27

Endlich saß er wieder am Steuer seines Dienstwagens. Pierre rieb über das Lenkrad, als hätte er es seit Jahren nicht mehr berührt. Dabei war es nicht einmal zwei Tage her. Aber wusste man selbstverständlich geglaubte Dinge nicht erst dann zu schätzen, wenn man sie verlor?

Während Pierre über die autoroute brauste, nahm er sich vor, einen Antrag zu stellen, dass er nun wieder, da Luc mit dem Motorrad über ein eigenes Fahrzeug verfügte, mit dem Wagen bis nach Hause fahren durfte. Letztlich stünde er dadurch für eventuelle Notfälle auch schneller zur Verfügung, denn diese geschahen bekanntlich nicht nur während der Dienstzeit.

Den Antrag musste er schriftlich an Maurice Marechal richten, Pierre hasste es jetzt schon.

Seine Gedanken wanderten zu dem vor ihm liegenden Gespräch. Er fragte sich, ob Gilbert Langlois sich Marechals Schwester zu erkennen gegeben hatte. Oder ob er sie ebenso aus der Ferne observiert hatte wie ihren Bruder Frédéric.

Er hoffte, Caroline Payot konnte ihm einen besseren Einblick in die Familiendynamik der Marechals geben. Ihm sagen, wie gut sich Frédéric trotz der brüderlichen Differenzen mit seiner Schwägerin Elodie verstand.

Vielleicht, so dachte Pierre, während er bei Coudoux auf die A 8 fuhr, die alle nur La Provençale nannten, konnte sie ihm auch etwas zu dem Brand auf der Trüffelfarm sagen. Dieser Punkt, fiel ihm mit einem Mal auf, war im Laufe der Ermittlungen auf der Strecke geblieben. Und er beschloss, ihn wieder aufzugreifen.

Hinter Aix-en-Provence nahm Pierre die A 52 in Richtung Küste. Eine gut ausgebaute vierspurige Autobahn, kilometerlang von Kiefern flankiert. Es waren kaum Autos unterwegs, trotz des Wochenendes. Die fernen Berge ragten vor dem tiefen Blau des provenzalischen Himmels auf, und je näher Pierre dem Meer kam, desto grüner waren die Sträucher und Aprikosenbäume, die ihre Blüten längst abgeschüttelt hatten.

Neun Kilometer vor Carnoux-en-Provence klingelte sein Mobiltelefon, es war Luc.

»Rate mal, mit wem ich gerade unterwegs bin«, tönte die Stimme seines Assistenten über die Freisprechanlage. Es rauschte kräftig, offenbar fuhr er mit dem Motorrad.

»Mit Lieutenante Fenech, nehme ich an.«

»Stimmt. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, aber sie hat mich doch tatsächlich ganz höflich gebeten, sie zu Yanis Vallon zu begleiten. Wir kommen gerade von ihm.«

»Habt ihr etwas erreicht?«

»Ja und nein. Du hattest recht. Vallon hat sich die Bilder angesehen, aber leider nicht lange genug. Es gab nichts, was seine Aufmerksamkeit fesseln konnte.«

»Hat er sich denn an gar nichts erinnert?«

»Nur vage. Da waren vor allem Personen abgebildet, außerdem Landschaften, Bilder aus Sainte-Valérie. Nichts Einprägsames. Dazu gab es eine große Anzahl von Fotos, auf denen Dokumente zu sehen waren, Briefe oder so.«

Pierre richtete sich kerzengerade auf. Er hatte das Gefühl, dass dieses Detail wichtig war. »Konnte er die Dokumente denn genauer beschreiben?«

»Nein, er hat sie nur oberflächlich durchgescrollt und die Fotoapp bald wieder geschlossen.«

»Und die Personen? Hat er jemanden erkannt?«

»Leider nicht. Das war’s. Viel konnte Vallon nicht beitragen.«

»Zut! «, entfuhr es Pierre. Es war enttäuschend. »Wo bist du jetzt?«

»Auf dem Weg zu den Pannetiers. Die Lieutenante fährt mit dem Wagen voran. Und du? Was hast du so getrieben?«

Pierre berichtete seinem Assistenten kurz von den Gesprächen mit Didier Carbonne und Elodie Marechal, dann legte er auf.

Nur eine Minute später wählte er erneut Lucs Nummer. Ihm war noch etwas eingefallen.

»Die Sache mit den Dokumenten … Hatte Langlois nicht mehrere Behördennummern auf seiner Telefonliste? Was waren das für Ämter?«

»Keine Ahnung. Darum hat sich ein Kollege aus Cavaillon gekümmert.«

»Fragst du bitte mal nach?«

»Kann das nicht Penelope übernehmen? Wir sind gerade in Goult eingetroffen.«

»In Ordnung.«

Pierre legte auf und wählte Penelopes Mobilnummer. Sie ging sofort ran.

»Gut, dass du anrufst«, sagte sie. »Ich habe gerade die Listen vom Archiv bekommen. Weder unter den Militärangehörigen, die für die OAS gearbeitet haben, noch bei den zivilen Helfern taucht der Name Marechal auf. Der Großvater hat also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu den aktiven Unterstützern der militärischen Terroreinheit gehört.« Sie zögerte. »Zumindest nicht zu den erfassten«, setzte sie nach.

»Was meinst du damit?«

»Auch ein Teil der Algerienfranzosen hat die Bestrebungen der OAS unterstützt. Die Leute wollten, dass das Land ein Teil von Frankreich bleibt. Und sie hatten höllische Angst vor der Guerilla der algerischen Befreiungsfront, die die europäisch frequentierten Viertel ständig mit Bombenanschlägen überzog. Viele Siedler haben die OAS mit Waffen versorgt und all ihre Hoffnungen in sie gesetzt. Das Ganze ist wohl ziemlich eskaliert.« Sie seufzte. »Auf jeden Fall läuft diese Spur ins Leere.«

»Ja«, sagte Pierre, »das denke ich auch.« Er hatte das Gefühl, dass sie sich bei diesem Thema allmählich im Kreis drehten.

Er erklärte Penelope den Grund seines Anrufes und bat sie, sich mit dem Kollegen bei der police nationale in Verbindung zu setzen, der die Behörden kontaktieren wollte, mit denen Gilbert Langlois vor seinem Tod telefoniert hatte.

»Hatte er sich da nicht nur um einen Job beworben?«

»Das war unsere Vermutung«, entgegnete Pierre, »aber sicher wissen wir es nicht. Ich möchte erfahren, in welchen Abteilungen er angerufen hat und wer die Ansprechpartner waren.«

»Siehst du da einen Zusammenhang?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Aber das mit den abfotografierten Dokumenten und Briefen ist sicher kein Zufall. Wir sollten der Sache nachgehen.«

Carnoux-en-Provence lag in einem lang gestreckten Tal, umgeben von bewaldeten Hügeln, eingefasst von dem Massif de Saint-Cyr und dem Massif de la Sainte-Baume.

Am Ortseingang wies ein Schild auf die Messen in der Notre Dame d’Afrique hin. Es folgte eine kilometerlange Fahrt an gleichförmig weißen und beigefarbenen Bungalows vorbei. Gerade als Pierre sich fragte, ob er sich verfahren hatte, tauchte unvermittelt hinter einem Kreisel der Ortskern auf, der wie aus einem anderen Land schien.

Hier, nur wenige Kilometer vor Cassis, entsprach nichts dem gängigen Bild einer südfranzösischen Stadt. Keine leuchtenden Farben, keine bunten Fensterläden, keine Balkone mit schmiedeeisernen Geländern. Auch keine Tondächer oder Natursteinmauern. Alles hier war rostrot, beige oder strahlend weiß verputzt, selbst die kubisch gebaute Kirche mit ihrem auffälligen Glockenturm, der seitlich davon kerzengerade in den Himmel ragte.

Die Häuser waren nun höher, fünf- oder sechsstöckig. Pierre fühlte sich an die geometrischen Siebzigerjahre-Bauten erinnert. Alles war sauber und gepflegt, beinahe futuristisch steril. Neugierig betrachtete er das leuchtend weiße Rathaus, ein moderner, kantiger Bau mit Rundbogenfenstern im oberen Teil, als er merkte, dass er ein Stück zu weit gefahren war. Die Straße war nun gesäumt von hohen Häuserkomplexen, die in endlos wirkenden Reihen Spalier standen. Er wendete über einen Parkplatz, der hinter einer Ladenzeile vorbeiführte. Und an Wohnblöcken mit kleinen Fenstern, die schlicht, geradezu beengt wirkten. Ob die Marechals in einem solchen gewohnt hatten?

Als er wieder zum Kreisel kam, entdeckte Pierre endlich die Hostellerie La Crémaillère. Eine alte Bastide mit großen Sprossenfenstern und braunen Fensterläden, davor hohe Platanen. Sie war ein Stück nach hinten versetzt und nahm sich aus wie ein Zuschauer, ein Zaungast aus dem vergangenen Jahrhundert, der den Wandel der Zeit erstaunt beobachtete.

Pierre stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und betrat das Restaurant über die Terrasse, auf der man im Sommer sicher herrlich speisen konnte.

Auch der Gastraum wirkte wie aus der Zeit gefallen. Er war zwar renoviert worden, doch mit einer Anmutung vergangener Tage. Die Holzstühle waren elegant geschwungen und hatten gemusterte Bezüge in Creme und Bordeaux. Über dem Klavier hing ein goldumrahmter Spiegel. An den Wänden Landschaftsgemälde in barocken Rahmen. Ein Druck von Gustav Klimts Dame mit Hut und Federboa. Es sah gemütlich aus, durch das einfallende Sonnenlicht angenehm hell. Mit den weiß gestärkten Tischdecken und gefalteten Stoffservietten sogar ein wenig mondän.

Das Restaurant war gut besetzt, zumeist mit älteren Herrschaften. Pierre sah sich um und entdeckte an einem Tisch am Fenster eine Frau, die in einer Zeitung las.

»Madame Payot?«

Sie blickte auf. »Ja«, sagte sie knapp und faltete die Zeitung zusammen. »Sie müssen Monsieur Durand sein. Setzen Sie sich doch.«

Caroline Payot war eine eher unscheinbare Frau mit gestuftem kurzem Haar und einem Doppelkinn. Sie sah älter aus als ihre beiden Brüder, obwohl sie höchstens Anfang vierzig sein konnte. Wozu wohl auch der mausgraue Pullover beitrug und der dunkel gemusterte Seidenschal.

Pierre hängte seine Jacke über die Stuhllehne und nahm Platz. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte er.

»Na, einem Kollegen von Romain Martinez kann ich die Bitte doch nicht abschlagen.«

Sie hatte das sehr freundlich gesagt, trotzdem zeigten ihre aufrechte Körperhaltung und die unruhigen Augen, dass sie sich nicht richtig wohl dabei fühlte, von einem Policier befragt zu werden.

»Woher kennen Sie und Martinez sich eigentlich?«, fragte Pierre.

»Hat er Ihnen das denn nicht verraten? Er hat sich damals rührend um uns Kinder gekümmert, nach dem Brand. Das werde ich ihm nie vergessen.« Caroline Payot lächelte verbindlich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Pierre legte sein Notizbuch auf den Tisch. »Es geht um den Mordfall Gilbert Langlois. Ich habe dazu ein paar Fragen.«

»Eine furchtbare Sache.«

»Sie haben davon gehört?«

»Frédéric hat es mir erzählt«, sagte sie. »Wir telefonieren regelmäßig.«

»Haben Sie eine Idee, was da passiert sein könnte?«

»Mit Gilbert Langlois?« Caroline Payot schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn ja kaum gekannt. Er hat manchmal Trüffel gekauft. Aber ansonsten …«

»Haben Sie in letzter Zeit mit ihm gesprochen?«

Jetzt nickte sie. »Er war hier.«

Pierre spürte, wie sein Puls schneller ging. Der ehemalige Polizist hatte sich Maurice Marechals Schwester zu erkennen gegeben. Was ungewöhnlich war, wenn man den Verlauf des Falles betrachtete. Bislang hatte Langlois stets im Schutz der Anonymität gearbeitet.

»Wann war das?«, fragte er.

Sie legte den Kopf schräg und hielt einen Finger ans Kinn. »Ich … Ich glaube vor etwa drei Wochen. Er stand plötzlich im Büro der Touristeninformation. Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt.«

»Was wollte er von Ihnen?«

»Keine Ahnung.« Eine leichte Röte überzog ihre Wangen.

»Aber er wird es Ihnen doch gesagt haben.«

Caroline Payot hob die Schultern. »Er meinte, er sei zufällig in der Gegend. Er hat sich mit mir über früher unterhalten.«

»Was meinen Sie mit früher

»Na, über die Zeit nach dem Brand. Er wollte wissen, wie es uns hier ergangen ist.«

Also doch, dachte Pierre. Der Mord hatte etwas mit der Familiengeschichte der Marechals zu tun. Es war kein Stochern im Nebel mehr, sondern eine ganz konkrete Spur.

»Und was haben Sie ihm erzählt?«

Madame Payots Gesicht verschloss sich. »Dass es nicht einfach war. Drei Waisenkinder bei den Großeltern, die kaum in der Lage waren, ihren Alltag zu meistern. Aber nun ist es ja geschafft, nicht wahr? Jeder von uns hat seinen Weg gemacht.«

»Hat Langlois Sie auch nach Ihrem Bruder Maurice gefragt?«

»Nein.« Caroline Payots Wangen glühten inzwischen. Sie presste die Lippen fest aufeinander.

Er glaubte ihr kein Wort. »Sind Sie sicher?«

»Absolut.« Es klang entschieden.

»Und nach Frédéric?«

Eine junge Kellnerin kam und legte zwei Speisekarten vor ihnen ab.

»Dasselbe wie immer«, sagte Caroline Payot, sichtlich froh um die Unterbrechung.

»Den salade de rouget au citron confit und ein Glas Côtes de Provence, Château Lauzade. Sehr wohl, Madame.«

Pierre warf einen raschen Blick in die Karte. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, hier zu Mittag zu essen, schließlich sollte es eine Befragung werden und kein geselliges Miteinander. Andererseits konnte es durchaus zu einer besseren Gesprächsatmosphäre beitragen. Zudem klangen die angebotenen Speisen äußerst verlockend.

»Ich nehme das tartare de boeuf et des frites maisons. Und«, er zögerte kurz, »ebenfalls ein Glas Wein.«

»Eine gute Wahl, Monsieur.« Damit verschwand die Kellnerin wieder.

Caroline Payot nestelte jetzt an ihrer Serviette herum und richtete den Blick auf die älteren Damen am Nachbartisch, die die Kellnerin gerade um die Rechnung baten. Pierre beschloss, mit einem unverfänglicheren Thema fortzufahren, um die Stimmung zu lockern. Er würde später noch einmal auf seine Frage zurückkommen.

»Wirklich eine sehr schöne Bastide«, sagte er mit einer Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste. »Die Hostellerie scheint sehr beliebt zu sein.«

»Sie ist für viele Einheimische ein fester Bestandteil des täglichen Lebens. Hier wird gegessen, gefeiert und getagt. Es gibt sogar einen Jazzkeller, in dem regelmäßig Bands auftreten.«

»Sie wirkt ein wenig wie ein Fremdkörper im Ort.«

Caroline Payot lächelte nachsichtig. »Die Bastide stammt ja auch aus dem siebzehnten Jahrhundert. Die anderen Gebäude sind erst Ende der Fünfzigerjahre hinzugekommen. Offiziell gegründet wurde Carnoux-en-Provence erst neunzehnhundertsechsundsechzig.«

»Das ist wirklich interessant«, sagte Pierre, und er meinte es aufrichtig. »Es erklärt den Neubaucharakter, aber nicht die vielen gleichförmigen Bungalows auf dem Weg von der Autobahn zum Ortskern. Sie haben einen ganz eigenen Stil. Es wirkt …« Er überlegte, wie er seinen Eindruck am besten beschreiben könnte. »Es wirkt einheitlicher als sonst. Geordneter. Planvoller.«

»Das liegt daran, dass Carnoux die einzige Stadt in ganz Frankreich ist, die aus einer Privatinitiative heraus gegründet wurde. Ihre Wurzeln liegen auf der anderen Seite des Mittelmeeres, und die Gebäude sind Spiegel der dortigen Bauweisen. Von den Bungalows über die Kirche bis hin zum Rathaus.« Caroline Payot lächelte und entspannte sich sichtlich. Zum ersten Mal seit Beginn ihres Treffens. »Wollen Sie die Geschichte von Carnoux hören?«

Sie hatte die Kurzform der Stadt sehr zärtlich ausgesprochen. Es klang, als rede sie von einem lebendigen Wesen.

»Sehr gerne.«

»Die Geschichte beginnt im Jahr neunzehnhundertsiebenundfünfzig. Damals war ein Bauunternehmer aus Casablanca an der südfranzösischen Küste auf der Suche nach einem geeigneten großen Grundstück. Er wollte nach der Unabhängigkeit Marokkos für sich und einige andere Rückkehrer eine neue Heimat finden, eigenes Land. Deshalb hat er unter Gründung einer Genossenschaft aus weiteren Unternehmern in Casablanca die zum Verkauf stehende Bastide erworben.«

Pierre lehnte sich im Stuhl zurück und lauschte ihrer Stimme. Er konnte sich gut in die Zeit zurückversetzen, als die Bastide noch das einzige Gebäude war an diesem Ort. Vor seinem inneren Auge erblickte er die unverfälschte Landschaft, von der sie erzählte, das stille Tal auf dem Weg zum Meer. Er konnte die Obstbäume sehen und die siebzehn über hundertjährigen Zedern aus dem Libanon. Die Weinberge, Kalksteinfelsen, Pinienwälder und die garrigue mit ihrem gelb blühenden Stechginster.

»Das Haus war eine ehemalige Poststation, die man zu einem Hotel umfunktioniert hatte«, berichtete Caroline Payot jetzt. »Der bekannte Lyoner Architekt Tony Garnier hat seine letzten Jahre hier verbracht, bis er neunzehnhundertachtundvierzig starb.«

Die Kellnerin trat an den Tisch, in den Händen ein Tablett mit den Getränken. Caroline Payot hielt inne und wartete, bis die Frau den Wein eingeschenkt und eine Karaffe Wasser mit Gläsern abgestellt hatte, dann fuhr sie fort.

»Zu der Bastide gehörte ein Grundstück von zweihundertsiebzig Hektar. Später gab es weitere Landkäufe. Inzwischen umfasst das Stadtgebiet rund dreihundertfünfzig Hektar.«

Auf diesem Themengebiet fühlte Caroline Payot sich sicher, das war spürbar. Ihre Wangenröte glich nun, so befand Pierre, einem Leuchten.

Er hob sein Glas, und sie prosteten sich zu. Der Wein war blumig und fruchtig, schmeckte nach reifem Pfirsich und Tee.

»Carnoux war also vor der Stadtgründung als Zufluchtsort für marokkanische Rückkehrer geplant«, fasste Pierre zusammen, als er das Glas wieder abstellte.

»Richtig. Damals gehörte es noch zu Roquefort-la-Bédoule. Aber schon bald wurde der Ort zum Auffangbecken für heimatlos gewordene Rückkehrer aus ganz Nordafrika. Vor allem aus Algerien, dessen Kampf um seine Unabhängigkeit wesentlich gewaltvoller vonstattenging als in den anderen ehemaligen Kolonien. Als von dort eine Massenflucht einsetzte, strömten viele hierher. Man musste nun größer denken, mehr Menschen unterbringen, höhere Häuser bauen, sich um die Kanalisation und Stromleitungen kümmern. Es war bald sehr eng in Carnoux. Der Zufluchtsort wurde zur Stadt.«

»Ihre Eltern stammen ebenfalls aus Algerien, nicht wahr?«

Sie nickte. »Mein Vater kam mit seinen Eltern aus Tiaret, und meine Mutter war die Tochter eines Verwaltungsbeamten aus Oran. Sie waren beide noch halbe Kinder, als sie sich hier in Carnoux kennenlernten. Ihr gemeinsames Schicksal hat sie zusammengeführt.«

»Und wie sind Ihre Eltern dazu gekommen, Trüffel zu kultivieren?«, fragte Pierre.

»Mein Vater hat sich schon früh dafür interessiert. Vor der Hochzeit hat er nach einem geeigneten Hof Ausschau gehalten und ihn in Mazan gefunden, wo Frédéric, Maurice und ich dann auch zur Welt kamen.«

»Hat Gilbert Langlois davon gewusst? Ich meine, dass Ihre Familie Algerienrückkehrer waren.«

»Ich denke schon, es war ja kein Geheimnis.«

»Aber Ihr Bruder Maurice hat ein Geheimnis daraus gemacht.«

Sie seufzte. »Die Bezeichnung Pieds Noirs ist für ihn nicht ganz unbelastet. Manche sehen in allen Rückkehrern nur Kolonialisten, Unterdrücker und Folterer. Für sie gibt es da keine Unterschiede. Maurice hat sich alldem entzogen. Er wollte selbst bestimmen, wie andere ihn sahen.«

»Die Linken«, klirrte eine scharfe Stimme hinter Pierre, »zeigen bis heute mit dem Finger auf uns. Für sie sind wir alle Verbrecher.«

Er wandte sich um. Eine der älteren Damen vom Nachbartisch stand jetzt neben ihrem Tisch. Sie schlüpfte in einen Mantel, den die Kellnerin ihr hinhielt. Die Dame sah elegant aus, trug das lange graue Haar von einer Spange gehalten bis zur Rückenmitte. An ihren Ohren hingen große goldene Stecker, deren Gewicht die Haut hinabzog.

»Madame Moline«, sagte Caroline Payot mit sanfter Stimme, »ich bitte Sie, nicht jetzt.«

»Was denn? Ich sage doch nur, wie es ist.« Sie kramte eine Münze aus der Manteltasche hervor und gab sie der Kellnerin, die hastig verschwand. »Die Linken stacheln den Hass auf die Rückkehrer an, das war schon immer so. Sie begreifen nicht, warum man endlich öffentlich über unser Leid spricht. Sie sagen, man nehme falsche Rücksicht auf uns, es verharmlose die hohe Zahl der algerischen Opfer. Als ob wir etwas dafür könnten!« Ihre Unterlippe zitterte. »Ich bin in einem friedlichen Algerien aufgewachsen, Monsieur. Wir haben Tür an Tür mit Muslimen gewohnt. Unsere Kinder sind gemeinsam zur Schule gegangen. Es war ein schönes Leben, es hätte so bleiben können, wenn die Algerier es sich nicht in den Kopf gesetzt hätten, diesen Zustand gewaltsam zu ändern. Man hat uns entwurzelt und aufs Festland gespült, wo uns niemand haben wollte. Wir waren der Abschaum, die unechten Franzosen. Das denken die Linken noch heute.«

»Die Zeiten haben sich geändert«, sagte Pierre und schielte sehnsüchtig nach seinem Glas Wein. Er wollte die Unterhaltung mit Caroline Payot gerne fortsetzen, gerade jetzt, da sie sich so entspannt gezeigt hatte, doch die alte Dame war nicht zu bremsen. Nun hob sie den Finger und fuchtelte durch die Luft.

»Finden Sie? Damals hat sich Präsident de Gaulle der Gewalt der algerischen Terroristen gebeugt«, rief sie. »Die Politiker haben sogar versucht, Attentate der algerischen Guerilla auf dem französischen Festland zu verheimlichen, weil sie den angeblichen Friedensprozess nicht gefährden wollten. Heute beugen sie sich wieder algerischen Terroristen und dienen sich ihnen an. Selbst hier, im französischen Mutterland. Das wird kein gutes Ende nehmen. Wir wissen das aus leidvoller Erfahrung, aber uns will ja niemand zuhören.«

Pierre schwieg, obwohl ihm darauf einige Widerworte einfielen. Aber er hatte nicht vor, dieses Minenfeld zu betreten.

»Präsident Macron«, entgegnete Caroline Payot noch immer sanft, »geht längst auf die Rückkehrer zu und erkennt das Leid öffentlich an. Es gibt viele versöhnliche Schritte in diese Richtung.«

Die Dame machte einen zischenden Ton. In ihrem Gesicht stand Ablehnung. »Unser Präsident mäandert doch bloß herum. Er will niemanden verletzen. Bedauert er zu sehr, dass Frankreich seine algerischen Hilfssoldaten nicht vor der grausamen Rache der Befreiungsbewegung geschützt hat, dann empört sich die algerische Regierung. Die im Übrigen die direkte Nachfolgerin der terroristischen Befreiungsarmee ist. Wendet er sich dagegen dem Trauma der Rückkehrer zu, heißt es, er fische am rechten Rand. Tut er es nicht, verliert er Wähler. Er kann es niemandem recht machen, weil er nicht klar Position bezieht.«

»Im Gegensatz zum Rassemblement National ?« Pierre atmete tief durch. Jetzt stand er doch mitten auf dem Minenfeld.

»Marine le Pen«, sagte die Dame, »ist die Einzige, die uns versteht.«

»Marine le Pen verbreitet Islamhass.«

»Sie legt nur den Finger auf die vorhandenen Probleme, die andere gerne verschweigen. Wer verübt denn die ganzen Terroranschläge, hm? Wer verschandelt und entweiht denn unsere christlichen Kirchen? Die Kinder der algerischen Einwanderer oder die Pieds Noirs

Pierre seufzte. »Die algerischen Einwanderer haben nie wirklich eine Chance erhalten, Madame. Die meisten Franzosen haben sie ebenfalls als Menschen zweiter Klasse behandelt.«

»Das haben sie sich selbst zuzuschreiben«, entgegnete die Dame energisch. »Die Einwandererkinder spucken auf die französische Kultur, ebenso auf die Harkis, die unserem Land treu gedient haben. Auf ihre eigenen Landsleute! Warum sind die denn nach Frankreich gekommen, wenn ihnen die Unabhängigkeit Algeriens so wichtig war? Wären sie doch bloß dortgeblieben!« Sie hob gestikulierend die Hände. »Wir sind nicht rassistisch, wir stehen in gutem Kontakt zu unseren ausländischen Freunden. Aber diese beurs wollen sich doch gar nicht integrieren, ganz im Gegenteil. Sie wollen, dass Frankreich sich ihnen unterwirft.«

Pierre seufzte, überrascht von der plötzlichen Heftigkeit des Wortwechsels. Es war wie so oft. Nur Schwarz und Weiß. Dabei existierten unendlich viele Schattierungen von Grau.

Es gab nicht nur die guten oder bösen Einwanderkinder, ebenso wenig wie es nur die guten oder bösen Harkis, Pieds Noirs oder Festlandfranzosen gab. Und er dachte, dass es hilfreich wäre, wenn die Leute endlich aufhörten, die Menschen in Schubladen zu stecken, sie nach ihrer Herkunft, Religion, Hautfarbe oder ihrem Geschlecht zu beurteilen. Sondern nach dem Herzen und ihrem Charakter.

»Madame«, sagte er nun deutlich milder. »Es bringt doch nichts …«

»Hören Sie auf mit Ihrem Madame. « Die Dame knöpfte mit runzeligen Fingern ihren Mantel zu. »Sie sind nicht besser als all die anderen. Sie wollen die Zusammenhänge nicht verstehen, stattdessen zeigen Sie auf diejenigen, die es aus Erfahrung besser wissen. Pfui!«

Verwundert sah Pierre ihr nach, als sie mit aufrechter Haltung und erhobenem Kopf das Restaurant verließ.

Madame Payot seufzte. »Genau davon wollte Maurice sich distanzieren.«

»Was ihm nicht zu verdenken ist«, murmelte Pierre. Zum ersten Mal war der Bürgermeister ihm geradezu sympathisch. »Bei allem Verständnis für das Schicksal dieser Dame. Aber es gibt keine Rechtfertigung dafür, eine Partei zu wählen, die sich vordergründig patriotisch nennt und sich zugleich rechtsextremen Gedankenguts bedient.«

»Es ist nicht so einfach, wie es scheint, Monsieur le policier. « Caroline Payots Wangen begannen wieder zu glühen. »Madame Moline ist eine der wenigen verbliebenen Zeitzeugen. Sie musste ihr Geburtsland Algerien verlassen, und niemand wollte von den Grausamkeiten der algerischen Befreiungsfront hören, die die Siedler gewaltsam aus dem Land vertrieben hat. Für Madame Moline ist das Gedankengut des Rassemblement National nicht rechtsextrem. Sondern Teil der Wahrheit. Für sie sind alle algerischen Einwanderer ein rotes Tuch. Sie hat Angst vor ihnen. Es ist ein Trauma, Monsieur le policier, eine offene Wunde, die viele Menschen hier mit sich herumtragen. Sie blutet nach wie vor, auch sechzig Jahre danach, weil sie ständig wieder aufgerissen wird. Und weil noch immer ein Teil der Politik nicht hinsehen will.«

Madame Payots Essen kam, der Salat mit den Rotbarben sah fantastisch aus. Einen Moment später stellte die Kellnerin eine Schieferplatte vor Pierre ab. In der Mitte das Tartar, dekoriert mit einem gepfefferten Eigelb und Zwiebelringen. Außen herum Schalen mit Kapern, Tomatenketchup, gehackten Zwiebeln und einem Relish aus Cornichons und Senf. Dazu hausgemachte, fingerdicke frites mit krosser Kruste und – wie Pierre beim ersten Probieren feststellte – punktgenau weichem Kern.

»Wussten Sie«, fuhr Caroline Payot nach einigen Bissen fort, »dass die algerische Front de Libération Nationale nach dem Erlangen ihrer Unabhängigkeit Jagd auf Europäer gemacht hat? Unzählige Menschen wurden entführt, starben bei Terroranschlägen, wurden verstümmelt und öffentlich hingerichtet. In den Großstädten lieferten sich Algerier und Franzosen wahre Straßenschlachten, es herrschte die reine Anarchie. Die Gewaltbereitschaft im Land war so hoch, dass die Zivilbevölkerung in Massen floh. Eine Million Franzosen, die zum Teil seit Generationen in Algerien lebten und das Festland nie gesehen hatten, strömten nach Frankreich. Dazu Europäer italienischer, spanischer und jüdisch-sephardischer Herkunft. Am Ende hatten sie alles verloren: ihre Heimat, ihr einstiges Leben und ihre Würde.«

Pierre hielt inne. Das Gespräch verdarb ihm den Appetit. Problematisch an der Sache war: Es hatte in diesem Krieg kein Gut und kein Böse gegeben, das klar zu benennen wäre. Es gab viel zu viele Opfer und genauso viele Täter, und zwar auf allen Seiten. In jenen Jahren hatte sich eine Hölle aufgetan, der kaum jemand entfliehen konnte. Da gab es keine Vernunft mehr, kein Gefühl der Empathie. Nur noch Hass und Furcht.

Lustlos stocherte er in dem rohen Tartar herum und suchte nach einem Weg, um zu dem eigentlichen Grund der Befragung zurückzukehren. An welchem Punkt waren sie noch mal stehen geblieben?

»Warum heißt es eigentlich Pieds Noirs ?«, fragte er, weil er Zeit brauchte, um seine Gedanken zu sortieren.

»Oh, so haben die Festlandfranzosen damals die Siedler in Algerien genannt. Zur Herkunft des Begriffs gibt es verschiedene Versionen. Eine lautet, dass die Franzosen glaubten, alle Siedler seien arm und müssten barfuß laufen. Eine andere besagt, es liege an den von der Sonne Algeriens verbrannten Füßen. Die dümmste verknüpft es mit dem Status, weil sie als Kolonialherren immer feine schwarze Schuhe getragen hätten. Das ist natürlich Unsinn.«

Pierre legte das Besteck ab. Jetzt wusste er wieder, wie er an die Befragung anknüpfen konnte.

»Kommen wir zurück zu dem Mordfall«, sagte er. »Sie sagten vorhin, Gilbert Langlois habe sich bei seinem Besuch erkundigt, wie es Ihnen nach dem Brand ergangen sei. Haben Sie eine Idee, warum er das wissen wollte?«

»Nein. Es war ein recht harmloses Gespräch, das schnell endete. Es war ihm wohl zu unergiebig. Maurice und ich haben ja kaum noch Kontakt.«

Pierre merkte auf. »Dann hat er Sie also doch nach Maurice gefragt.«

Caroline Payot biss sich auf die Lippen, nickte dann. »Wird mein Bruder des Mordes verdächtigt?«

»Trauen Sie es ihm denn zu?«

Sie überlegte, schüttelte dann den Kopf. »Nein, er würde sich nie die Hände schmutzig machen.« Ihre Stimme war nur mehr ein Flüstern.

»Und Ihr anderer Bruder, Frédéric?«

»Niemals! Frédéric ist der anständigste Mensch, den ich kenne.« Das hatte nun sehr bestimmt geklungen.

»Auch dann nicht, wenn sein Lebenswerk in Gefahr wäre?«, hakte er nach. »Etwa die Wiederherstellung des Vermächtnisses Ihres Vaters?«

»Nein, auch dann nicht. Frédéric ist beseelt davon, die Welt zu verbessern. Er will mit persönlichem Engagement erreichen, dass sich Algerier und Franzosen aussöhnen. Natürlich ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber es ist zumindest ein Anfang.«

Pierre dachte an die Harragas, die er im Aufenthaltsraum gesehen hatte, und daran, dass die Kollegen der police national aus Carpentras den Trüffelhof in diesem Augenblick vielleicht stürmten und durchsuchten. Das Projekt der Versöhnung stand ganz offensichtlich nicht auf dem Boden des Gesetzes.

»Haben sich Frédéric und Ihre Schwägerin Elodie eigentlich je kennengelernt?«

»Ja, ganz zu Beginn, als Maurice mit ihr zusammenkam«, sagte Caroline Payot. »Aber mit dem Streit ist der Kontakt abgebrochen.«

Das war das Stichwort. Pierre holte einen Stift hervor und tippte auf das verschlossen daliegende Notizbuch. »Es ist wichtig, dass Sie meine Fragen jetzt so genau wie möglich beantworten. Was wollte Gilbert Langlois von Ihnen über Ihren Bruder Maurice wissen?«

»Es hat ihn interessiert, wie er sich damals das Jurastudium leisten konnte«, sagte sie und rieb sich mit beiden Händen über die roten Wangen. »Es ist ja recht teuer, alleine wegen der hohen Grundgebühr.«

Das war eine gute Frage von Gilbert Langlois gewesen, musste Pierre zugeben. »Und was haben Sie ihm geantwortet?«

»Maurice hat von unserem Bruder Geld bekommen. Frédéric hat damals extrem viel gearbeitet, tagsüber auf dem Bau und abends als Kellner. Er träumte schon immer davon, eines Tages die Trüffelfarm unserer Eltern wiederaufzubauen. Das Grundstück existierte ja noch, er übernahm es und zahlte uns aus. Aber es war nicht viel wert. Deshalb hat Maurice neben dem Studium noch in einer Kanzlei gejobbt. Das habe ich Monsieur Langlois auch erzählt.«

»Welche Kanzlei war das?«

Caroline Payot sah ihn mit großen Augen an. »Keine Ahnung. Vielleicht kennt Frédéric den Namen. Damals hatten die beiden ja noch Kontakt.«

Pierre zog das Notizbuch zu sich heran, um sich endlich ein paar Stichworte aufzuschreiben, doch er ließ es zugeschlagen. Sein Blick wanderte durch das Fenster zur Hotelterrasse und weiter zu den gewaltigen Platanen, die ihrer Größe nach aus der Zeit vor der Ortsgründung stammen mussten.

Ihm fiel etwas ein.

»Hatten Ihre Eltern denn keine Feuerversicherung?«

»Doch. Aber die Versicherung weigerte sich, uns auszubezahlen. Sie behaupteten, es sei kein Unfall gewesen. Das Feuer sei vorsätzlich gelegt worden, von meinem Vater.«

Pierre merkte überrascht auf. »Stimmt das denn? Was ist damals wirklich passiert, als der Trüffelhof Ihres Vaters in Flammen aufging?«

Caroline seufzte leise. Sie sah auf die Uhr. Dann winkte sie der Kellnerin. »Haben Sie eine halbe Stunde Zeit?«, fragte sie Pierre. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«