Die Gestaltung und Vereinbarung von Rahmenbedingungen für die Behandlung ist ein zentraler Bestandteil der therapeutischen Arbeit mit hochdissoziativen Menschen. Die Anforderungen an die Rahmenbedingungen ergeben sich aus den häufig ausgeprägten autodestruktiven Verhaltensweisen und (häufig zustandsabhängigen) herausfordernden Beziehungsmustern von Betroffenen. Die Rahmenbedingungen müssen außerdem regressiven Tendenzen entgegengesetzt sein (vgl. Sachsse 2008).
In dem Maße, wie Ressourcen, Selbstverantwortung und Kompetenzen der Betroffenen konsequent gefördert werden müssen, gilt es, destruktive Tendenzen wie selbst-, fremd- und therapieschädigende Verhaltensweisen konsequent in der Behandlung zu begrenzen, damit grundlegende Veränderungen überhaupt stattfinden können. Die Vereinbarung von stabilen Rahmenbedingungen dient auch dem Schutz anderer Patient*innen und der Schonung menschlicher Ressourcen aufseiten des Behandlerteams.
Betroffene zeigen sich im stationären Setting häufig offener und labiler als im ambulanten Setting. Dies ist aus therapeutischer Sicht auch teilweise erforderlich, damit traumaassoziierte Themen aktiviert werden, die sonst im Alltag sehr stark abgespalten und vermieden werden. Im geschützten Raum des stationären Settings kann durch diese Problemaktualisierung effektiv und nachhaltig an diesen Themen gearbeitet werden. Andererseits gehen mit der Problemaktualisierung häufig auch eine vermehrte Regressionsbereitschaft und die erhöhte Tendenz einher, auf frühere und dysfunktionale Bewältigungsmuster zurückzugreifen. Das stationäre Setting muss daher so gestaltet sein, dass es die vermehrte Offenheit einerseits zulässt, andererseits auf das Erlernen neuer Bewältigungsstrategien und die Übernahme von Eigenverantwortung fokussiert.
In der Klinik am Waldschlößchen, Dresden, wird das vorliegende Skillstraining in verschiedenen Überarbeitungsstufen seit vier Jahren durchgeführt, dort haben sich die folgenden Rahmenbedingungen bewährt.
Vor der stationären Behandlung ist es sinnvoll, Aufnahmebedingungen zu vereinbaren und zu prüfen, ob eine ausreichende Therapiefähigkeit für die spezifische Behandlung vorliegt. Entsprechende Absprachen umfassen Folgendes:
Definierter zeitlicher Abstand zum letzten Suizidversuch
Definierter zeitlicher Abstand zur letzten chirurgiepflichtigen Selbstverletzung; dazu gehört nicht nur die chirurgische Wundversorgung, sondern zum Beispiel auch die Notwendigkeit von Blutkonserven nach selbstinduziertem Aderlass oder die endoskopische Entfernung von verschluckten Gegenständen
Abstinenz von Drogen in einem definierten Zeitraum; bei missbräuchlichem Konsum oder Sucht in der Anamnese sollte ein Zustand nach Entzug sowie ein aktueller laborchemischer Abstinenznachweis vorliegen
Bei der regelmäßigen Einnahme von suchterzeugenden Substanzen wie Tavor oder Opiaten sollte eine Bereitschaft zur Reduktion beziehungsweise zum Absetzen vorhanden sein; wenn mit Entzugssymptomen zu rechnen ist, muss gegebenenfalls im Vorfeld ein Entzug stattfinden
Abstinenz von Alkohol in einem definierten Zeitraum; bei Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit in der Anamnese sollte eine ausreichende Abstinenzzeit und laborchemisch ein aktueller negativer CDT-Wert vorliegen
Ausreichend stabile Gewichtsverhältnisse, zum Beispiel Gewicht über BMI 17,5 oder individuell vereinbartes Mindestgewicht
Keine floriden behandlungsbedürftigen körperlichen Erkrankungen oder unbehandelten schweren körperlichen Begleitsymptome
Beim Vorliegen von schweren Anfällen sollte eine ausführliche Epilepsie-Diagnostik gelaufen sein und gegebenenfalls die Einstellung auf eine antiepileptische Medikation erfolgt sein
Keine akuten Manien oder Psychosen
Bei der Aufnahme werden die Aufnahmebedingungen geprüft und eine Diagnostik wird eingeleitet. Sollte bisher noch kein SKID-D oder TADS-I durchgeführt worden sein, wird dies nachgeholt und damit die Diagnose gesichert beziehungsweise verworfen. Wird nach den DSM-V-Kriterien vorgegangen und wird die Diagnose partielle DIS gestellt, entscheidet der*die behandelnde Therapeut*in über eine Integration in das Skillstraining.
Für die Zeit der Behandlung gelten Abstinenzgebote für Alkohol, Drogen, schwere chirurgiepflichtige Selbstverletzungen. Weitere Behandlungsbedingungen sind eine ausreichende körperliche und psychische Stabilität auch während der Behandlung, sodass durchgehend an den vereinbarten Zielen gearbeitet werden kann.
Zur Reduktion (auto-)destruktiven Verhaltens wird ein Vertrag zum Aufbau neuer und hilfreicher Bewältigungsstrategien abgeschlossen (siehe S. 57). In die Erarbeitung der Verträge werden die Betroffenen aktiv einbezogen. In die Umsetzung der Vereinbarungen werden auch die daran potenziell beteiligten Berufsgruppen wie Pflegepersonal und Ko-Therapie, Ärzteschaft, ärztlicher Bereitschaftsdienst einbezogen, sodass alle potenziell mitbetroffenen Teammitglieder ihre Verantwortungen und Kompetenzen gut koordinieren können und an einem Strang ziehen.
FALLBEISPIEL
Die 30-jährige Patientin hatte einen Vertrag zur Reduktion selbstverletzenden Verhaltens ausgearbeitet, da sie sich in der Vergangenheit in dissoziierten Zuständen schwere Schnittwunden und Verbrennungen zugefügt hatte. Der Vertrag sah unter anderem vor, dass sie sich nach Einsatz verschiedener Skills und Skillketten bei weiter anhaltendem Selbstverletzungsdruck bei der Ko-Therapie melden sollte. Das Team der Ko-Therapie war darüber informiert, dass dem Auftreten von Selbstverletzungen meist ein Wechsel in einen bestimmten kindlichen Anteil vorausgegangen war.
Als die Patientin sich mit starker Anspannung vorstellte, kam es rasch zu einem Wechsel in diesen. Die Ko-Therapeutin erkannte den veränderten Ich-Zustand und konnte gut auf diesen eingehen. Es gelang eine Beruhigung und Reorientierung mit einem Wechsel zurück in den erwachsenen Anteil. Die Patientin begab sich trotz großer Erschöpfung in die Kunsttherapiestunde. Die Kunsttherapeutin, die bereits von der Ko-Therapie über die Situation informiert worden war, griff das Erlebte auf und ließ die Patientin einen sicheren Ort für den kindlichen Anteil gestalten, der für die Patientin in diesem Moment noch gut spürbar war.
In späteren Situationen konnte aufkommender Selbstverletzungsdruck durch die Patientin selbst dadurch reguliert werden, dass sie imaginativ den kindlichen Anteil an diesen sicheren Ort brachte.
Für die Dauer des stationären Aufenthaltes sollten mögliche Krisensituationen von Anfang an thematisiert und antizipiert werden. Das Leben vieler Betroffenen verläuft von Krise zu Krise und personelle Ressourcen können schnell erschöpft sein, wenn es keinen festen Fahrplan zum Krisenmanagement gibt. Außerdem können, wie gesagt, auch andere Patient*innen in Mitleidenschaft gezogen werden.
Mögliche Krisen können sein: schwere dissoziative Anfälle, Flashbacks mit heftigen körperlichen Abreaktionen, Selbstverletzungen, Abgängigkeit durch dissoziative Fugue, schwere somatoforme dissoziative Reaktionen wie Gang- oder Sprachverlust, schwere Schmerzzustände, Switche in desorientierte Persönlichkeitszustände, Suizidalität.
Das Krisenmanagement sollte auf der einen Seite die Eigenverantwortung der Betroffenen adressieren und fördern, auf der anderen Seite spezifische professionelle Unterstützung für die jeweilige Krisensituation zusichern und bereitstellen. Grundlage für ein solches Management ist die genannte Vertragsarbeit.
MERKE
Die vereinbarten Rahmenbedingungen für die Behandlung gelten unabhängig davon, in welchem Zustand ein dysfunktionales Verhalten ausgeübt wird. Eine chirurgiepflichtige Verletzung, die im Rahmen eines dissoziativen Anfalls entstanden ist, wird wie eine chirurgiepflichtige Selbstverletzung behandelt, die in bewusstem Zustand verübt wurde. Die Vereinbarungen adressieren immer die gesamte Persönlichkeit.
Ein weiteres Instrument zur Unterstützung Betroffener bei der Aufrechterhaltung ihrer Therapiefähigkeit und zum Abpuffern von Krisensituationen ist die Verfügbarkeit eines Intensivzimmers. Dieses ist der Pflegezentrale angegliedert und nur durch diese begehbar. Im Intensivzimmer können Betroffene Krisen wie Suizidalität, Selbstverletzungsdruck, schwere dissoziative Zustände, regressive Zustände überbrücken, während gleichzeitig eine Pflegekraft und damit der Kontakt zum therapeutischen Team verfügbar ist.
Für die Nutzung des Intensivzimmers wird im Vorfeld eine Vereinbarung getroffen, an die sich alle Beteiligten (die betroffene Person und das zuständige Personal) gebunden fühlen.