»Et voilà! «
Albert stellte einen großen Korb mit geschnittenem Baguette und fougasse auf den Tisch, dazu eine Flasche Rotwein, einen Côtes de Provence, und eine Karaffe Wasser. Er schenkte den Anwesenden Wein ein: Commissaire Lechat, der seinen anderen Fall einem Kollegen übertragen hatte, Pierre, Luc und Lieutenante Fenech. Dann holte er ein weiteres Glas für Penelope, die nachgekommen war und sich nun atemlos auf ihren Stuhl fallen ließ.
»Entschuldigt bitte, ich hatte noch ein Telefonat. Ein weiterer …«
»Warte, Penelope«, unterbrach Luc sie, »zuerst deine Bestellung, bevor Albert wieder verschwindet. Eine Vorspeisenplatte haben wir schon geordert, die teilen wir uns.«
Die Schreibkraft warf einen kurzen Blick in die Karte. »Ich nehme das Seehechtfilet mit Zitrone und Basilikum«, sagte sie, und Albert verließ den Raum.
Der Gastronom hatte ihnen einen ruhigen Tisch gegeben, in einem Séparée abseits der anderen Gäste. Es war – wie das gesamte Lokal – altmodisch eingerichtet. Schwere Holzmöbel, geraffte Gardinen, eine dunkelrote Decke auf jedem Tisch. Über ihren Köpfen hing ein Ventilator, der fürchterlich wackelte und quietschte, wenn man ihn anschaltete, um den aus der Küche herbeiziehenden Dampf zu verteilen. Was zu Pierres Erleichterung an diesem Abend noch nicht notwendig war.
Das Chez Albert sah noch immer aus wie vor fünfzig Jahren. Und trotzdem verströmte es einen behaglichen Charme, sodass in den Sommermonaten nicht nur die Terrasse stets voll besetzt war.
Kaum, dass Albert den Bereich verlassen hatte, unterrichtete Commissaire Lechat die anderen über Elodie Marechals unverändert kritischen Zustand und erzählte, dass die Ärzte sie in ein künstliches Koma versetzt hatten, um den Stoffwechsel herunterzufahren und das Gehirn von dem entstandenen Druck zu entlasten. »Wir haben ihr einen Wachmann vor die Tür gestellt«, schloss er. »Ihre Sicherheit hat oberste Priorität.«
Betretenes Schweigen folgte. Lechat brach es, indem er auf das Verhör von Maurice Marechal zu sprechen kam.
»Er hat im Beisein seines Anwaltes die Dokumentenfälschung zugegeben. Es ist ihm ja auch nichts anderes übrig geblieben, die Beweise waren erdrückend. Den Mord an Gilbert Langlois will er dagegen nicht in Auftrag gegeben haben. Das hat er ausdrücklich betont. Er habe nicht einmal gewusst, dass der ehemalige Polizist Kenntnis von der fehlenden Zulassung hatte.«
Luc rollte die Augen. »Und das sollen wir ihm glauben?«
»Bislang«, sagte Lechat, »haben wir keinen Beweis für das Gegenteil. Der Plan ist, Maurice Marechal morgen in die Haftanstalt von Avignon zu überführen, wo er auf seine Verhandlung warten soll. Sein Anwalt will dagegen Beschwerde einlegen, der die Staatsanwaltschaft vermutlich entsprechen wird.«
»Sie wollen ihn laufen lassen?«, fragte Luc, sichtlich konsterniert.
Lechat nickte. »Ein Betrugsdelikt rechtfertigt keine vorbeugende Haft, zumal Maurice Marechal vollumfänglich geständig ist und seine Schuld einsieht. Es gibt nichts, was dagegenspricht, dass er zu Hause auf den Beginn der Verhandlung wartet. Für ihn als verantwortungsvollen Vater besteht ja keine Fluchtgefahr. Seine Amtsgeschäfte muss er allerdings ruhen lassen. Bis dahin wird seine Stellvertreterin Madame Levy die mairie übernehmen, das hat der Gemeinderat vorhin beschlossen.«
Penelope drehte ihr Glas in der Hand. »Darf er seine Frau im Krankenhaus besuchen?«
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte der Commissaire. »Marechal hat glaubwürdig dargelegt, dass er ihren Sturz nicht verursacht haben kann, er hatte ja die ganze Zeit seine Kinder im Auto dabei. Die Kassiererin des Super U hat inzwischen seine Aussage bestätigt. Sie sagte, die Sorge um seine Frau sei deutlich zu spüren gewesen.«
»Und ich dachte, wir hätten den Fall gelöst.« Luc seufzte. »Wenn er es nicht war, wer hat Elodie Marechal dann von der Plattform gestoßen?«
In diesem Moment brachte ein Kellner die Vorspeisenvariationen an den Tisch: charcuterie, schwarze Tapenade, Auberginencreme, artichauts marinés, Sardinen-Rillettes und confit de tomates. Und für den Commissaire einen mesclun, gemischten Pflücksalat, zu dem Lechat eine Portion Meeresfrüchte geordert hatte, die er nun über dem Grün verteilte.
Eine Weile war es still am Tisch. Ein jeder war damit beschäftigt, sich Vorspeisen auf den Teller zu füllen. Pierre bestrich eine Baguettescheibe mit Sardinen-Rillette, das hervorragend schmeckte. Er liebte diese Variante, die salzig-würzige Note, kombiniert mit der Säure der Zitrone und der leichten Schärfe des piment d’espelette. Und doch schob er den Teller nach wenigen Bissen von sich.
Er hatte einfach keinen Appetit. Und das wollte etwas heißen. Das Bild der am Boden liegenden Elodie ging ihm nicht aus dem Kopf.
Nachdem er das Haus der Marechals verlassen hatte, hatte er die Église Saint-Michel besucht, um eine Kerze für die Verunglückte anzuzünden und für die beiden Kinder zu beten, obwohl er alles andere als gläubig war. Aber es hatte ihm geholfen, seine innere Ruhe einigermaßen wiederherzustellen.
Dann war er in die Wache gegangen, wo Luc gerade den Ausdruck eines Fotos an der Stellwand befestigte, das er während seines und Feneches Besuches bei den Pannetiers gemacht hatte.
Es zeigte den Orden, den Elodie Marechal ihrem Vater gebracht hatte. Eine vergoldete Medaille mit dem Abbild eines französischen Soldaten, dessen Helm mit einem Kranz aus Eichenblättern geschmückt war. Gehalten wurde die Medaille von einem roten Moiré-Band mit einem breiten hellblauen Streifen in der Mitte und schmaleren weißen an beiden Seiten. Daran ein goldfarbener Verschluss mit der Prägung Algérie.
»Siehst du?«, hatte Luc gesagt. »Sie hat ihm einen Orden vorbeigebracht. Thierry Pannetier hatte ihn vermisst und war froh darüber, dass seine Tochter ihn rechtzeitig vor dem Gedenktag zur Ausrufung des Waffenstillstandes gefunden hat. Der ist nämlich schon morgen.«
»Und habt ihr sonst noch etwas herausbekommen?«
»Nein. Als wir ihn nach seiner Zeit in Algerien fragten, hat er sofort gemauert. Danach ging gar nichts mehr.«
Das ist nur verständlich, dachte Pierre und musterte Luc, der ihm jetzt am Tisch gegenübersaß und mit Genuss eine öltriefende Artischocke aß, als wäre nichts geschehen.
Ihm hingegen schlug das Thema dieses Falls auf den Magen. Er hasste Gewalt und Brutalität, das war schon immer so gewesen. Und dieser Krieg, über den sie alle naselang sprachen, hatte das Schlechteste in den Menschen hervorgebracht.
Pierre trank einen Schluck Rotwein, der sich warm in seinem Bauch ausbreitete und allmählich das flaue Gefühl vertrieb. Sodass er sich nun eine neue Scheibe Baguette angelte und mit Auberginencreme bestrich, die dem Geschmack nach viele schwarze Oliven enthielt und noch mehr Knoblauch.
Die Lieutenante nahm als Erste den Faden wieder auf. »Die Frage ist doch, wer von dem Mord an Gilbert Langlois profitiert. Wenn Maurice Marechal die Tat nicht begangen oder beauftragt hat, wer dann?«
»Was ist eigentlich mit seinem Bruder Frédéric?«, fragte Pierre, an Robert Lechat gewandt. »Haben die Kollegen aus Carpentras den Hof heute durchsucht?«
»Ja, sie waren vor Ort«, erzählte der Commissaire. »Es war kein einziger illegaler Einwanderer mehr da. Weder im Lager noch im Haupthaus, noch im Wohngebäude des hinzugekauften Hofes. Sie sind zu spät gekommen. Aber die Kollegen bleiben dran.«
Pierre nickte. Das war zu erwarten gewesen. Nicht nur, weil der Informant aufgeflogen war. Gewiss hatte auch sein Besuch dort einen Teil dazu beigetragen. »Haben die Kollegen auch Marechals Alibi und das seines Schwagers für den Tattag überprüft?«
»Ja, das haben sie. Alle Angaben haben sich bestätigt. Wobei man zugeben muss, dass ein Teil der Aussagen von der eigenen Familie bezeugt wurde.«
»Und wenn sie einen dieser Harragas mit dem Mord beauftragt haben?«, fragte Luc und strahlte, als habe er soeben den Heiligen Gral gefunden. »Das liegt doch nahe, oder etwa nicht?« Er rollte eine Scheibe Wildschweinschinken mit Pfefferrand zusammen und steckte sie sich in den Mund. »Bäm!«, sagte er kauend. »Nun müssen wir nur noch die untergetauchten Einwanderer finden.«
»So falsch ist der Gedanke nicht«, sagte der Commissaire.
»Aber«, warf Penelope ein, sie hatte die Stirn gerunzelt, »die Tat war doch, wie wir bereits festgestellt haben, viel zu emotional für einen Auftragskiller. Es wirkte eher wie eine persönliche Abrechnung.«
Lieutenante Fenech musterte sie kühl. »Man kann einen Auftragskiller auch instruieren, dass die Tat hinterher danach aussieht, als gebe es eine hohe Emotionalität.«
»Trotzdem«, sprang Pierre seiner Schreibkraft bei, »ist der Täter das Risiko eingegangen, erkannt zu werden, indem er seinen Wagen auf dem öffentlichen Parkplatz abstellte. Das lässt auf eine spontane Handlung schließen.«
»Und wenn der Täter gar keinen Wagen besitzt?«, konterte Fenech. »Ein Zweirad könnte man problemlos im Gestrüpp verbergen. Vielleicht besitzt ja dieser Waldarbeiter Yanis Vallon eines. Der hat auch kein Alibi«
»Der war es nicht, der ist viel zu jung«, Penelope zog einen Notizzettel aus der Jackentasche. »Ich habe vorhin noch einen Anruf entgegengenommen, weshalb ich zu spät gekommen bin. Der Fahrer eines Motorrollers sagte aus, dass er dem braunen Peugeot des späteren Mordopfers auf der Waldzufahrt begegnet sei. Das war gegen ein Uhr. Langlois habe ihn beinahe mit dem Wagen umgenietet, behauptete der Mann.«
Pierre setzte sich gerade auf. Die Ermittlungen waren wirklich voller Überraschungen. »Wer ist dieser Zeuge?«
»Ein Sportler, seine Disziplin ist das Crosslaufen, bei dem man querfeldein über profiliertes Gelände rennt. Er sagte, er trainiere bei jedem Wetter. Dieses Mal habe er den Lauf jedoch abgebrochen, weil der Boden zu matschig wurde. Aber jetzt kommt das Interessante: Er berichtete mir, dass er die Tüte mit seinen Laufschuhen an dem Baumstumpf vergessen hatte, an dem er sie auszog, und er kehrte noch einmal zurück, um sie zu holen. Da hat er einen weiteren Jogger im Wald bemerkt. Das war etwa eine halbe Stunde später.«
Es war jetzt ganz still am Tisch. Alle Augen waren auf Penelope gerichtet.
»Er sagte«, fuhr sie fort, »er habe den anderen nur aus dem Augenwinkel gesehen. Er sei schon älter gewesen, so viel sei sicher, wobei der Zeuge das genaue Alter nicht schätzen konnte. Ihm sei bloß aufgefallen, dass der Mann ohne Regenschutz unterwegs war, nicht einmal eine geeignete Jacke hatte er an, nur einen Pullover. Klitschnass sei er gewesen, förmlich bis auf die Haut. Das unterstreicht die Annahme«, Penelope bedachte Lieutenante Fenech mit einem triumphierenden Blick, »dass es ein spontaner Entschluss des Mörders war. Kein geplanter Akt.«
Pierre rieb sich das Kinn. »Wie alt ist der Zeuge?«
»Dreiundzwanzig«, antwortete Penelope.
»Dann kann die Einschätzung, der andere Mann sei schon älter, alles Mögliche bedeuten. Von vierzig bis ins Seniorenalter ist alles drin.«
»Ich hab’s«, giggelte Luc. »Es war doch eine Verschwörung der Dorfgemeinschaft. Und Carbonne, dem so etwas wie Regenjacken vollkommen fremd sind, war der Mörder.«
Die anderen sahen ihn entnervt an. Bis auf Fenech, wie Pierre auffiel. Die betrachtete ihn eher auf eine sezierende Art. So als sei er ein Versuchstier im Labor.
Der Kellner brachte die Hauptspeisen. Zweimal gegrilltes Entrecôte mit Anchovibutter und frites maison, einmal Seehechtfilet mit Zitrone und Basilikum, vegetarische papeton d’aubergines und bœuf en daube, den gut durchgezogenen und mit Landbrot servierten provenzalischen Schmortopf. Der war für Pierre, dem beim Anblick der über Stunden gekochten und mit Speck, provenzalischen Kräutern und Oliven aromatisierten Rindfleischstücken das Wasser im Mund zusammenlief.
»Ich denke«, sagt Commissaire Lechat, während er seine vegetarische Auberginenterrine zerteilte, »wir beenden für heute die Besprechung und genießen diese Köstlichkeiten. Das nächste Treffen setze ich für den morgigen Sonntag an, um elf Uhr in der Wache. Dann sehen wir weiter.«
Pierre hatte sich nach dem Essen von den anderen verabschiedet und war durch die dunkle Nacht zu seinem Dienstwagen gegangen, der vor der Wache geparkt stand. Er hatte entschieden, mit dem Auto nach Hause zu fahren. So, wie er es früher auch immer getan hatte. Marechals Stellvertreterin hatte gewiss nichts dagegen.
Er öffnete die Fahrertür. Schloss sie wieder.
Es wurmte ihn, dass sie nichts Konkretes in der Hand hatten. Vielleicht hatten sie etwas übersehen oder einen losen Faden nicht verknüpft, der den entscheidenden Hinweis brachte.
Er ging zu dem Fenster der Wache und blickte auf den Rücken der Stellwand, die noch immer so stand, wie er und Luc sie verlassen hatten. Kurzentschlossen entriegelte Pierre die Tür und machte Licht. Er stellte sich vor die vollgepinnte Wand, betrachtete die angehefteten Karten und Zeichnungen und ging noch einmal alle Personen und Uhrzeiten durch.
Die Tatzeit, rekapitulierte er erneut, lag zwischen dem Anruf von Didier Carbonne um 13:37 Uhr und dem Moment um 16:00 Uhr, als zwei Jäger den Parka des Ermordeten im Bach entdeckten. Gut zweieinhalb Stunden, in denen die Schleusen des Himmels weit geöffnet waren.
Der Regen hatte sämtliche Spuren davongespült. Alles, was sie in Langlois’ Wohnung gefunden hatten, war eine Geldkassette mit den Namen und Beträgen der Erpressungsopfer, eine Pinnwand mit seinem eigenen Konterfei und das herabgefallene Foto von der Trüffelfarm. Dazu kam das inzwischen überschriebene Mobiltelefon des Toten, auf dem der Waldarbeiter Vallon Dokumente oder Briefe gesehen haben wollte, die dank der Verbindungsdaten zu den gefälschten Zulassungspapieren von Maurice Marechal geführt hatten. Ein Delikt, für das der Bürgermeister wohl einige Jahre ins Gefängnis wandern würde.
Der Mörder jedoch war noch immer nicht gefunden.
Das Gefühl, den entscheidenden Hinweis übersehen zu haben, verstärkte sich. Pierre fragte sich, ob die anderen das ihm fehlende Detail vielleicht schon einmal ohne ihn im Team besprochen hatten, und ging sämtliche Argumentationsketten noch einmal durch. Fuhr dabei mit dem Finger über die Zeitleiste. Über die auf der Stellwand abgebildeten Personen, die bislang als Täter infrage gekommen waren.
Maurice und Frédéric Marechal. Aziz Bensaid, der gerade von dem Gabelstapler stieg. Didier Carbonne und die anderen Erpressungsopfer aus Sainte-Valérie. Der Waldarbeiter Yanis Vallon. Alles Männer, auf die die Beschreibung des Motorrollerfahrers passen könnte. Bis auf Letzteren.
»Irgendetwas ist hier falsch gelaufen«, flüsterte er.
Pierre trat einen Schritt zurück, fixierte den Plan des Waldgebietes, ebenso die Nadeln auf den Fundorten von Leiche, Auto und Mobiltelefon.
Dann betrachtete er wieder das Bild von dem Orden, die vergoldete Medaille mit dem Abbild eines französischen Soldaten.
Doch er entdeckte nichts, woran er das Gefühl festmachen konnte.