Die letzte Woche habe ich damit verbracht, mich auf das hier vorzubereiten, und mir ist ein wenig schlecht. Schweiß macht meine Handflächen glitschig, als Boreas den Kühlraum aufschließt, der vom Gang zu den Hauptserviceaufzügen abzweigt, und Chill, Poppy und mich hineinscheucht. Chill und ich haben unsere Sparstrümpfe zusammengelegt – Geld, das von unseren Betriebskonten abgeschöpft und von unseren jährlichen Gehältern übrig geblieben ist. Die Hälfte haben wir Boreas gezahlt, damit er uns alle hierherbringt. Die andere Hälfte sorgt für sein Schweigen.
Poppy hat die Arme um sich geschlungen und zittert. Sie bleibt bei der Tür zurück, wirft mir und Chill argwöhnische Blicke zu. Chill sieht mit dem gleichem Maß an Verunsicherung zu ihr zurück. Poppy hat sich zuerst geweigert, uns zu treffen, und erst zugestimmt, nachdem wir ihr erzählt haben, dass uns eine Möglichkeit eingefallen ist, Fleur vor der Eliminierung zu retten. Aber je länger sich die nervöse Stille zwischen uns dreien hinzieht, desto mehr hege ich die Befürchtung, dass sie ihre Meinung ändert.
Die Tür zum Kühlraum fliegt auf, und wir alle zucken zusammen. Amber bleibt abrupt stehen, den einen Stiefelabsatz noch im Gang draußen. Ihr Blick huscht über uns alle hinweg – erst mich, dann Chill, dann Poppy. Eine Frühlingsadmin stellt für sie keine Gefahr dar, aber einen Winter – auch einen, der gerade erst aus der Stasis kommt – sollte sie in einem engen und gekühlten Raum nicht unterschätzen. Die Anwesenheit meines Administrators erhöht das Risiko für sie nur noch.
»Was soll das hier?« Sie wedelt mit der kryptischen Notiz, die Boreas gegen meine Bezahlung zu ihrem Zimmer gebracht hat, ein einzelnes Blatt Notizpapier, das um zwei Ausweise gefaltet war, mit dem handschriftlichen Wort ARIZONA darauf.
Ambers Messerhand zuckt nervös an ihrer Seite, auf gleicher Höhe wie ihre Hüfte. Waffen sind außerhalb der Sparringsräume verboten, aber Amber wäre eine Närrin, wenn sie unbewaffnet zu einem geheimen Treffen mit mir auftauchte.
»Danke, dass du gekommen bist.« Ich halte die Hände so, dass sie sie sehen kann. »Das hier sind Chill und Poppy.«
»Was machen sie hier?«, fragt sie, den einen Fuß weiter strategisch geschickt im Gang platziert.
»Vielleicht hättest du Woody mitbringen sollen, wenn du dir Sorgen machst, mit mir allein zu sein.«
»Wirklich diplomatisch, Jack«, murmelt Chill.
Amber schlendert herein, mustert mich unter dem Vorhang ihres rotbraunen Haars hervor. Es fällt ihr über eine Schulter, bedeckt ihr Ohr. Sie ist verkabelt. Ich hatte nichts anderes erwartet. »Anders als du brauche ich kein Team von Babysittern«, sagt sie gereizt.
Chill murrt vor sich hin, während er Befehle in sein Tablet tippt, sichtlich getroffen von dem Babysitter-Kommentar. Seine Brille sitzt tief auf seinem Nasenrücken, und als er hochsieht, blickt er sie über den leeren Rahmen hinweg böse an. »Woody ist auf dem Weg. Ich hab dein Signal blockiert, als du hier ankamst. Ich wette, er flippt mittlerweile aus, weil du nicht antwortest. Meinen Berechnungen nach, bedenkt man die kürzeste Entfernung zwischen deinem Zimmer und dem Wartungsgang, sollte Woody bei uns sein in …« Er blickt auf sein Tablet. »Drei … zwei … eins.«
Ein Krachen erklingt, weil die Stahltür am Ende der Halle aufschwingt und gegen die Mauer prallt, gefolgt von stürmischen Schritten. Woodys verschlissene Converse kommen schlitternd vor dem offenen Lagerraum zum Stehen, sein langes Haar klebt schweißnass an seinem schmalen Gesicht. Er beugt sich vornüber und atmet zu schwer, um sprechen zu können.
Amber streckt die Hand aus und zieht ihn über die Schwelle. Mit einem Tritt schließt sie die Tür. »Spuck’s aus, Jack. Was soll das hier alles?«
Bis jetzt habe ich mich absichtlich vage ausgedrückt über die Gründe für meinen Wunsch, uns fünf zusammenzubringen. Und das hier – gleich hier und jetzt – ist mein Moment der Wahrheit. Habe ich sie richtig eingeschätzt, fallen jetzt die Dominosteine, die ich aufgestellt habe, in einer perfekten Bewegung um und bilden den Weg hier hinaus. Liege ich jedoch falsch, kann jeder den gesamten Plan um mich herum zum Einsturz bringen. Ich kann es mir nicht leisten, das hier zu versauen.
»Ich habe einen Weg nach draußen gefunden.«
Woody keucht, wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Was meinst du mit ›nach draußen‹? Wovon redet er da …«
Amber hebt eine Hand. »Komm zur Sache«, faucht sie.
»Ich habe mich mit Professor Lyon getroffen …«
»Moment. Du meinst den Professor Lyon?«, fragt Woody, der endlich zu Atem gekommen ist.
»Er soll mich für unsere Versetzung nach Anchorage in der nächsten Saison unterweisen.«
Die Farbe weicht Poppy aus dem Gesicht. »Du verlässt die Mittelatlantik-Staaten?« Ihre Stimme klingt dünn, ist von Sorge gefärbt. Ein neuer Winter stellt eine Bedrohung dar, eine unbekannte Variable in einer bereits unmöglichen Gleichung. Fleur bleibt noch eine Saison vor ihrer Eliminierung. Selbst wenn es ihr irgendwie gelingt, im nächsten Frühling über die rote Linie zu gelangen, so wird jede Veränderung der Routine es nur schwerer für sie machen, auch dauerhaft darüber zu bleiben.
»Wir wissen alle, dass Fleur nicht viel Zeit bleibt. Und wenn eine Jahreszeit Terminiert wird …« Ich räuspere mich, finde es schwerer als gedacht, ihr in die Augen zu blicken und die Worte laut auszusprechen. »Wird eine Jahreszeit Terminiert, wird auch ihre Administratorin Terminiert.« Chills Blick sinkt zu Boden, ohne Zweifel sieht er dieselbe Kehrschaufel vor sich wie ich. »Ich möchte genauso wenig wie du, dass das passiert – dir oder Fleur –, aber vielleicht muss es das auch nicht.«
»Also wirst du uns helfen?«, fragt sie vorsichtig optimistisch. »Du wirst dabei helfen, Fleur aus dem roten Bereich herauszuholen? Denn ich habe mal nachgerechnet«, sagt sie, und ihre Stimme wird lauter, die Worte kommen schneller. »Wenn es mir gelingt, dass sie bis zum ersten März aus dem Observatorium gelassen wird, und sie dich bis zum vierten März tötet, wenn sie dann bis zum zwölften Juni durchhalten kann, dann besteht die Chance, dass ihr Punktestand sie über die rote Linie bringt. Sie muss nur ihre Stimmungen unter Kontrolle halten. Du weißt schon, der Regen … Sie war depressiv. Die Stürme waren …«
»Und was dann?«, frage ich. »Was, wenn sie das nicht schafft? Was geschieht im nächsten Jahr?« Poppys Miene wird betrübt, weil sie es bereits weiß. Doch ihrer Angst wird sie sich nicht stellen – nicht, ehe es zu spät ist. »Jeder Frühling unter dieser roten Linie hat es auf Punkte abgesehen in dem verzweifelten Versuch, sich zu retten. Selbst wenn ich mich frühzeitig von Fleur töten lasse, gibt es keine Garantie, dass es klappt. Doch es gibt eine andere Möglichkeit, euch beide zu retten.«
Poppy schüttelt den Kopf, blickt von mir zu Amber und dann zu Chill. Ich sehe den Augenblick, in dem das Licht angeht und sie begreift, wohin diese Unterhaltung führt. Sie stolpert rückwärts gegen eine Gemüsekiste. »Habt ihr alle den Verstand verloren?«
»Wir sitzen hier nicht fest, Poppy!« Ich ringe den Drang nieder, die Hand auszustrecken und sie zu schütteln. »Wir haben eine Wahl. Es war uns nur nicht klar. Wenn sie es wüsste, könnte sie wählen …«
»Fleur hat keine Wahl!« Ihre Lippe bebt. »Sie muss sich an die Regeln halten. Was immer ihr vorhabt, das wird uns alle umbringen!«
»Nur, wenn sie uns erwischen.«
»Jack.« Ambers Tonfall ist vorsichtig. Ich sehe, wie sich die Rädchen drehen, während sie auf die verheilende Wunde an meiner Lippe starrt. »Ich weiß, was du denkst. Aber was im Trainingsraum passiert ist, beweist gar nichts.«
»Ich kann uns lebend hier rausbringen, Amber. Ich weiß, dass ich das kann.«
»Was meinst du mit ›uns hier rausbringen‹?«, fragt Woody und tritt an Amber vorbei.
Sie streckt eine Hand aus, hält ihn zurück, als ob sie ihn vor mir beschützen wollte. »Eilmeldung, Schneeflocke. Admins kommen hier nicht raus.«
»Sie können nicht zurückbleiben«, sage ich. »Sie sind sicherer bei uns. Weg vom Radar.«
»Was meinst du mit ›weg vom Radar‹?«, fragt Woody über ihren Kopf hinweg. »Ist das überhaupt eine Option?«
»Niemand hat das je gemacht und überlebt. Löst man sich von den Linien, geht man mit dem Wind. Das ist Selbstmord. Jeder weiß das.« Ambers Blick bohrt sich in meinen. Störrisch steht sie zwischen Woody und mir, entschlossen, die Wahrheit von ihm fernzuhalten.
»Das wissen wir nicht. Keiner von uns weiß das«, sage ich, und der Druck staut sich in mir auf wie ein Sturm. »Sag mir nicht, dass du nie die fehlenden Porträts von Ananke in der Galerie bemerkt hast. Sag mir nicht, dass du nie die fehlenden Bücher in den Archiven bemerkt hast. Chronos erzählt uns nur die Geschichten, die wir glauben sollen!« Und ich muss annehmen, dass meine eigene Zukunft eine davon ist. Dass Chronos die Vision ausgewählt hat, um mich zu verängstigen, um mich hierzubehalten, um mich davon abzubringen, nach der Wahrheit zu suchen. »Hast du dich nie gefragt, warum es in unseren Lektionen nie um die Geschichte geht, die vor der Erfindung der Stasiskammern liegt?«
»Weil es einfach ist! Sie sind alle gestorben, Jack!« Amber hebt die Stimme, als wüsste sie bereits, dass sie an Boden verliert. »Eine Jahreszeit, mehr hatten sie nicht!«
»Wenn das wahr ist, wie erklärst du dann Professor Lyon?«
Woodys Augenbrauen ziehen sich zusammen. Die abwehrende Haltung verschwindet aus Ambers Schultern. Niemand weiß genau, wie alt Professor Lyon tatsächlich ist. Ich habe ein einziges Mal gewagt, ihm diese Frage zu stellen, und die Antwort darauf war vage. Doch man munkelt auf dem Campus. Gerüchte, die aus den Aufenthaltsräumen der Lehrer dringen und in seinem Kielwasser durch die Hallen schwappen. Manche besagen, dass er am Hof von Königin Elizabeth I. gedient hat, bevor er zum Winter wurde.
»Er war in der Antarktis«, sagt Amber. »Der Winter endet dort nie. Er hätte dort für immer leben können, wenn er das gewollt hätte.«
»Aber das hat er nicht! Er hat dort nur dreihundert Jahre verbracht. Denkst du wirklich, er hätte davor einhundert Jahre allein überlebt?« Niemand sagt etwas. »Jahreszeiten überlebten damals abseits der Linien. Wir existierten nebeneinander. Das hat mir Professor Lyon erzählt. Er war da. Er hat es gelebt. Es gab keine Stasiskammern. Keine Rangordnungen oder Eliminierungen«, sage ich zu Poppy. »Es gab keine getrennten Schlafquartiere. Lyon hat seine eigenen Regeln gemacht, und wir können das auch.«
Amber hebt den Blick und sieht mich an. Im Zimmer riecht es erdig, nach dem Inhalt der Kisten, die sich um uns herum hoch stapeln, nach Wurzelgemüse und Kartoffeln. Herbst und Winter. Und vielleicht ein wenig nach Hoffnung.
Woody bricht die Stille zuerst. »Doch wie sollt ihr abseits der Ley-Linien überleben? Ihr braucht die Stasiskammern, um euch zu regenerieren.«
»Wir würden sie nicht brauchen, wenn wir erst gar nicht ausbrennen. Hast du je von einer Sekundärzelle gehört?« Ich entfalte meine Skizze. Woody tritt vor und nimmt sie entgegen, bevor Amber ihn daran hindern kann.
»Eine wiederaufladbare Batterie«, sagt Woody und mustert die Zeichnung. »Aber wie?«
»Ich glaube, früher arbeiteten die Jahreszeiten zusammen«, erkläre ich. »In Paaren. Sogar Gruppen. Ich weiß nicht genau, wie, aber ich habe die Theorie, dass die Polaritäten zwischen uns und unsere Verbindungen zu den Ley-Linien einen Kreislauf bilden. Wenn Amber und ich kämpfen, verursacht eine chemische Reaktion zwischen uns eine Entladung der Energie, jedes Mal, wenn wir uns berühren. Am Ende der Saison ist sie schwächer als ich – negativ geladen. Sie steckt meine positive Ladung jedes Mal ein, wann immer wir Kontakt haben. Aber diese Energie nährt sie nicht. Sie fließt durch sie hindurch zum nächsten Punkt im Kreislauf – in die Ley-Linien – und nimmt ihre letzte Kraft, bis sie vollständig ausbrennt.«
»Eine tote Batterie«, sagt Woody und gibt die Zeichnung an Amber weiter.
»Ganz genau.« Ich stoße den Atem aus, den ich angehalten hatte. Poppy beugt sich vor, sieht Amber zögerlich über die Schulter. »Wenn wir die Ley-Linien ausschließen, schließen wir den Kreislauf. Unsere Körper werden ihre Ladungen ineinander zurückleiten, einen Kreislauf bilden. Während die eine Jahreszeit stärker wird, lädt sie die andere auf, bis wir uns wieder ausgleichen.«
»Wie?«, fragt Woody.
»Anhaltender Kontakt zwischen den Polaritäten.« Alle werfen mir fragende Blicke zu. »Wir halten einander fest.«
Ambers Unterkiefer klappt herunter. Sie sieht weg, ihr Gesicht ist knallrot.
»Woher willst du denn wissen, dass das funktioniert?«, fragt Poppy.
»Amber und ich haben einander während eines Sparringmatchs letzte Woche aufgeladen.«
»Für vielleicht zwei Sekunden!«, sagt sie und kreuzt die Arme vor der Brust.
»Es hat auch bei Jack und Fleur funktioniert«, fügt Chill hinzu. »Ihre Transmitter waren aus. Sie hat Jack so lange am Leben gehalten, dass ich ihn finden und nach Hause bringen konnte. Er ist nur nicht mit dem Wind gegangen, weil sie nicht losgelassen hat.«
Poppy umklammert sich selbst, erbleicht und sackt gegen eine Kiste. All ihre Fragen, was mit unseren Transmittern auf diesem Berg schiefgelaufen ist, sind endlich beantwortet, aber ihre angewiderte Miene verrät mir, dass sie sich wünschte, sie wüsste es nicht.
»Wie erklärst du dann das mit dem Kussverbot?«, fragt Amber. Sie scheut vor der Frage zurück, als wir uns alle zu ihr umdrehen und sie angaffen.
»Ich habe auch darüber nachgedacht.« Meine Wangen werden warm, als sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansieht. »Ich denke, ein Kuss dient als Katalysator. Er beschleunigt die chemische Reaktion …«
»Erschafft einen Weg des geringen Widerstands, bis die schwächere Jahreszeit kurzschließt«, fügt Chill hinzu.
Woody nickt. »Solange es also kein Geknutsche gibt, ist alles cool.«
»Nein!«, sagen Amber und ich zugleich. Unsere Blicke treffen sich. Ich beende den Satz für uns beide.
»Sobald wir den Kreis schließen, sollte es möglich sein, die Ladung auszubalancieren. Solange wir ausgeglichen sind, wird niemand kurzgeschlossen.«
»Solange man also mit einer anderen Jahreszeit zusammen ist – einer mit anderen Kräften –, kann man einander ausgleichen«, sagt Woody, der es kapiert. »Dann kann man sich frei bewegen, ohne das Wetter zu stören oder einander wehzutun.«
»Deshalb können die Wachen überallhin, ohne bemerkt zu werden«, erkläre ich. »Sie verfügen über die Macht aller vier Jahreszeiten. Ihre Magie ist naturgemäß ausgeglichen.«
»Für den Fall, dass du es vergessen hast: Es gibt einen Grund, aus dem sie auf diese Weise konzipiert sind«, bemerkt Amber. »Damit sie uns leichter jagen können. Sie lassen uns keinesfalls einfach so da draußen verschwinden.«
»Wir sind nur zu viert«, sage ich. »Es gibt Hunderte Regionen auf dem Globus. Wir sind kleine Fische, winzige Leuchtmarken auf dem Radar. Jeder Effekt, den wir haben, würde auf einen Radius von ein paar Hundert Kilometern begrenzt von dem Punkt aus, wo immer wir uns aufhalten. Also bleiben wir in Bewegung. Wir bleiben nicht lange genug an einem Ort, um echten Schaden anzurichten, und nach einer Weile werden sie aufgeben und aufhören, nach uns zu suchen. Wir könnten uns überall verstecken.«
»Das ist toll für euch beide, aber was ist mit uns?« Poppy schiebt sich von der Kiste weg, und Wut färbt ihre Wangen. »Eure Magie kommt von Gaia. Sie hat sie euch gegeben. Sie existiert in euch, was es sehr viel leichter macht, sie zu stehlen«, sagt sie und setzt damit auch noch Diebstahl auf die Liste unserer geplanten Vergehen. »Aber was geschieht mit uns dort draußen?«
»Poppy hat recht«, sagt Chill. »Administratoren haben keine eigene Magie. Chronos kontrolliert unsere Unsterblichkeit, aber aus seiner Sicht ist das nur eine Zusatzleistung zu dem Job, den wir ausführen. Haben wir Glück genug, es hier herauszuschaffen, müssen wir annehmen, dass wir auf normale Weise altern, so wie Lyon. So wie die ganzen Angestellten der Fakultät im Ruhestand.« Die Admins tauschen nüchterne Blicke miteinander.
Amber schüttelt den Kopf. Sie weicht rückwärts zur Tür zurück, packt Woody am Arm. »Nein. Auf keinen Fall. Wir sind raus.«
Woody stemmt die Füße in den Boden. Er hält meinen Blick fest, Glut in den Augen. »Ich möchte mit euch gehen.«
Amber starrt ihn mit offenem Mund an. »Du hast Chill doch gehört! Es gibt keine Garantie dafür, wie lange ihr dort draußen hättet. Ihr könntet von einem Bus überfahren oder überfallen werden oder an der Grippe sterben!« Sie hebt eine Hand, zeigt das Ende der Unterhaltung an. »Nein! Ich gehe allein raus in die große böse Welt. Du bleibst hier drin, wo es sicher ist, damit du dich um mich kümmern kannst.«
Woody fährt zu ihr herum. »Würdest du ein Mal aufhören, an dich selbst zu denken?«
Ambers Lippen öffnen sich. Sie atmet flach ein, als würde es ihr wehtun.
Woodys Stimme wird weich, flehentlich. »Wann hast du zum letzten Mal die Sonne gesehen?«
Ihre Augen werden feucht. »Vor einhundertzweiundsiebzig Tagen«, antwortet sie, als wäre jeder Tag eine Kerbe in ihrem Herzen.
»Ich vermisse es auch«, sagt er und berührt seine Brust. Er streckt die Hand nach dem Stück Papier in ihrer aus und hält es dann vor sie hin. Sie blinzelt bei dem Wort ARIZONA, und eine Träne rollt ihr über das Gesicht. »Ich kenne dich seit fast fünfzig Jahren, Amber. Länger als sonst jemand. Besser als sonst jemand. Du wärst nicht hergekommen, wenn du das hier nicht auch wollen würdest.«
Sie wirft flüchtige beschämte Blicke durch den Lagerraum, als wünschte sie, er wäre nicht so klein und wir nicht alle hier. »Aber du bist alles, was ich noch habe«, flüstert sie.
»Ich bitte nicht darum, dich zu verlassen. Ich bitte dich darum, mit dir gehen zu dürfen.« Er legt ihr eine Hand auf die Schulter.
Ärgerlich wischt sie eine Träne weg, tut so, als wäre es ein Staubkorn.
»Wir machen halt in Arizona«, biete ich an. »Für was immer dort ist. So lange du möchtest. Das verspreche ich.«
Woody dreht sich zum Rest von uns um, bevor Amber die Stimme heben und einwenden kann: »Wenn Jack recht hat, brauchen wir euch alle vier, um da draußen zu überleben. Wo ist Marie?«
»Sie hat sich geweigert, zu kommen.« Ich werfe Amber einen bedeutungsvollen Blick zu. »Einer von uns wird mit Julio reden müssen.«
Sie zuckt vor mir zurück, ihr Kiefer spannt sich an, weil auch die anderen sie ansehen. »Nein. Wollt ihr mich verarschen? Ich kann nicht die sein, die das tut! Julio würde mich auf keinen Fall nahe genug an sich heranlassen, um mit ihm zu reden.«
»Er hat dich nahe genug an sich herangelassen, um ihn zu küssen«, murmelt Chill.
Ambers Gesicht glüht so, dass es uns alle in Brand setzen könnte. Ich stoße Chill den Ellbogen in die Rippen.
»Sag es ihnen, Woody!«, blafft sie ihm zu. Woody starrt sie nur an, hält meine Zeichnung, als wäre sie zerbrechlich und wertvoll. »Gut!«, sagt sie und verdreht die Augen. »Ich rede mit ihm. Aber ich kann nichts versprechen.«
Von dem Adrenalinstoß, der mich durchzuckt, wird mir fast schwindlig. Wir sind einen Schritt näher am Abgrund. »Dann bleibt nur noch Fleur.«
Poppy ist still, die Arme fest vor der Brust gekreuzt. Sie schüttelt den Kopf, ihre Stimme zittert, als sie endlich spricht. »Uns bleibt immer noch ein Frühling. Ich kann sie über die rote Linie bringen. Wir müssen das hier nicht tun.« Sie rempelt Woody und Amber im Vorbeigehen an.
»Poppy!« Sie bleibt direkt vor der Tür stehen, weigert sich, mich anzusehen. »Das ist auch Fleurs Leben. Sie sollte selbst etwas dazu sagen dürfen.«
Poppy muss ihr ganzes Gewicht einsetzen, um den Hebel zu bedienen. Sie stolpert fast auf der Schwelle, so eilig hat sie es, wegzukommen. Chill will ihr nachlaufen.
»Lass sie gehen«, sage ich.
Poppy wird nicht nachgeben. Sie will es sich nicht eingestehen. Sie hat zu viel Angst. Irgendwie muss ich zu Fleur allein durchdringen.