Der Wind riss an den Fensterläden und brachte sie ins Schwingen. Rhythmisch schlug das Holz auf die steinerne Fassade.
Klack-klack, klack-klack.
Pierre fuhr auf und versuchte, sich im Dunkeln zu orientieren. Sein Kopf brummte. Er hatte das Gefühl, gerade erst in den Schlaf gefunden zu haben.
Draußen tobte ein Sturm. Er hoffte, dass es kein Mistral war. Dieser ablandige Fallwind, so besagte eine Legende, blieb immer drei, sechs oder neun Tage. Was nicht stimmte, denn Pierre hatte auch schon andere Rhythmen erlebt, er konnte durchaus auch mal zwei Wochen wehen. Und er brachte eine scharfe Kälte mit sich, die in dieser Jahreszeit recht unangenehm werden konnte. Dabei hatten sich Charlotte und er schon über die steigenden Temperaturen gefreut.
Klack-klack, klack-klack.
Das Geräusch machte ihn noch wahnsinnig. Pierre legte den Kopf seitlich auf die Matratze und schob das Kissen über das freie Ohr, bis das Klacken nur noch ein fernes Puckern war. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken.
Er erinnerte sich, dass er den Abend mit Charlotte auf dem Sofa vor dem Kamin verbracht und ihr von dem Fall erzählt hatte. Von Elodie Marechals möglicherweise tödlich ausgehendem Sturz und von der Verhaftung des Bürgermeisters. Dann war das Gespräch gekippt, ganz plötzlich, er hatte es nicht kommen sehen, obwohl er es, wie er sich nun zugestand, natürlich hätte kommen sehen müssen.
Charlotte hatte angemerkt, dass es sie freuen würde, wenn er sich mit ebensolcher Verve in die Hochzeitsvorbereitungen stürzen würde wie in seine Fälle. Das tue er, sobald die Ermittlungen abgeschlossen seien, hatte er gesagt, und das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
»Und wann soll das sein?« Sie sah ihn an, sehr ruhig, aber er konnte spüren, wie es in ihr brodelte. »Es geht doch um unsere Hochzeit. Sie ist mir wichtig. Dir etwa nicht?«
»Doch natürlich ist sie das«, sagte Pierre und atmete tief ein und aus, weil er solche Gespräche hasste. »Aber ich bin mit den Gedanken gerade woanders. Ich kann da nicht einfach umschwenken und an andere Dinge denken, so wichtig sie auch sind. Vertrau mir, Charlotte, der Fall steht kurz vor dem Abschluss.«
»Und wenn nicht? Wir können nicht länger warten.« Charlottes grüne Augen waren jetzt ganz dunkel. »Unsere Option für die Domaine des Grès läuft am Montag aus. Und von Monsieur le directeur Boyer weiß ich, dass es bereits eine Warteliste für den Tag gibt.«
»Das erzählen alle Gastronomen«, winkte Pierre ab. »Sie wollen Druck ausüben, damit man sich entscheidet.«
Sie richtete sich auf und setzte sich ganz nach vorne auf die Sofakante. »Wir müssen uns auch entscheiden. Alleine wegen unserer Gäste. Sie wollen Hotels buchen und sich den Termin in den Kalender eintragen. Wir schieben das Thema nun schon seit Wochen vor uns her, lange vor dem neuen Fall, wir müssen endlich zu einem Ergebnis kommen.«
»Du willst eine Entscheidung? Na gut!«, fuhr er sie an. Im selben Moment bereute er seine Heftigkeit, doch Charlotte hatte recht. Sie mussten endlich offen über die Sache reden. »Ich sage dir, warum wir zu keinem Ergebnis kommen. Du hast dich längst darauf festgelegt, in der Domaine des Grès zu feiern und wartest die ganze Zeit nur darauf, dass ich zustimme, ich aber möchte das nicht. Es ist ein Luxushotel, und es ist mir unangenehm, so viel Geld auszugeben, das ich darüber hinaus nicht selbst verdient habe. Wie sieht das denn aus? Was soll unser Didier Carbonne dazu sagen, der sich nicht einmal ein normales Mittagessen leisten kann und verbeulte Benzinkanister für zu kostbar hält, um sie fortzuwerfen. Er wird denken, wir werfen das Geld, das er in fünf Jahren nicht bekommt, an einem einzigen Abend zum Fenster hinaus.«
Endlich war es aus ihm herausgebrochen, und sein Atem ging schnell, weil er während des Redens fast vergessen hatte, Luft zu holen. Charlotte sah ihn überrascht an, ihre Mundwinkel zuckten.
»Es geht dir also ums Geld.«
»Ja, natürlich«, entgegnete er, inzwischen wieder etwas ruhiger. »Selbstverständlich weiß ich einen gewissen Luxus zu schätzen, aber, wie gesagt, ich will ihn mir selbst erarbeitet haben, und er muss angemessen sein.«
»Ich habe das Geld dafür selbst erarbeitet, Pierre«, erwiderte sie. »Wenn wir heiraten, dann sind wir ein Team. Und hätte es dein Stolz zugelassen, dann hätte ich die Miete von Anfang an auf dein Konto überwiesen und du hättest die Feier aus eigener Tasche zahlen können.«
»Darum geht es gar nicht.«
»Doch, genau darum geht es.« Charlottes Stimme trug ein Beben in sich. Noch immer hatte sie ihre Wut unter Kontrolle, das spürte er genau, aber sie stand kurz vor dem Ausbruch. »Du verlangst von mir, dass wir die Feier deinem Geldbeutel anpassen sollen. Nur was ist mit mir? Soll ich meinen Traum von einem rauschenden Fest in elegantem Ambiente vergessen, nur weil dein Stolz dem im Wege steht? Stattdessen willst du unsere Hochzeit in einem Partyzelt feiern, als wäre es ein beliebiges Sommerfest. Was kommt als Nächstes? Flitterwochen auf dem Campingplatz?«
Die letzten Worte hatte sie laut gerufen. Sie war aufgebracht, wie er sie noch nie gesehen hatte. Und gleichzeitig stand in ihrem Gesicht so etwas wie Verzweiflung. Resignation.
Pierre seufzte tief. Das Gespräch hatte etwas Grundsätzliches bekommen. Nun gut. Besser, sie klärten es jetzt, vor der Hochzeit. Bevor es zu spät war. »Was bedeutet Geld für dich, Charlotte?«
»Die Wertschätzung meiner Arbeit und der Lohn für das unternehmerische Risiko, mit dem alles steht und fällt.« Sie schüttelte den Kopf. »Deine Frage klingt, als sei ich abgehoben. Ein Luxusweibchen, das sich über Statussymbole definiert. So ist es nicht.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Aber so gemeint, stimmt’s?« Charlotte seufzte. »Ich verstehe deinen Einwand wegen Carbonne. Meine Eltern hatten keinen Cent, als sie sich selbstständig machten, nur ihre Arbeitskraft und den unbedingten Willen, das Schicksal anzupacken. An manchen Tagen wussten sie nicht, wie sie das Brot bezahlen sollten, das sie mir für die Schule schmierten, oder den Ranzen kaufen und die vielen Bücher. Doch sie haben es geschafft, mit der Kraft ihrer eigenen Hände. Genauso wie ich das, was ich verdiene, mit meinen eigenen erschaffe, mit viel Fleiß und harter Arbeit.«
Sie nahm ihr Weinglas und trank einen Schluck, während sie nach Worten rang. Im Licht des flackernden Kaminfeuers nahmen ihre braunen Locken den Ton von flüssiger Bronze an, und Pierre dachte, wie schön sie doch war in ihrer Wut.
»Geld bedeutet für mich Unabhängigkeit«, fuhr sie fort. »Die Möglichkeit, frei und ohne Zwang zu entscheiden und das Leben über die vielen arbeitsreichen Stunden hinaus zu genießen. Es ist eine Wertschätzung meiner Schufterei, sozusagen eine Belohnung.« Sie stellte das Glas ab. »Wofür arbeite ich denn so viel, verdammt? Was soll ich denn mit dem Geld, wenn wir es nicht gemeinsam ausgeben? Wie«, jetzt sah sie ihn ernst an, »soll das denn erst werden, wenn wir verheiratet sind?«
»Charlotte …«
»Nein, Pierre, lass mich ausreden. Ich habe lange darüber nachgedacht, warum wir an einem geeigneten Ort für das Hochzeitsfest scheitern. Es mag daran liegen, dass wir unterschiedliche Vorstellungen haben, aber ich denke, das Problem geht tiefer. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht keine so gute Idee ist zu heiraten.«
»Wie bitte?« Nun richtete sich auch Pierre kerzengerade auf und rutschte vor, sodass er neben ihr auf der Sofakante saß. »Das verstehe ich jetzt nicht. Du warst doch diejenige, die die ganze Zeit heiraten wollte.«
»Genau. Ich wollte heiraten, und du hast dich sozusagen mitreißen lassen, obwohl du dich eigentlich nie fest binden wolltest. Das hast du immer gesagt, erinnerst du dich? Aus Angst um deine Unabhängigkeit. Und trotzdem hast du mir einen Antrag gemacht, dafür danke ich dir sehr.« Sie lächelte, als stünde in diesem Moment ihr Entschluss fest. »Vielleicht hattest du ja von Anfang an recht. Warum müssen wir eigentlich heiraten? Wir sind doch auch so glücklich.«
Er strich ihr über die Hand. Ihre Haut war ganz zart, und ihm wurde sehr seltsam zumute. »Aber ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, sagte Charlotte.
Lange saßen sie vor dem Kamin und sahen schweigend in das prasselnde Feuer, die Finger fest ineinander verschlungen. Bis ihre Hände zu wandern begannen, über Münder und Haare, unter Pullover, Shirts und in Hosen und sie sich liebten, als müssten sie sich gegenseitig versichern, dass es kein Ende, sondern nur ein neuer Anfang war.
Doch als sie endlich schlafen gingen und Pierre mit offenen Augen und pochendem Herzen neben Charlotte im Bett lag, drängte der Fall wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins. Das Gefühl eines noch zu greifenden Gedankens war plötzlich wieder sehr präsent. Über Stunden hatte er sich im Bett gewälzt und war die vielen Gespräche durchgegangen, die er mit den unterschiedlichsten Beteiligten geführt hatte. Immer und immer wieder. Hatte vergeblich auf eine Eingebung gewartet, die ihm dieses Gefühl, etwas übersehen zu haben, erklärte.
Er schob das Kissen vom Kopf. Ganz still lag er da und lauschte dem Klappern der Fensterläden. Und dem Jaulen des Windes, der über den Hof fegte und sich irgendwo verfing.
Plötzlich erkannte er, was ihn die ganze Zeit unterbewusst beschäftigt hatte.
Woher wusste der Täter eigentlich, dass Gilbert Langlois der anonyme Erpresser war? Und – was noch viel wichtiger war – woher wusste er, dass er sich genau zu diesem Zeitpunkt im Wald an dem Bach unterhalb des Weges aufgehalten hatte?
Es war eine entscheidende Frage, die sie im Team seines Wissens noch gar nicht diskutiert hatten. Dabei konnte sie dazu beitragen, den Täter – wer auch immer es letztlich war – zu überführen.
Pierre richtete sich auf und setzte die nackten Füße auf den Steinboden. Leise, um Charlotte nicht zu wecken. Dann griff er nach seinem Handy und schlich im Licht des Displays aus dem Zimmer. Ging über die dunkle Treppe nach unten ins Erdgeschoss.
Es war Sonntag, der neunzehnte März, sechs Uhr zehn.
Weil es draußen noch zu dunkel war, schaltete Pierre das Licht in der Küche an. Er machte sich einen Kaffee, fügte einen anständigen Löffel Zucker hinzu und trank. Wartete, bis die Süße seine Gehirnzellen vollständig aktiviert hatte.
Jetzt waren sie hellwach.
Es gab nur zwei Personen, die wussten, wann und wo Didier Carbonne das Geld hinterlegen sollte. Carbonne selbst und Madame Duprais, die den Uhrmacher erst darauf gebracht hatte, wer hinter der Erpressung steckte. Sie hatte Gilbert Langlois abpassen und Carbonne über dessen Ausfahrt informieren sollen, damit er den ehemaligen Polizisten mit seinem Anruf direkt am Ort der Übergabe überraschen konnte.
Doch nicht nur Madame Duprais hatte sich auf die Lauer gelegt, sondern auch der Mörder. Der war zum Wald gefahren, hatte den Wagen auf dem Parkplatz abgestellt und womöglich verborgen hinter den Bäumen darauf gewartet, dass der Erpresser sich seinen Lohn abholte.
Es war offensichtlich, von wem der Täter sein Wissen um den Ort und den Zeitpunkt der Übergabe hatte. Von Didier Carbonne, der lieber einen Besen verschluckt hätte, als zuzugeben, dass er erpresst wurde, ganz sicher nicht. Der war erst mit der Sprache herausgerückt, als die Lieutenante ihn mit auf die Dienststelle nach Cavaillon genommen und über Nacht dabehalten hatte. Am nächsten Morgen hatte er sich dann auf dem Bouleplatz vor allen Anwesenden mitgeteilt.
Madame Duprais hingegen konnte nichts für sich behalten.
Kurzerhand wählte Pierre den Anschluss der Witwe. Er sah auf die Uhr, während das Freizeichen ertönte. Es war 6:27 Uhr.
»Monsieur Durand! Wissen Sie eigentlich, wie früh es ist?«
Madame Duprais hatte seine Nummer offenbar eingespeichert. Trotz ihrer Empörung klang sie frisch wie der junge Morgen.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich brauche dringend Ihre Hilfe. Es geht um den Mordfall Gilbert Langlois.«
»Meine Hilfe?«, krähte sie, und es klang ein wenig misstrauisch.
»Sie haben von Didier Carbonne erfahren, wann und wo er das Geld im Wald hinterlegen sollte, und ich möchte nun wissen, wem Sie noch davon erzählt haben.«
»Monsieur le policier «, kam es gedehnt. »Ich tratsche doch nicht.«
»Natürlich nicht.« Pierre verdrehte die Augen. »Aber sollte es Ihnen eventuell doch herausgerutscht sein, rein zufällig natürlich, dann wäre es wirklich ungeheuer wichtig für die Aufklärung des Falls, wenn Sie sich daran erinnern.«
Es war still am anderen Ende der Leitung, Pierre konnte ihr leises Atmen hören.
»Madame«, schob er nach, »Sie müssen keine Sorge haben, dass Sie sich damit schuldig gemacht haben. Ganz im Gegenteil. Wir, die gesamte Polizei, wären Ihnen unendlich dankbar für jede noch so kleine Information, die uns hilft, den Täter zu überführen.«
»Nun denn …« Es folgte wieder eine kurze Pause. »Ich hatte einen Termin bei meiner Friseurin. Madame Farigoule ist ein wahres Goldstück, mit ihr führe ich die anregendsten Gespräche. Eventuell ist mir dabei ganz nebenbei etwas herausgerutscht. Aber Sie glauben doch wohl nicht, dass Madame Farigoule eine Mörderin …«
Pierre konnte sich gut vorstellen, wie es aussah, wenn Madame Duprais etwas »ganz nebenbei« herausrutschte.
»Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte er. »Danke, dass Sie so offen mit mir reden, Sie machen das ganz großartig. Erinnern Sie sich bitte so exakt wie möglich: Was genau haben Sie Madame Farigoule erzählt?«
»Ich … habe mich darüber empört, dass dieser Ex-Polizist ausgerechnet meinen Didier zu erpressen versucht. Fünfhundert Euro hätte er dem Kerl zahlen sollen. Dabei hat er doch nichts außer seine alten Uhren. Ich war schockiert, als ich das erfahren habe, das können Sie mir glauben. Eine solche Schamlosigkeit hätte ich Monsieur Langlois nun wirklich nicht zugetraut.«
»Haben Sie Madame Farigoule auch erzählt, dass Didier nicht vorhatte, das Geld zu zahlen?«
»Na sicher.« Jetzt klang die Alte ganz munter. »Wir haben herzlich darüber gelacht. Zu gerne hätten wir zugesehen, wie Gilbert Langlois in dem Astloch herumwühlt und nur Schmutz und Modder findet. Wir haben sogar kurz überlegt, ihm eine tierische Hinterlassenschaft hineinzutun, aber das erschien uns dann doch zu albern.«
»Und als Sie mit Madame Farigoule herzlich über die Vorstellung von Langlois’ verdutztem Gesicht lachten, haben Sie ihr da auch gesagt, wo genau Didier das Geld hinterlegen sollte und um wie viel Uhr?«
»Das ist gut möglich. Aber sie hat mir Stillschweigen geschworen, und ich vertraue ihr. Für sie lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Sind Ihnen diese Informationen noch bei anderen Gelegenheiten … herausgerutscht?«
»Nein. Das schwöre ich beim Haupt meines verstorbenen Mannes!« Das hatte sehr entschlossen geklungen.
»Ich danke Ihnen, Madame Duprais. Sie haben mir sehr geholfen. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann zögern Sie bitte nicht, mich zu kontaktieren. Einen schönen Tag.«
Madame Farigoule! Mit vor Ungeduld rasendem Herzen wählte Pierre ihre Nummer.
Als der Anrufbeantworter ansprang, sprach er aufs Band und bat um einen baldigen Rückruf. Dann machte er sich einen weiteren Kaffee und stellte sich ans Küchenfenster, während er ihn trank.
Inzwischen zog die Dämmerung herauf, die ersten Vögel begannen ihr Morgenkonzert. Der Hofplatz lag grau vor ihm, übersät von Zweigen, die der Sturm von den Bäumen gerissen hatte. Er dachte an den vergangenen Abend und daran, dass er einen Verlauf genommen hatte, den er so nicht gewollt hatte. Er liebte Charlotte aus vollem Herzen. Und er wollte sich ebenso wenig verbiegen wie sie. Nur: War es richtig, deshalb die Hochzeit abzusagen?
Hastig leerte Pierre die Tasse. Er konnte diese Frage jetzt nicht klären. Ebenso wenig konnte er länger untätig herumstehen und auf Madame Farigoules Rückruf warten, er brauchte dringend eine Antwort. Er schrieb Charlotte eine knappe Nachricht, obwohl ihm eine ganze Kiste voll Liebesschwüre einfiel.
Liebe Charlotte, notierte er auf einen Zettel, ich muss kurz weg. Lass uns heute Abend noch einmal in Ruhe über alles reden.
Dann fuhr er mit dem Wagen ins Dorf.
Doch auch auf sein ausdauerndes Klingeln an der Haustür der Friseurin hin rührte sich nichts.
Pierre trat einen Schritt zurück und sah zu ihrer Wohnung hinauf, die eine Etage über dem Salon lag. »Madame Farigoule, sind Sie zu Hause? Machen Sie bitte die Tür auf. Madame Farigoule!«
Irgendwo öffnete jemand ein Fenster. »Hören Sie auf, hier rumzubrüllen«, schrie ein Mann. »Es ist Sonntag!«
»Ruhe, verdammt«, rief eine andere Stimme. »Ich will schlafen!«
Stirnrunzelnd sah Pierre auf die Uhr. Es war gerade erst sieben. Er konnte die Leute gut verstehen. Auch er selbst bekam sonntags vor zehn keinen Fuß aus dem Bett. Auszuschlafen war für ihn das Highlight des Wochenendes.
Normalerweise.
Gedankenverloren betrachtete er das Schaufenster des Friseursalons, starrte auf das Werbeplakat mit der grauhaarigen Dame, deren extravaganter Schritt – ein voller Hinterkopf und auslaufende Fransen – typisch für Madame Farigoule war, die normalen Frisuren einfach nichts abgewann. Dann beschloss er, sich etwas vom Bäcker zu holen und es von der Wache aus noch einmal telefonisch zu probieren. Er kaufte ein Croissant und ein pain au chocolat und überquerte gerade die wie ausgestorben vor ihm liegende Place du Village, als ihn ein Gedanke überfiel wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Er kannte diese Frisur. Es wäre doch möglich, dass …
Pierre blieb stehen und sah in den wolkenlosen Himmel, der inzwischen vom Orangerot der aufgehenden Sonne gefärbt war. Still stand er da, konzentrierte sich ganz auf die Gedanken, die nun auf ihn einströmten. Eine leere Plastiktüte fegte vom Wind getrieben über den Dorfplatz und umwirbelte seine Beine wie ein tanzendes Gespenst.
Auf einmal wusste er, wie alles abgelaufen war.
Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Die Details hatten doch offen vor ihm gelegen. Alles ergab nun einen Sinn.
Gilbert Langlois’ Motiv war Hass gewesen. Er war getrieben von einer zerstörerischen Rache, bei der die Geldeinnahme wohl eher nebensächlich gewesen war. Sein Hass auf andere hatte sich am Ende gegen ihn gerichtet.
Neun Stiche … Pierre schüttelte den Kopf, als er an die Gewalt dachte, mit der Gilbert Langlois niedergestreckt worden war. Sein erster Gedanke am Tatort war gewesen, dass der Täter sicher eine enorme Wut im Bauch gehabt hatte. Aber es war mehr als das. Penelope hatte recht, es ging um Vergeltung. Die gegenwärtigen Ereignisse waren nur der Auslöser gewesen. Der Grund für den Gewaltausbruch lag in der Vergangenheit.
Er rief seine Schreibkraft an, sie nahm sofort ab. Ihre Stimme klang hellwach.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte er. »Du hast doch bei deiner Recherche zur geheimen Militäreinheit OAS auch Personallisten erhalten. Wo sind diese Listen?«
»Auf meinem Dienstcomputer. Das Archiv hat sie eingescannt, ich habe einen Zugangscode bekommen.«
»Wie schnell kannst du auf der Wache sein?«
»Gib mir zwanzig Minuten.«
»Gut«, sagte Pierre. »Wir sehen uns gleich.«
Während er weiterging, wählte er Robert Lechats Privatnummer. Seine ausgesprochen ausgeschlafen klingende Frau meldete sich. Ihr Mann sei gerade joggen, er melde sich, sobald er zurück sei.
»Es sei denn, es ist dringend. Dann fahre ich seine Laufstrecke mit dem Auto ab.«
»Nicht nötig«, beendete Pierre das Gespräch. »Aber er soll zurückrufen, sobald er durch die Tür ist.«