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Sie fuhren den Hügel hinauf, an ebenso flachen, hellen Häusern vorbei, wie Pierre sie auf dem Weg von der Autobahn zum Ortskern gesehen hatte. Caroline Payot saß auf dem Beifahrersitz seines Renaults, kerzengerade und mit im Schoß gefalteten Händen, und gab ihm die Richtung vor.

Die Straße verlief in Kurven, schlängelte sich an hübschen Vorgärten vorbei, an Agaven mit hochgeschossenen Blütenständen, an Oleanderbüschen und Lorbeerhecken. Auch hier war alles liebevoll gepflegt.

Nach wenigen Minuten erreichten sie das Plateau, als Pierres Telefon klingelte. Es war Penelope. Er fuhr rechts ran.

»Ich muss den Anruf entgegennehmen«, entschuldigte er sich bei seiner Beifahrerin und stieg aus.

»Ja?«

»Du glaubst nicht, was ich herausgefunden habe«, rief Penelope. Ihre Stimme klang aufgeregt. »Ich weiß jetzt, mit welchen Behörden Langlois vor seinem Tod telefoniert hat.«

Pierre ging ein paar Schritte, bis er außer Hörweite war. »Schieß los.«

»Zum einen mit den Anwaltskammern in Carpentras und Avignon, zum anderen mit dem nationalen Prüfungsamt für juristische Examen. Der Kollege aus Cavaillon hatte schon mit den dortigen Mitarbeitern gesprochen. Alles zentrale Nummern, bei denen täglich Dutzende Anfragen eingehen, daher konnte sich auch niemand an einen Anrufer mit dem Namen Langlois erinnern. Es ist ja auch schon ein paar Wochen her.«

»Zwei Anwaltskammern und das Prüfungsamt …« Pierre spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Maurice Marechal hatte eine Kanzlei in Mazan und danach eine in Sainte-Valérie. Dafür waren die Anwaltskammern von Carpentras und Avignon zuständig. Stimmte etwas nicht mit seiner Zulassung? Das erklärte vielleicht die abfotografierten Dokumente. »Wir müssen herausfinden, ob es bei Maurice Marechals Papieren Unregelmäßigkeiten gibt«, sagte er.

»Ich habe Commissaire Lechat bereits informiert und darum gebeten, dass er einen Antrag auf Einsicht stellt, damit wir keine Zeit verlieren.«

»Sehr gut.«

»Das ist noch nicht alles. Ich bin die Zulassungsergebnisse der école d’avocats durchgegangen, wo sich Maurice Marechal nach seinem Studium zur Prüfungsvorbereitung und Erlangung des Zertifikats hätte anmelden müssen. Die Ergebnisse werden an jedem ersten Dezember veröffentlicht. Doch weder in Marseille noch in Lyon, Toulouse oder in irgendeiner anderen Schule taucht sein Name auf. Ich habe die letzten drei Jahrgänge vor Eröffnung seiner Kanzlei in Mazan überprüft. Nichts.«

»Das heißt …« Pierre brach ab.

»… dass Maurice Marechal seine Prüfung entweder im Ausland abgelegt hat«, führte Penelope den Satz zu Ende, »oder ein Hochstapler ist, der seine Abschlussdokumente gefälscht hat, damit er bei den Kammern seine Zulassung bekommt.«

»Das gibt’s ja nicht!«, entfuhr es Pierre.

Maurice Marechal war wieder im Spiel. Noch wusste Pierre nicht, welche Rolle er besetzte, aber er würde es herausfinden.

»Wie gesagt, das ist nur meine erste Einschätzung. Ich bleibe dran.«

Das war wirklich ein Donnerschlag. Und hätte er nicht vor einiger Zeit einen Artikel über einen Anwalt gelesen, der es dank einer gefälschten Zulassung bis in die oberste Etage einer namhaften Kanzlei geschafft hatte, er hätte nicht geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich wäre.

Pierre ließ das Telefon sinken und blieb stehen, wie zur Salzsäule erstarrt. Vor ihm lag ein atemberaubendes Panorama, das ihn in einer anderen Situation gewiss in Entzücken versetzt hätte.

Es war ein erhabener Blick über das Tal und bis zum gegenüberliegenden Bergrücken mit seinen dichten Wäldern. Rechts davon zogen sich Häuser wie kleine helle Tupfen über die Landschaft. Ein Spiegelbild der hiesigen Seite.

»Monsieur Durand, alles in Ordnung?« Caroline Payot war ebenfalls ausgestiegen und sah ihn besorgt an.

Pierre nickte und ging langsam auf das Auto zu.

»Alles gut«, sagte er, während er sich wieder hinter das Lenkrad schwang. In Gedanken noch immer bei dem Telefonat.

Alles passte plötzlich zusammen. Als Gilbert Langlois vor etwa drei Wochen hier in Carnoux-en-Provence gewesen war, da ahnte er bereits, dass Maurice Marechal sich ein Jurastudium niemals hätte leisten können. Seine Erkundigungen bei den entsprechenden Behörden waren offenbar von Erfolg gekrönt gewesen. Blieb die Frage, wie Langlois an die Dokumente gekommen war. Ohne persönliche Befugnis oder einen offiziellen Antrag durch eine Kanzlei oder Ermittlungsbehörde erhielt man keine Einsicht.

Wie dem auch sei: Gilbert Langlois hatte den Bürgermeister in der Hand gehabt. Die Offenlegung dieser Informationen hätte das Ende von Maurice Marechals Karriere als Anwalt und als Oberhaupt von Sainte-Valérie bedeutet. Damit hatte er ein veritables Motiv, den ehemaligen Polizisten beseitigen zu lassen. Von wem auch immer.

Alles schien minutiös geplant. Sogar sein Alibi. Mit einem Mal ergab auch die Betroffenheit Sinn, die Pierre bei Marechals Frau Elodie gespürt hatte. Ahnte sie, dass ihr Mann schuld an Langlois’ Tod war?

Pierre lächelte. Sie waren ganz nah dran.

Je weiter sie fuhren, desto mehr Häuser durchbrachen die einheitliche Bauweise des Ortes. Sie besaßen nun tönerne Dachpfannen, und die Wände trugen provenzalisches Ocker oder Apricot, ein ums andere Mal vereint mit orientalisch anmutenden Mustern und Bögen.

»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte Pierre, als die Reihe der Häuser lichter wurde.

»Sie wollen doch die Wahrheit über den Brand der Trüffelfarm wissen. Ich zeige sie Ihnen.« Caroline Payot wies auf eine Abzweigung. »Dort müssen wir nach links.«

Sie lotste ihn bis zu einem Parkplatz, der zu einem Friedhof gehörte. Schweigend gingen sie durch das Tor und über eine Allee ergrünender Bäume, die die Reihen der Gräber teilte und auf einen hohen Bogen aus Steinquadern zuführte.

»Das Denkmal dort ist zur Erinnerung an die Toten aus den ehemaligen französischen Kolonien«, erklärte Caroline Payot. »Dort liegen Urnen aus dreiundzwanzig Friedhöfen, die aufgegeben werden mussten. Terra patrum patria. Das Land unserer Väter.« Sie bog nach rechts.

Pierre atmete tief durch, während er ihr folgte. Es bereitete ihm Mühe, die Aufmerksamkeit wieder auf Caroline Payot zu richten, auf das, was sie ihm zeigen wollte. Eine Erklärung zum Feuer, zu dem Brand des Trüffelhofes … Die Sache kam ihm auf einmal fern und vage vor, ein unwichtiges Puzzleteil. Alles schien hinter den Neuigkeiten, die er gerade erfahren hatte, zu verblassen.

Sie gingen an steinernen Gräbern entlang, dichte Reihen mit Ruhebetten aus Marmor und Granit. Immer wieder blieb Pierre stehen, um die Aufschriften zu betrachten. Die Tafeln mit Fotos der Verstorbenen, die Engelsfigürchen, Porzellanrosen und Madonnenbilder. Die unverwelkbaren Plastikblumen in den Vasen am Boden. Die Schilder von Veteranenverbänden mit Erinnerungen an Soldaten, an Kämpfer der Résistance, an Träger von Verdienstorden der Ehrenlegion.

Vor einer Grabplatte mit einem aus Stein gemeißelten Buch blieben sie stehen. Die aufgeschlagene Seite zeigte das Bild eines Ehepaares. Einen ernst dreinschauenden Mann und eine Frau mit hochgestecktem Haar und gütig blickenden Augen.

»Das hier sind meine Großeltern Leon und Marie. Sie kamen mit meinem damals zehnjährigen Vater Jacques im Juni zweiundsechzig mit dem Passagierschiff Ville-d’Alger in Marseille an. Sie hatten nur das dabei, was sie in zwei Koffern tragen konnten. Es war eine sehr chaotische Flucht, müssen Sie wissen. Und noch chaotischer war die Ankunft. Die französische Regierung hatte mit höchstens vierhunderttausend Personen gerechnet … innerhalb von vier Jahren. Aber schon in den ersten sechs Monaten nach Verkündung der Unabhängigkeit Algeriens kamen mehr als doppelt so viele. Die OAS hatte verbrannte Erde hinterlassen, die Siedler waren im Land nicht mehr sicher und flohen in Scharen. Koffer oder Sarg. Marseille platzte damals aus allen Nähten.«

»Was ist mit den vielen Menschen passiert?«

»Die Behörden waren vollkommen überfordert. Sie verteilten schließlich die Ankömmlinge wahllos in ganz Frankreich, aber mein Großvater hörte von der neuen Siedlung bei Cassis, und so machten die drei sich alleine auf den Weg. In Carnoux fanden sie tatsächlich eine Bleibe und waren darüber sehr dankbar, denn damit hatten sie wirklich Glück. Während die Pieds Noirs im restlichen Land für ihre Sprache, ihren Akzent, ihre Kultur verachtet wurden, waren sie hier unter sich. Doch ihr Herz blieb zeitlebens auf der anderen Seite des Mittelmeers, outre-mer. Wenn meine Großeltern von den Weizenfeldern sprachen, von dem vertrauten Verhältnis zu den arabischen Nachbarn in Tiaret, dann glänzten ihre Augen.« Sie strich über das Bild der warmherzig blickenden Frau. »Wir hatten eine schöne Kindheit, trotz aller Enge. Meine Großmutter hat immer nach den alten Rezepten aus der Heimat gekocht. Haben Sie schon einmal couscous barbouche gegessen?«

Pierre verneinte.

»Es ist ein Rezept aus der Küche der Pieds Noirs. Die perfekte Mischung aus Frankreich und Algerien. Es enthält neben dem Couscous noch weiße Bohnen, eine saucisse osbane, Innereien und Kalbfleisch. Gewürzt wird das Ganze mit zatar, einer Mischung aus wildem Thymian, Sumach, geröstetem Sesam, Kreuzkümmel und einigem mehr. Ich koche es heute noch gerne.« Sie lächelte. »Allerdings verzichte ich auf die Innereien, auch bei der saucisse osbane. Ich mag die Wurst lieber in der Variante mit Hammelfleisch. Gewürzt wird sie mit frischem Koriander, Petersilie, Pfefferminze, etwas Paprika und Zimt … einfach köstlich.« Sie hob den Daumen und Zeigefinger zum Mund und verdrehte genießerisch die Augen.

Pierre konnte es sich lebhaft vorstellen. »Der Brand des Trüffelhofes …«, kam er zurück zum Grund ihres Friedhofbesuches. »Ich habe mit Romain Martinez darüber gesprochen. Er hatte dazu eine eigene Theorie.«

Sie sah ihn überrascht an. »Was denn für eine?«

»Er meinte, es sei möglicherweise Brandstiftung gewesen, ein rassistisches Motiv.«

»Ach so. Nun … nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Frédéric hat das früher immer erzählt. Als Ältester hatte er mitbekommen, was die Leute in Mazan von den Ankömmlingen hielten. Die hatten ja keine Ahnung, was für großartige Menschen die Bensaids sind.«

Pierre dachte an die algerische Familie, der er auf dem Trüffelhof begegnet war. An die Frau mit den wilden Locken, die ihn vom Fenster aus begrüßt hatte. »Martinez meinte, die Bensaids lebten damals in einem Lager in Rivesaltes. Wie kam es eigentlich dazu, dass Ihr Vater sie nach Mazan geholt hat?«

»Mein Vater und Salah kannten sich noch aus Algerien«, erzählte Caroline Payot. »Sie waren dort beste Freunde. Nach der Flucht hatte er lange geglaubt, seinen Freund nie wieder zu sehen. Denn Salahs Vater war ein Harki, eine Hilfskraft der Kolonialarmee.«

Pierre verstand. »Die Bensaids galten bei ihren Landsleuten als Verräter.«

Caroline Payot nickte. »Sie haben gerne für Frankreich gearbeitet, sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass Algerien irgendwann nicht mehr französisch sein sollte. Natürlich lockte auch das regelmäßige Gehalt, immerhin hat es die ganze Familie ernährt.« Ihr Blick wanderte über die vielen Gräber, sie schien jetzt ganz in die Geschichte der Bensaids einzutauchen. »Aber nach dem Waffenstillstandsabkommen von Évian ließ die französische Regierung sie entwaffnet zurück. Die algerische Befreiungsfront machte gnadenlos Jagd auf alle Harkis. Ich erspare Ihnen die Details. Fakt ist, dass Frankreich sie am Ende schutzlos dem Zorn ihrer Landsleute überließ und tatenlos zusah, wie gut hunderttausend von ihnen auf brutalste Weise massakriert wurden.«

»Gab es denn keinen Plan, um die Hilfssoldaten zu retten?«, fragte Pierre betroffen.

Sie sah ihn an. »Doch, den gab es, aber die Aufnahme war beschränkt. Die Regierung hatte schon genug zu tun mit den vielen Rückkehrern, sie wollte nicht auch noch die Hilfssoldaten im Land haben. Gerade einmal zehntausend bedrohte Harkis sollten nach Frankreich umgesiedelt werden. Alleine, ohne Familie. Der Vater von Salah stand nicht auf der Liste. Aber er hätte seine Frau und die Kinder auch niemals im Stich gelassen.«

»Wie haben sie es dann hierhergeschafft?«

Caroline Payot versuchte ein Lächeln. »Sie sind mit Hilfe eines französischen Soldaten geflohen, der sie auf ein Lastschiff schmuggelte. Kaum angekommen, wurden sie mit all den anderen fortgesperrt und in ein abgelegenes Lager gebracht, in dem sie unter schlechten hygienischen Bedingungen lebten. Es gab viele ähnliche Orte im Süden von Frankreich, sogenannte Forstsiedlungen. Man wollte verhindern, dass die Untergebrachten soziale Kontakte zu Franzosen knüpfen. Die Wahrheit über den Algerienkrieg sollte partout nicht an die Öffentlichkeit gelangen.« Sie atmete schwer, ihr Brustkorb hob und senkte sich sichtbar unter ihrem Pullover. »Schließlich hielten es manche von ihnen nicht mehr aus. Sie protestierten lautstark gegen die Ungerechtigkeit. Die Presse berichtete groß darüber.«

Pierre nickte. Er hatte eine Rückschau über die Ereignisse gelesen, und die Bilder der Proteste hatten ihn erschüttert. Menschen, die sich hinter einem Stacheldrahtzaun drängten und die Fäuste in den Himmel reckten. Die Alten mit eingefallenen Gesichtern und Augen, in denen nicht Wut, sondern Hoffnungslosigkeit stand.

»Salah war einer von ihnen«, fuhr Caroline Payot fort. »Mein Vater hat seinen früheren Spielkameraden auf einem Foto wiedererkannt. Er fuhr hin, aber er durfte ihn nicht rausholen. Erst, als das Lager aufgelöst wurde, kamen die Bensaids in Freiheit. Mein Vater, der inzwischen geheiratet hatte, nahm Salah und seine Familie mit nach Mazan und gab ihnen auf der Plantage eine neue Heimat. Er hat sie gegen alle rassistischen Angriffe verteidigt wie ein Löwe. Er hätte sich jedem entgegengestellt, mit der Schrotflinte in der Hand, der ihnen Leid antun wollte.«

In Caroline Payots Blick lag nun Stolz, und sie reckte das Kinn, als würde auch sie höchstpersönlich die Flinte erheben, sobald jemand einem ihrer Lieben Leid androhte.

»Es ist eine berührende Geschichte«, sagte Pierre. »Aber wenn es keine Brandstiftung war, was dann?«

»Es war die Scham, die Dämonen der Flucht. Mein Vater hat viel Schlimmes erlebt in jungen Jahren, er ist damit nicht zurechtgekommen.« Sie zeigte auf eine Plakette in der Steinplatte. Jacques Marechal stand darauf geschrieben. Geboren 1952 in Tiaret, gestorben 1998 in Mazan. Daneben war eine Plakette für die Mutter angebracht, die in Oran geboren war. »Es gibt keine Asche und deshalb auch kein richtiges Grab. Nur ein Andenken. Mein Vater hat an Depressionen gelitten. Meine Mutter hat seine schwarzen Stunden nicht mehr ausgehalten und wollte ihn verlassen. Ich weiß es von meiner Oma mütterlicherseits. Maman hat es ihr erzählt. Mein Vater hat sie offenbar daran gehindert. Nur wenige Stunden später brannte der Hof.«

»Das ist ja furchtbar«, entfuhr es Pierre. Er war fassungslos. Das hatte er nicht erwartet.

Mit einer unwirschen Bewegung schüttelte Caroline Payot den Kopf. »Das Unglück hätte die Familie enger zusammenschweißen können. Vereint in Trauer. Aber woher sollten wir wissen, wie man so etwas macht? Meine Eltern sind an ihrer eigenen Geschichte zerbrochen, wir haben nie gelernt, was stabile Bindungen sind. Am Ende ist jeder von uns anders damit umgegangen. Frédéric wollte lieber die Geschichte vom rassistischen Anschlag glauben, obwohl es dafür keine Beweise gab. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, das angebliche Unrecht ungeschehen zu machen, indem er alles wieder aufbaute und unseren Vater emporhob wie einen Helden, ein Opfer der Umstände. Maurice dagegen ist vor dem Elend geflohen. Er war wütend. Wütend über die Vergangenheit, die schuld war an Vaters Depressionen. Er war vollkommen beherrscht von dem Wunsch, einen eigenen Weg zu finden und es besser zu machen. Es ist ihm ja ganz offensichtlich auch gelungen.«

»Und Sie?«, fragte Pierre. »Wie ist es Ihnen seither ergangen?«

Caroline Payot zuckte mit den Schultern. »Ich habe einfach versucht weiterzuleben. Meinen Großeltern zuliebe, ich habe sie bis zu ihrem Tod gepflegt. Mit dem Anteil, den Frédéric mir damals ausgezahlt hat, habe ich nach meiner Scheidung einen Kredit für einen Bungalow aufgenommen, er ist bald abgezahlt. Ich bin zufrieden.«

Es hatte fatalistisch geklungen.

Pierre sah über die Reihen der Gräber hinweg zu den Bäumen am Rand des Friedhofes.

Die schreckliche Flucht, das Trauma der Eltern, der Blick in den Abgrund, als alles verbrannte. Schließlich Maurice Marechals Fixierung, unbedingt als Anwalt für Familienrecht für Kinder arbeiten zu wollen – es erklärte einfach alles.

Der junge Maurice Marechal war an seine Grenzen gekommen, als er das Studium begann. Jura war eine der härtesten Disziplinen, man musste konzentriert dranbleiben und viel Zeit mit Fallbeispielen und Gesetzestexten verbringen. Zeit, die man als mittelloser Mensch nicht hatte, der nebenher arbeiten musste, um sich Bücher, Essen, eine Unterkunft zu beschaffen. Alleine die Ausbildung an der école d’avocats kostete monatlich eine Stange Geld, die Anmeldung zur Prüfung ebenfalls. Man konnte zwar staatliche Unterstützung beantragen. Aber reichte sie, um im Alltag zu überleben?

Gilbert Langlois hatte Caroline Payot gefragt, wie ihr Bruder sein Studium finanziert habe. Nun lag die Lösung ausgebreitet vor Pierre. Alles was fehlte, war die Bestätigung seitens der Behörden.

Sein Blick schweifte von den Gräbern hinauf zum klarblauen Himmel, in dem sich eine weiße Kondensspur verlor. Die ganze Zeit war er auf Langlois’ Spuren gewandelt, um das Puzzle zu vervollständigen. Es war der richtige Weg gewesen. Allem Anschein nach hatte Maurice Marechal die Tat geplant. Alles, was ihm nun noch fehlte, war der Täter.

Pierre nickte Caroline Payot zu. »Vielen Dank, dass Sie mir einen Blick in Ihre Vergangenheit gewährt haben. Ich fahre Sie jetzt zurück.«

Er öffnete ihr die Beifahrertür, als ein Anruf auf seinem Mobiltelefon einging. Es war eine Nummer, die er nicht kannte.

»Ja?«

»Monsieur Durand? Hier ist Elodie Marechal. Ich muss Sie dringend treffen.« Es rauschte stark, offenbar war sie im Auto unterwegs.

Pierres Herz machte einen Satz. Irgendetwas war geschehen, er konnte es durch das Telefon hindurch spüren. »Wo sind Sie jetzt?«

»Auf dem Weg nach Sainte-Valérie. Sie hatten recht.«

Ihre Stimme klang fiebrig und leise, und Pierre presste das Telefon stärker ans Ohr. »Womit hatte ich recht?«

»Das … will ich Ihnen lieber persönlich sagen. Wir treffen uns in … Sagen wir in zehn Minuten?«

»Ich bin noch in Carnoux.« Pierre sah auf die Uhr, es war kurz vor halb drei. Bis nach Sainte-Valérie brauchte er etwa eineinhalb Stunden und er musste Madame Payot noch im Ort absetzen. »Vor vier werde ich es leider nicht schaffen.«

Sie blies die Luft hörbar aus. »Gut, sagen wir um vier. Wir treffen uns an der Bank auf der Plattform unterhalb der Stadtmauer. Ich warte dort auf Sie.«

Es klackte in der Leitung.

»Hallo? Hallo, sind Sie noch da?«

Elodie Marechal hatte aufgelegt.