Pierre und Commissaire Lechat nahmen den Weg über den Pfad und durch die Stadtmauer zurück ins Dorf. Weiter über den Chemin des Murs zum Chemin des Liserons, wo das Haus des Bürgermeisters lag.
Lieutenante Fenech erwartete sie bereits vor der Tür.
»Hat Marechal Sie gesehen?«, fragte Pierre.
»Nein. Er hatte die Kinder dabei. Ich wusste nicht«, sagte sie ungewohnt unsicher, »ob ich eine Polizeipsychologin anfordern soll. Wie geht es Madame Marechal?«
»Unverändert«, antwortete Lechat, der unterwegs mit der Klinik telefoniert hatte. »Sie schwebt noch immer in Lebensgefahr. Wir müssen vorsichtig sein, was wir im Beisein der Kinder sagen. Es wäre viel zu früh, sie damit zu konfrontieren.« Er nickte entschlossen. »Also gut, los geht’s.«
Auf Pierres energisches Klopfen hin öffnete ihnen ein erstaunter Bürgermeister. Er sah gut aus, offenbar vollständig von seiner Erkältung erholt. Maurice Marechal trug Jeans und ein weißes Hemd, das kaum Knitterfalten aufwies, keine Spuren von einem Kampf oder einer Rangelei. Aber natürlich hatte das nicht viel zu sagen. Ein einziger gezielter Stoß hätte vollkommen ausgereicht.
»Was ist denn das hier für ein Aufgebot?«, fragte er, dabei wirkte er nicht unfreundlich. Ganz im Gegenteil, er lächelte seine Besucher sogar an – wobei er Pierre aussparte. »Sie haben doch wohl nicht etwa vor, mich zu verhaften?«
Es klang wie ein Scherz. Nichts in seinem Gesicht spiegelte Entsetzen wider oder Trauer. Pierre dachte an das, worüber er und Lechat vorhin gesprochen hatten. Ob Marechal wirklich skrupellos genug wäre, seine eigene Frau einen Abhang hinunterzustürzen. Um wie viel skrupelloser musste ein Mann sein, der eine solche Tat nicht nur ausführte, sondern auch noch weglächelte?
»Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?«, fragte der Commissaire, ohne auf den missglückten Scherz einzugehen.
Marechals Lächeln verschwand. »Das muss gegen halb zwölf gewesen sein. Elodie wollte zum Einkaufen. Ist etwas passiert?« Er wirkte jetzt regelrecht besorgt.
Ein kleines Mädchen und ein Junge kamen über den Flur gelaufen, Rose und Hugo. Das Mädchen versteckte sich hinter dem Vater, lugte zwischen seinen Beinen hindurch. Pierre wusste, dass sie etwa vier Jahre alt war, der Bruder fünf.
»Wo waren Sie«, fragte Lechat weiter, »in der Zeit zwischen halb zwölf und halb vier?«
»Ich war bis halb drei mit den Kindern zu Hause. Danach bin ich mit ihnen spazieren gefahren.«
»Ohne Ziel?«
»Ich … habe mir Sorgen gemacht.«
»Warum?«, fragte Pierre spitz. »Ihre Frau war doch nur einkaufen. Das kann schon mal eine Weile dauern.«
Marechal sah ihn unwirsch an. »Sie wollte allerspätestens um halb zwei zurück sein. Die Kinder hatten Hunger. Elodie ging nicht ans Telefon, das kenne ich nicht von ihr. Bei meinen Schwiegereltern war sie auch nicht. Da habe ich Rose und Hugo eingepackt und bin losgefahren.«
»Hatten Sie vorher Streit?«
»Nein.«
»Ich habe Ihre Frau heute Vormittag auf der Plattform vor der nördlichen Stadtmauer getroffen. Da trug sie einen Pullover und Gummistiefel. Ist sie vorm Einkaufen noch einmal nach Hause gekommen, um sich umzuziehen?«
»Ja. Aber wir haben nicht gestritten.«
Pierre hob die Brauen. »Trotzdem waren Sie so besorgt, dass Sie Ihre Kinder ins Auto gesetzt haben, als sie sich um eine Stunde verspätete?«
»Wir sind einander eben sehr wichtig.« Marechal funkelte ihn an.
»Und es gab wirklich keinen anderen Grund?« Pierre wartete auf eine Antwort, und als sie nicht kam, fuhr er fort. »Haben Sie auf der Suche nach Ihrer Frau irgendwo angehalten?«
»Nein.«
»Stimmt nicht, Papa«, krähte das Mädchen. »Beim Supermarkt hast du wohl gehalten.«
Marechal strich dem Kind zärtlich übers Haar. »Du hast recht, Rose. Das habe ich ganz vergessen zu erwähnen.« Demonstrativ wandte er sich an den Commissaire, als habe der ihm die Frage gestellt. »Elodie fährt samstags immer zum Super U in Coustellet, wissen Sie? Ich habe die Kassiererinnen gefragt, ob sie dort war.«
»Und?«, fragte Pierre unbeeindruckt.
»Sie war«, jetzt sah Marechal wieder ihn an, »um ein Uhr an der Kasse fertig. Das hat mich natürlich noch mehr beunruhigt.«
»Wie kommt es, dass die Dame sich auf die Minute daran erinnert hat?«
»Nun ja, Elodie ist Stammkundin, und die Kassiererin hat sie direkt vor ihrer Mittagspause bedient.« Marechal sah von einem zum anderen. »Warum all diese Fragen?« Sein Gesicht war plötzlich aschfahl. »Wo ist Elodie, ist ihr etwas zugestoßen?«
»Haben Sie«, fuhr nun Lechat fort, ohne darauf einzugehen, »ein weiteres Mal angehalten, vielleicht an der Straße unterhalb der nördlichen Stadtmauer von Sainte-Valérie?«
»Nein. Warum? Was sollte ich dort?«
Auch die beiden Kinder schüttelten den Kopf. Aber das muss nichts heißen, dachte Pierre, sie könnten geschlafen haben oder abgelenkt gewesen sein.
»Wollen Sie mir nicht endlich erklären, was das alles soll?« Marechal klang jetzt sehr aufgebracht.
Robert Lechat warf einen Blick auf die beiden Kinder, die alles mit großen Augen verfolgten. »Ich würde das Gespräch gerne drinnen weiterführen.«
Während sich die Lieutenante von Rose und Hugo ihre Zimmer zeigen ließ, begleiteten Pierre und Lechat den Bürgermeister in den ersten Stock, wo sie am Esstisch vor dem herrlichen Panorama Platz nahmen.
Pierre beobachtete Marechals Reaktion ganz genau, als Commissaire Lechat ihm von dem lebensgefährlichen Sturz seiner Frau erzählte. Der Bürgermeister war sichtlich fassungslos, sein Gesicht noch blasser als zuvor.
»In welcher Klinik liegt sie?«, rief er aufgebracht, nachdem Lechat geendet hatte. Auf seinem Hals bildeten sich hektische rote Flecken. »Ich muss sofort zu ihr.«
Der Commissaire schüttelte bedauernd den Kopf. »Das ist leider nicht möglich. Vorerst.«
»Warum nicht? Wer tut denn so etwas? Warum war Elodie überhaupt dort?«
Die Fragen schossen im Stakkato aus ihm heraus. Eigentlich traute Pierre dem Bürgermeister so einiges an Schauspielerei zu. Die gezeigten Emotionen aber waren echt.
»Ihre Frau war dort mit mir verabredet«, erklärte er ruhig. »Ich nehme an, sie wollte ihr Gewissen erleichtern. Ich bin davon überzeugt, dass sie Gilbert Langlois’ Mörder kennt. Oder dessen Auftraggeber.«
»Davon weiß ich nichts. Sie hat mir gegenüber nie etwas von einem Verdacht erwähnt.«
»War Ihre Frau darüber im Bild, dass Sie gar keine anwaltliche Zulassung haben?«
Jetzt war es heraus. Marechal versteifte sich augenblicklich. In seinem Gesicht stand Entsetzen. »Woher …?«
Commissaire Lechat übernahm wieder. »Wir haben die Bestätigung von der Prüfungskommission und den Anwaltskammern. Sie haben Ihr Jurastudium abgebrochen und nicht, wie behauptet, mit dem Examen beendet. Gilbert Langlois hat das herausgefunden und Sie damit erpresst. Sie hatten ein Motiv für die Tat.«
»Er hat mich nicht erpresst!«, rief der Bürgermeister aus, sichtlich aufgewühlt. »Ich habe nicht mal geahnt, dass er davon …« Er brach mitten im Satz ab. Sein Brustkorb hob und senkte sich. »Sie wollen mir einen Mord unterschieben. Und, viel schlimmer noch, einen versuchten Mord an meiner eigenen Frau. Ich werde ab sofort kein Wort mehr sagen. Nicht ohne meinen Anwalt.«
»Den werden Sie auch brauchen.« Commissaire Lechat nickte. »Monsieur Marechal, ich nehme Sie hiermit wegen Dokumentenfälschung und des Verdachts fest, den Mord an Gilbert Langlois beauftragt zu haben. Inwiefern Sie am Sturz Ihrer Frau beteiligt sind, bleibt noch zu klären. Ich bitte Sie, mich und meine Kollegin zu begleiten.«
»Und was ist mit den Kindern?«
»Sie können gerne jemanden anrufen, der sich um die beiden kümmert.«
Sie hatten verabredetet, sich um sieben zu einer Teambesprechung im Chez Albert zu treffen, um alle neuen Fakten und Erkenntnisse noch einmal durchzugehen.
Pierre hatte angeboten, bei den Kindern zu bleiben, bis Marechals Schwiegereltern kamen, um sie abzuholen. Es war kurz vor halb sechs, als er den Schlüssel in der Tür hörte. Rose und Hugo, die ihm ihr Spielzeug gezeigt hatten – ein Puppenwagen voll Kuscheltiere und eine Carrerabahn – , stürmten in den Flur, um ihre Großeltern zu empfangen.
Pierre folgte ihnen. Marlène Pannetier begrüßte ihn höflich, blass vor Sorge, aber gefasst. Sie sah ebenso gepflegt aus wie auf den Fotos. Nur das graue Haar trug sie inzwischen extravagant gestuft, mit vollem Hinterkopf und auslaufenden Fransen. Zusammen mit dem hellblauen Strickkleid und den Perlenohrringen wirkte sie äußerst elegant.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie ihn zur Begrüßung. »Einen Kaffee oder Wasser?«
Pierre lehnte dankend ab, und sie entschuldigte sich, sie müsse die Taschen mit Kleidung und Spielzeug für die Kinder packen. Dann verschwand sie mit Rose und Hugo in Richtung der Kinderzimmer.
Jetzt stand er alleine mit Elodies Vater im Flur. Von Thierry Pannetiers militärischer Straffheit war nichts mehr zu spüren. Er schien um Jahre gealtert und wirkte eher wie ein zerstreuter Professor, mit Hemd, Strickjacke und der zerbeulten Hose.
»So sieht man sich wieder, Monsieur le policier «, sagte er mit missmutigem Brummen.
»Es tut mir wirklich leid, was geschehen ist«, erwiderte Pierre. »Ich bete, dass Ihre Tochter durchkommt.«
»Es tut Ihnen leid?« Pannetier sah ihn unwirsch an. »Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen. Sie haben das Leben meiner Tochter zerstört.«
»Ich habe … was?« Pierre blickte überrascht auf.
Der Schmerz hatte sich in die Züge seines Gegenübers gebrannt. Er brauchte offenbar einen Prellbock, weil er nicht wusste, wohin mit seinen Gefühlen.
»Ohne Sie«, fuhr Pannetier fort, »wäre das alles doch gar nicht passiert. Wenn Sie Ihre Nase nicht in den Fall gesteckt hätten, stünde mein Schwiegersohn jetzt nicht mit einem Bein im Gefängnis und Elodie wäre unversehrt.«
Pierre schüttelte den Kopf. Es war absurd. Er wusste nicht, was der Bürgermeister seinem Schwiegervater am Telefon erzählt hatte, aber das hier war eine komplette Verdrehung der Tatsachen.
»Ihr Schwiegersohn hat ohne Zulassung als Anwalt gearbeitet, Monsieur. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass er zur Verantwortung gezogen wird.«
»Kein Grund, ihn wie einen Schwerverbrecher zu behandeln. Maurice ist ein hochanständiger Mann, der immer nur das Wohl seiner Familie im Sinn hat … und das der Einwohner von Sainte-Valérie. Alles war gut, bis Sie kamen.«
Pierre seufzte. Es hatte keinen Sinn. Er verabschiedete sich rasch und ließ die Pannetiers mit den Kindern und ihrem Schmerz alleine.
Nachdenklich trat er auf die Gasse. Im Westen ging die Sonne unter. Legte ihre rotgoldenen Strahlen über die Wälder und tauchte sie in pastellfarbenes Licht.
Er kannte das schon, dieses Verleugnen, die Suche nach einem Schuldigen, trotz der eindeutigen Sachlage. Offenbar war Pannetier sein Schwiegersohn sakrosankt. Maurice Marechal war ein Meister darin, sich sympathisch zu präsentieren. Seine gewinnende Art hatte ihm schon in der Vergangenheit dabei geholfen durchzukommen, wenn er Konkurrenten und unliebsame Personen beiseiteräumte. In einem Punkt hatte Pannetier jedoch recht.
Maurice Marechal mochte ein Hochstapler sein. Aber den Sturz seiner Frau hatte er nicht verursacht, so viel war sicher.