waren sie ziemlich brutal vorgegangen. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, dass Präsident de Gaulle in Evian ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnete, das einen Tag später, am 19. März 1962, verkündet wurde. Jenem Tag, an den die Veteranen fortan jedes Jahr erinnerten. Die Generäle der OAS jedoch weigerten sich, die Verträge anzuerkennen.

»So viel Gewalt«, echauffierte sich Penelope nun. »All die blutigen Kämpfe mit den französischen Streitkräften und der algerischen Befreiungsarmee. Sogar vor unbeteiligten algerischen Zivilisten haben sie nicht haltgemacht. Muslimische Richter, Beamte, Lehrer und Polizisten … Die haben einfach alle massakriert, nur um die Kolonialmacht von Frankreich für die Verwaltung unentbehrlich zu machen.«

Aus ihrer Stimme klang höchste Empörung.

»Weißt du, was mich immer gewundert hat?«, fragte Pierre, als er das Wäldchen durchschritten hatte und auf die Straße trat, die zum Dorf hinaufführte. »Dass die französische Armee sie nicht aufhalten konnte. Die waren den Algeriern doch zahlenmäßig überlegen.«

»Ja, das waren sie«, stimmte Penelope nachdenklich zu. »Und die Soldaten haben es wohl auch versucht, aber das ist ziemlich nach hinten losgegangen. Sagt dir die Schießerei in der Rue d’Isly in Oran etwas?«

»Vage.«

Penelope holte tief Luft. »Die französische Armee hat damals ein europäisches Viertel umstellt, weil sie in den Häusern Mitglieder der OAS vermutete. Die wiederum stachelten die dort lebenden Franzosen gegen die Maßnahme auf. Als die Leute daraufhin demonstrierten und versuchten, die Absperrung zu durchbrechen, hat das Militär einfach auf die Demonstranten geschossen.«

»Ein furchtbares Drama, ja«, erinnerte sich Pierre nun wieder. Präsident Macron hatte sich erst vor Kurzem für das Massaker nachträglich in aller Öffentlichkeit entschuldigt. Es sei unverzeihlich gewesen für die Republik.

»Ich glaube«, flüsterte Penelope und es klang fast so, als säße neben ihr jemand, der alleine vom Zuhören zu Staub zerfiel, »die Soldaten haben Panik bekommen, als die wütenden Menschen plötzlich auf sie zukamen. Die meisten waren ja unfreiwillig eingezogen worden und wollten nur noch heil davonkommen. Die OAS hingegen besaß etliche geheime Waffenlager mit Panzerfäusten, Maschinengewehren und Granaten, die sie unerbittlich einsetzen. Nicht nur gegen die algerischen Einwohner. Auch gegen die Sozialisten und Kommunisten, selbst auf dem französischen Festland.«

Pierre fiel ein, dass sein Vater ihm oft davon erzählt hatte. Von den explodierten Bomben in den Verlagsgebäuden der Le Monde, dem linksorientierten France Observateur und dem kommunistischen Le Patriote. Von den in Flammen aufgehenden Wohnungen der Politiker, die sich für einen Verhandlungsfrieden einsetzten, und von der Autobombe vor jenem Saal, in dem ein Kongress der Friedensbewegung stattfinden sollte. Die OA S -Kämpfer hatten nicht verstanden, dass die Menschen in Frankreich längst kriegsmüde waren. Und dass die Bevölkerung nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges pazifistisch dachte.

Sie erreichten mit ihrem Terror das genaue Gegenteil. Selbst verfeindete Parteien schlossen sich zusammen, um die Unabhängigkeit Algeriens endgültig voranzutreiben. Die überwältigende Mehrheit der Franzosen stimmte in einem Referendum dafür. Am fünften Juli 1962 war es dann so weit: Die Unabhängigkeit Algeriens war beschlossen.

Pierre hatte inzwischen das Stadttor erreicht. Es war kurz vor neun.

»Ich muss jetzt aufhören«, sagte er in den Hörer. »Melde dich, sobald du eine Antwort vom Archiv hast.«

»Wird gemacht.«

Er steckte das Mobiltelefon in die Jackentasche und schlug den Weg zur Wache ein. Sainte-Valérie lag still im Morgendunst. Eine erwachende Schönheit, die sich dem Tag entgegenreckte.

Wie friedlich es hier ist, dachte Pierre, als er in die Rue des Oiseaux bog. Noch immer angefasst angesichts der Bilder, die bei dem Gespräch mit Penelope in ihm aufgestiegen waren.

Frieden, so erkannte er, war ein Zustand, den zu viele als selbstverständlich annahmen. Dabei war er ein Geschenk, für das ein jeder seinen Teil beizutragen hatte.