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Wäre es ein Mistral gewesen, dann hätte es jetzt noch immer gestürmt. Dieser Wind dagegen, bemerkte Pierre, als er die Landstraße in Richtung Avignon entlangraste, war weniger kalt. Und auch, wenn er noch immer durch Zweige und Gras blies, so hatte er doch merklich an Kraft verloren. Ganz im Gegensatz zu ihm selbst, der das Gefühl hatte, einen ganzen Sturm im Herzen zu tragen.

Pierre fuhr gerade unter der Brücke hindurch, die über die Autoroute de Soleil hinwegführte, als ein Anruf einging. Er nahm ihn an.

Im Hintergrund war das Getöse einer Kapelle zu hören.

»Wir stehen im Jardin de Doms, direkt am Monument aux Morts «, verkündete Lechat. »Thierry Pannetier ist nicht bei der Zeremonie. Sie beginnt in dieser Minute. Wir haben die Kollegen aus Avignon informiert und ihn zur Fahndung ausgeschrieben.«

»Verdammt.« Pierre setzte den Blinker und fuhr rechts ran. »Was ist mit der Klinik, in der Elodie Marechal liegt?«

»Ich habe den Sicherheitsbeamten bereits instruiert, ein besonders wachsames Auge auf die Patientin zu werfen. Ist jemand bei Madame Pannetier?«

»Ja«, antwortete Pierre. »Brigadier Chevallier ist vor Ort.«

»Gut.« Lechat wirkte erleichtert. »Ich schicke einen weiteren Beamten hin, falls Pannetier nach Hause kommen sollte. Wir bleiben hier, bis die Veranstaltung zu Ende ist.«

»Alles klar.« Pierre dachte kurz nach. »Was für einen Wagen fährt Pannetier?«

»Einen weißen Lexus UX

Sie verabredeten, sich kurzzuschließen, sobald es Neuigkeiten gab, dann beendeten sie das Gespräch. Sofort rief Pierre Luc an. Er war gleich in der Leitung.

»Ja, Chef?«

»Wie geht es Madame Pannetier?«

Sein Assistent seufzte. »Die sitzt im Wohnzimmer und starrt aus dem Fenster. Wie lange soll ich sie denn noch im Auge behalten? Ich glaube, sie will lieber alleine sein. Und ich muss dringend auf Toilette.«

»Du bleibst auf deinem Posten«, befahl Pierre. »Der Commissaire hat einen Kollegen gebeten, dich zu unterstützen, er trifft sicher bald ein.« Er atmete tief durch. »Thierry Pannetier ist verschwunden. Vielleicht kannst du aus seiner Frau herausbekommen, wo er hingefahren sein könnte.«

»Jawohl, ich gebe mein Bestes.« Luc klang zu allem entschlossen.

Pierre legte auf und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.

Was hatte Thierry Pannetier davon abgehalten, zur Gedenkfeier zu fahren? Hatte er geahnt, dass er überführt worden war? Woher nur? Er hatte ja selbst erst seit Kurzem Gewissheit. Außerdem war kaum vorstellbar, dass ein derart geradliniger und verwurzelter Mann wie Pannetier sich für eine Flucht entschied. Wo sollte er denn auch hin?

Ein Gedanke durchfuhr ihn. Pannetier hatte sich offenbar kurzfristig entschieden, seine Pläne zu ändern. Und er ahnte auch, warum. Wenn er recht hatte mit seiner Ahnung, dann wusste er genau, wo er nach dem Mann suchen musste.

Wieder war Pierre über die Straßen gerast, den kurvigen Weg den Berg hinauf, an silbrigen Olivenbäumen, Steineichen und Kalksteinflächen vorbei, auf denen robuste Kräuter und Sträucher wuchsen.

Jetzt war Sainte-Valérie zu sehen. Das mittelalterliche Dorf, dessen Stadtmauer sich eng an den Felsen schmiegte, hatte von hier betrachtet etwas Erhabenes. Pierre erkannte die Turmspitze der Église Saint-Michel, die die rostbraunen Dächer der Häuser überragte. Vorne die Aussichtsplattform der Rue du Pontis, über deren Brüstung sich gerade eine Gruppe Touristen beugte, um die vor ihnen liegende Landschaft zu betrachten.

Pierre lenkte den Renault an der Straße vorbei, die durch das alte Stadttor führte, und umrundete das Dorf. Fuhr in einem großen Bogen bis zu der Auffahrt in Richtung der nördlichen Stadtmauer.

Tatsächlich! Auf dem Kiesstreifen seitlich des Weges stand der weiße Lexus UX . Es sprach für Pannetier, dass er nach dem Unfall seiner Tochter nicht zur Tagesordnung übergegangen war. Pierre fiel nur ein Grund ein, warum er hergekommen war: Reue.

Pierre brachte seinen Wagen hinter dem Lexus zum Stehen und stieg aus. An der Stelle, wo Elodie Marechal aufgeschlagen war, hatte man den Boden frisch aufgeschüttet. Durch die dunkle Erde blitzten die hellen Blüten der Buschwindröschen.

Er blickte die steile Felswand hinauf zur Plattform und tastete nach dem Holster, in dem die halb automatische Glock 17 steckte. Rasch schrieb er Commissaire Lechat eine Nachricht und bat um sofortige Verstärkung. Dann machte er sich an den Aufstieg.

Thierry Pannetier saß auf der Bank. Den Rücken angelehnt, die Augen geschlossen. Die Hände gefaltet, genau so, wie es seine Tochter getan hatte, als Pierre sie hier gestern Vormittag traf. Seine Jacke bauschte sich im Wind.

Pierre setzte sich stumm neben ihn.

»Monsieur Durand?«, sagte Pannetier leise, ohne die Augen zu öffnen.

»Ja. Ich bin hier, um Sie festzunehmen. Die Kollegen der police nationale treffen jeden Augenblick ein.«

»Ich habe geahnt, dass Sie kommen würden.«

»Woher?«

»Nennen Sie es Intuition.«

Er öffnete die Augen. Sie waren stumpf. Als wäre das Feuer in ihnen erloschen. »Wie haben Sie es herausgefunden?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Pierre. »Sie wussten, dass Ihre Tochter sich mir anvertrauen wollte, nicht wahr?«

Pannetier nickte. »Elodie ist viel zu gut für diese Welt. Genauso wie Marlène. Die beiden glauben, man könne das Böse aussperren, wenn man sich nur den Hindernissen des Lebens stellt und Gutes tut, um etwaige Dämonen zu besänftigen. Doch die Welt schert sich nicht darum. Sie ist grausam, selbst zu guten Menschen. Und trotzdem halten die beiden an ihren ehernen Werten fest. Ist das nicht unfassbar naiv?« Er lachte auf. »Elodie war der Meinung, ich sollte für meine Tat ins Gefängnis gehen.«

»Wollten Sie Ihre Tochter deshalb in den Tod stürzen?«

»Ich wollte sie nicht verletzen!«, stieß Pannetier aus. Dann atmete er tief durch und sah in Richtung der Mauer, über die seine Tochter am Tag zuvor gestürzt war. »Ich habe nur versucht, es ihr auszureden.« Aus seiner Stimme klang ein tiefer Schmerz. »Dabei bin ich wohl etwas zu energisch geworden. Ich habe sogar die Hand gegen Elodie erhoben, das gebe ich zu. Ich habe gehofft, sie mit väterlicher Strenge zur Raison zu bringen. Dabei hat sie einen Schritt nach hinten gemacht und ist ins Straucheln gekommen. Ich habe noch nach ihrer Hand gegriffen, aber es … Es war zu spät.«

Pierre nickte. »Warum sind Sie nicht bei ihr geblieben und haben den Rettungsdienst gerufen?«

»Ich habe eine Stimme gehört, Schritte. Da bin ich in Panik geraten. Als ich meine Tochter dort unten liegen sah, dachte ich, sie wäre tot.«

Sein Atem ging schwer. Das Gesicht war grau vor Gram. Pierre dachte, dass Elodies Tod die schlimmste Strafe für sein Tun wäre. Und er hoffte, dass Pannetier unrecht hatte mit seinem Glauben an die Grausamkeit der Welt. Und dass das Schicksal mit Elodie Marechal ein Einsehen hatte.

Jetzt sah Pannetier ihn wieder an. »Um Gilbert Langlois ist es nicht schade. Er ist genauso skrupellos wie sein Vater. Ein Menschenleben ist ihm nichts wert.«

Pierre hielt dem Blick stand. Das war keine reine Feststellung gewesen. In Thierry Pannetiers Satz schwang auch die Bitte um Verständnis mit. Ein solcher Moment kam äußerst selten bei Verhören vor, aber wenn, dann war es oft wie ein Dammbruch. Eine herausquellende Flut, verursacht durch das schlechte Gewissen, das nach Entlastung schrie. Nach einem Menschen, der zuhörte und am Ende vielleicht sagte, dass alles nicht so schlimm oder zumindest nachvollziehbar wäre. Ganz so leicht konnte er es Pannetier nicht machen. Obwohl er die Gründe sehr wohl verstand.

»Guillaume Langlois war Ihr Befehlshaber, damals in Algier«, sagte er.

Pannetier nickte, und er wirkte nicht erstaunt, dass Pierre darüber Bescheid wusste. »Er hat mich gezwungen, Dinge zu tun, die Ihnen nicht einmal im Traum einfallen würden. Bestialische Dinge. Ich habe Männer kopfüber von der Decke hängen sehen und nackte Frauen, an deren Brüsten die Fallschirmjäger ihre glühenden Zigaretten ausdrückten. Menschen, die ihre Gräber selbst ausheben mussten, bevor man sie abschlachtete. Ich habe in den Schlund der Hölle geblickt.« Sein Atem ging jetzt noch schwerer. »Es gab Kameraden, die haben das nicht mehr ausgehalten. Manche haben sich selbst ins Bein geschossen, damit sie zurück nach Hause konnten. Wer blieb, hat die Bilder nie wieder aus dem Kopf bekommen. Etliche haben sich später in Frankreich das Leben genommen, weil sie die Schuld nicht mehr aushielten. Die Verachtung, die ihnen im eigenen Land von den Friedensbeseelten entgegenschlug.«

»Und Sie?«

»Ich habe versucht, es zu verdrängen. Als mir jemand aus dem Verband erzählte, dass Guillaume Langlois verstorben sei, dachte ich, es wäre endlich überwunden. Ich konnte irgendwann sogar wieder durchschlafen, ohne schweißgebadet aus Albträumen zu erwachen. Ohne das ständige Bild dieses Monsters vor Augen.«

Pierre nickte. »Es hat gewiss viel Kraft gekostet, das alles zu verdrängen«, sagte er leise. »Sie haben sich wieder dem Leben zugewandt, Ihrer Familie. Sie waren stolz auf Ihre Tochter und ihren Mann, einen stattlichen jungen Kerl, der es bis zum Bürgermeister brachte. Auf die zwei Enkelkinder. Und nun kam der Sohn dieses Monsters und drohte, das Leben Ihrer einzigen Tochter zu zerstören. Es machte Sie nicht nur wütend, sondern rasend. Irgendetwas in Ihnen ist ausgetickt. All die Not, die Scham, die Wut spülten wieder an die Oberfläche.«

Thierry Pannetier verzog den Mund. »Als meine Frau mir sagte, wer hinter der Zusendung des Enthüllungsschreibens und diesen Dokumenten steckte, ist alles aus mir herausgebrochen. Jedes Detail hatte ich plötzlich wieder vor Augen, die Schmerzschreie, den Geruch nach verbrannter Haut.« Er lehnte sich zurück und fixierte einen Punkt in der Ferne. »Selbst auf dem Weg zum Wald wusste ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich Langlois gegenüberstehe. Aber als ich aus dem Wagen stieg und fast wie in Trance nach dem Jagdmesser griff, das immer im Kofferraum liegt, war jeglicher Zweifel verschwunden. Ich habe nicht einen Moment gezögert, es zu tun. An jenem Mittwoch habe ich in Guillaumes Augen geblickt. Es war, als wäre ich wieder in Algier. Ich habe es für die vielen Menschen gemacht, die gefoltert wurden, und für all die Kameraden, die daran zugrunde gegangen sind. Jedes Opfer ein Stich.«

»Da haben Sie mit seinem Sohn Gilbert aber den Falschen getroffen«, sagte Pierre energisch. »Abgesehen davon ist es nicht die Aufgabe von Betroffenen, über Menschen zu richten, sondern die der Justiz. Sie sehen ja, wohin es führt.«

Pannetier lachte bitter und sah Pierre wieder an. »Gratuliere, Monsieur le policier. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, das muss ich zugeben. Mein Schwiegersohn hatte unrecht, als er Sie loswerden wollte. Sie sind doch ein sehr guter Polizist. Aber noch mal«, wiederholte er seine Frage, »wie sind Sie auf mich gekommen?«

Pierre lächelte matt. »Es hat alles mit Gilbert Langlois’ Mobiltelefon angefangen, das Sie auf dem Rückweg zum Parkplatz verloren haben. Ein Waldarbeiter hat es gefunden.«

»Ein dummer Fehler, ja. Es muss mir aus der Tasche gerutscht sein, ich habe es erst bemerkt, nachdem ich die Bilder aus Langlois’ Wohnung geholt hatte. Ich bin noch einmal in den Wald gefahren und habe den Weg abgesucht, aber es war ein Ding der Unmöglichkeit. Ich hatte ja keine Ahnung, wo ich das Telefon verloren hatte, und der Regen war immens stark, also brach ich die Suche ab. Ich bin danach noch zweimal hingefahren, aber ich hatte kein Glück.«

»Ihr Schwiegersohn Maurice …«

»Er hat nichts von alldem gewusst. Elodie wollte ihn unbedingt heraushalten. Sie hat die Hoffnung gehegt, die Sache auch ohne ihn lösen zu können, damit ihre Ehe unbelastet blieb. Sie liebt ihren Maurice sehr, wissen Sie? Ich habe es stets respektiert. Meine Tochter, ihr Mann, die Enkelkinder … Die vier und Marlène, sie waren alles, was ich hatte. Für sie wäre ich durchs Feuer gegangen.«

Sie schwiegen. Sahen beide in Richtung des Plateaus de Vaucluse. Am Horizont erhob sich der Mont Ventoux wie ein regungsloser Hüne mit seiner schneeweißen Mütze.

»Was«, fragte Pierre in die Stille, »haben Sie eigentlich gedacht, als Sie all die Fotos von mir an der Pinnwand entdeckt haben?«

»Dass Sie ein ausgemachter Trottel sind.« Pannetier lachte leise. »Ich war der Ansicht, dass mir so ein sichtlich überforderter, verloren aussehender Mann nie auf die Spur kommen würde.«

Pierre schmunzelte. »Tja«, sagte er, »so kann man sich irren.« Er sah dem blauen Leuchten entgegen, das sich nun einen Weg die Auffahrt hinauf bahnte.

Ein Telefon klingelte, es war das von Thierry Pannetier. Nach einem Blick auf das Display nahm er den Anruf mit spürbarer Anspannung entgegen.

»Ja? Wirklich? Wie geht es ihr?« Ein langes Seufzen. »Das ist gut. Sagen Sie ihr, dass wir …« Er warf Pierre einen Blick zu. »Dass ihre Mutter gleich vorbeikommt.«

Pannetier legte auf. Seine Augen leuchteten. Pierre bemerkte, dass Tränen darin schimmerten.

»Ist alles in Ordnung?«

»Das war der Arzt. Elodie ist aufgewacht. Ihre Werte sind stabil, man hat sie aus dem künstlichen Koma geholt. Sie bleibt noch unter Beobachtung, und es wird eine Weile dauern, bis sie entlassen werden kann. Aber der Arzt meinte, sie trägt wohl keinerlei Schäden davon.«

»Das freut mich«, sagte Pierre und er meinte es ehrlich.

Ein Türenschlagen war zu hören, dann eilige Schritte.

Thierry Pannetier erhob sich und sah Pierre auffordernd an. »Wollen wir?«

Pierre nickte und stand auf. »Alors, on y va. «