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Dr. med. Alexandra Inglis
Ich wachte auf, blinzelte und drehte den Kopf auf dem Kissen zur anderen Seite, weg von dem grellen Sonnenlicht, das sich durch einen Spalt zwischen den dünnen Übergardinen zwängte. Schon diese unschuldige kleine Bewegung zündete ein Schmerzfeuerwerk hinter meinen Augen, und ich presste aufstöhnend beide Hände gegen den Schädel, der jeden Moment zu platzen drohte. Meine Zunge klebte am Gaumen fest. Durst! Wasser!
Ich stützte mich auf den Ellbogen, griff zittrig nach dem erbärmlich kleinen Wasserglas auf dem Nachttisch und trank den Rest, der sich noch darin befand. Zwei winzige Schlucke. In meinem Mund schmeckte ich den Staub, der sich während der Nacht auf der Wasseroberfläche angesammelt hatte, und als die schale Flüssigkeit in meinen Bauch gluckerte, wurde mir schlecht. Ich ließ mich schnell wieder zurücksinken und lag still auf der Seite, bis Schwindelgefühl und Brechreiz abgeklungen waren. Das Zimmer war unangenehm warm, ich streckte auf der Suche nach Kühlung ein Bein unter dem zerknüllten Deckbett hervor.
Neben mir ein seufzender Atemzug und eine Bewegung. Ich erstarrte, wandte ganz langsam den Kopf und spähte über die linke Schulter. Ein zerzauster sandfarbener Haarschopf, im sonnengebräunten Nacken spitz zulaufend, darunter ein breiter, nackter Männerrücken.
Mein Atem stockte, und ich fühlte mich schlagartig in den stickigen, überfüllten Club von gestern Abend zurückversetzt. Spürte das Wummern der Bässe durch meinen ganzen Körper vibrieren, während ich mich verschwitzt und angeschickert, mit meinem überschwappenden Drink in der Hand, durch das Gewühl erhitzter Leiber drängte. Ich hielt Ausschau nach meinen Mädels, aber unverhofft blieb mein Blick an einem Gesicht hängen, das mich durch eine Lücke in der Menschenmenge anschaute, von der Lightshow abwechselnd in Stahlblau und Hot Pink getaucht, während im Gegenrhythmus zum Beat aufzuckende grellweiße Laserstrahlen unsere Körper bombardierten und ein Neonkäfig aus flimmernden Dreiecken sich auf die Köpfe und erhobenen Hände der Tanzenden herabsenkte. Ein junger Mann, der sich jetzt zu voller Größe aufrichtete, und oh, er war groß. Und eine Augenweide – enges T-Shirt, definierter Bizeps, schöner Mund. Ich konnte den Blick nicht von ihm losreißen. Erst schien es ihn zu irritieren, so dreist angestarrt zu werden, dann aber antwortete mir ein schüchternes Lächeln.
Ich wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte.
Er schaute zu Boden, rieb sich unschlüssig das Kinn, den Nacken, dann gab er sich einen Ruck und kam auf mich zu …
Ich drehte mich wieder um und ließ den verkaterten Blick über das Schlachtfeld wandern. Meine umgekippten Pumps neben seinem T-Shirt und den Jeans, ein Bein auf links. Mein Kleid als Knäuel neben dem Sessel, daraufgebettet ein großer Turnschuh. Mein BH hing über der Badezimmertür.
Ich schob eine Hand unter die Bettdecke. Evakostüm, wie befürchtet, und nicht einmal ein Feigenblatt. Mist, Mist, Mist .
Mit angehaltenem Atem und in dreifacher Zeitlupe, um ihn nicht aufzuwecken, griff ich nach meinem Handy neben dem Wasserglas und schaltete es ein. Zehn Textnachrichten, alle von Rachel, angefangen mit :
Wo bist du? Ich kann dich nicht finden?
bis zu:
STOPP! TU DAS NICHT! Du begehst eine Riesendummheit!!!
Schock! Ich erinnerte mich wieder. Jemand hatte an die Zimmertür gehämmert, ich war hingewankt, hatte aufgemacht und hinausgeschaut. Rachel stand im Flur. Sie musste ein Taxi vom Club zum Hotel genommen haben, um mich vor mir selbst zu retten. Ihre Miene verriet, dass sie unsere auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke gesehen hatte.
Ich schloss schamerfüllt die Augen.
Das Ping einer weiteren Nachricht ließ mich zusammenzucken, aber es kam nicht von meinem Handy. Der Körper neben mir regte sich erneut, ich hielt den Atem an und hörte das Bett knarren, als er sich hinauslehnte, um sein Handy vom Boden aufzuheben.
Mir wurde klar, dass ich nicht länger so tun konnte, als wäre er nicht da.
Langsam und bemüht, nicht mehr von mir zu entblößen, als unvermeidbar war, drehte ich mich zu ihm um. Er lag auf dem Rücken und hatte zu meiner Erleichterung die Decke bis unter die Arme hochgezogen. Was ich sah, war das obere Drittel einer unbehaarten Brust, der Rand einer schwarz-blauen Tätowierung – irgendwelche keltischen Runen –, die die Linien eines gut entwickelten Trizeps und Deltamuskels nachzeichnete, von dort wanderte mein Blick nach oben zu einem befangenen Lächeln und hellbraunen Augen, die mich anschauten.
Oh Gott, er war jung! Höchstens Mitte zwanzig. Ich schluckte mühsam und brachte ein gekrächztes »Hi!« zustande.
»Hey«, erwiderte er, begleitet von einem angedeuteten kleinen Winken. Sein Haar war hinreißend verwuschelt, und ich musste mir eingestehen, in meiner Studienzeit hätte ich gemordet, um neben einem Typen wie ihm aufzuwachen. Damals, vor zwanzig Jahren …
Ehe ich Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, klopfte es, und eine Frauenstimme fragte laut und in bestimmtem Ton: »Ally? Ally, bist du da?«
»Einen Augenblick.« Ich hob den Kopf, der prompt wieder zu platzen drohte, und hielt hektisch Ausschau nach etwas zum Anziehen. Nichts in Reichweite, also schlüpfte ich notgedrungen nackt unter der Bettdecke hervor, rannte ins Bad und wickelte mich in eins der Duschhandtücher.
Bei meiner Rückkehr ins Zimmer hatte er sich im Bett aufgesetzt und schaute schweigend zu, wie ich die Kleidungsstücke und seine Schuhe zur Seite kickte, damit man sie von der Tür aus nicht sehen konnte. Nach einem tiefen Atemzug öffnete ich und achtete darauf, nicht mehr von mir sehen zu lassen als Kopf und Schultern. Rachel stand im Flur, frisch geduscht, angezogen – und Gott sei Dank allein. Sie musterte den von ihr aus sichtbaren und von verräterischen Spuren gereinigten Ausschnitt des Zimmers, das Bett wurde von mir und der Tür verdeckt. »Also hast du den Bubi abserviert?«
Ich schloss kurz die Augen, schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach hinten.
Sie schlug erschrocken die Hand vor den Mund, machte auf dem Absatz kehrt und ging schnell zurück in ihr eigenes Zimmer ein Stück weiter den Flur hinunter.
Keine Chance, dass er ihre Worte nicht gehört hatte.
Ich schloss die Tür und trat ans Bett. Er hatte die Knie angezogen und ließ den Kopf hängen. Was ich von seinem Gesicht sehen konnte, war glühend rot.
Ich fühlte mich furchtbar. »Es tut mir so leid. Meine Freundin, sie …« Ich verstummte. Was sollte ich sagen? Der Schaden wa r angerichtet, und solche achtlos hingeworfenen kränkenden Bemerkungen haben eine lange Halbwertszeit.
Er zögerte, rang sich ein Lächeln ab, sagte mannhaft: »Ist schon in Ordnung«, warf die Bettdecke zurück und stand auf. Ich wandte den Blick ab, aber offenbar hatte er die Geistesgegenwart besessen, vor dem Einschlafen wieder in seine Boxershorts zu schlüpfen. Er tappte barfuß um das Bett herum und zog Jeans und T-Shirt an, während ich in dem Sessel am Fenster saß und angestrengt auf das psychedelische Teppichmuster starrte. Er schnürte die Turnschuhe zu, schob das Handy in die Gesäßtasche. Die Tür schwang auf, schloss sich mit einem gedämpften Klick hinter ihm, und ehe ich noch irgendetwas sagen konnte – aber was auch? –, war er gegangen.
Ich stieß den Atem aus und ließ mich zur Seite sinken, lehnte den Kopf gegen die Sessellehne und zog die Knie an die Brust. Der Katzenjammer, der mich niederdrückte, kam nicht allein vom Alkohol. Endlich wischte ich mir mit dem Handballen ein paar Tränen von der Wange und drehte abwesend die beiden Ringe an meinem Finger hin und her – Gold zur Hochzeit und ein funkelnder Solitär zur Verlobung. Ich musste mich anziehen und nach unten gehen, wo die anderen bestimmt längst beim Frühstück saßen. Sich im Zimmer zu verkriechen würde die ohnehin prekäre Situation in einem noch schieferen Licht erscheinen lassen. Ich schielte zu dem zerwühlten Bett hin und schauderte bei der Erinnerung an das, was sich dort abgespielt hatte. Weil ich es zugelassen hatte. Es gewollt hatte. Ich legte die Hände um den dröhnenden Schädel, grub die Finger ins Haar und kniff die Augen zu.
Und es ließ sich nicht mehr ungeschehen machen.
Ich stand auf und ging ins Bad, um mich so gut wie möglich herzurichten, aber schon die wenigen Schritte erzeugten ein Gefühl von Seekrankheit, ich machte einen Kniefall vor der Toilettenschüssel und musste mich mehrfach übergeben, bevor ich es schließlich schaffte, in die Dusche zu steigen. Das auf Knopfdruck sturzbachartig niederprasselnde Wasser massierte meine Haut wie eine altmodische Wurzelbürste, während ich mich einseifte und seinen Geruch, seine Berührungen von mir abwusch, leider nicht die Erinnerung. Das Zähneputzen löste wieder Brechreiz aus, und selbst nachdem ich angezogen war und etwas Make-up aufgelegt hatte, erschrak ich beim Blick in den Spiegel darüber, wie blass und elend ich aussah.
Meine bis dato prägendste Erfahrung in puncto Alkoholintoxikation stammte ebenfalls aus meiner Zeit an der Uni. Studentenball im Botanischen Garten von Birmingham und ich nach einer halben Flasche Wodka ausgeknockt auf dem kalten Fliesenboden der Damentoilette. Auch das war an die zwanzig Jahre her. Fremde Gesichter neigten sich über mich, fragten: »Was ist los« , und jemand besaß sogar den Anstand, mein unschicklich hochgerutschtes Kleid herunterzuziehen und mir damit einen letzten Rest Würde zu bewahren. Zu guter Letzt fand mich mein damaliger Freund, Tim, und verfrachtete mich in den Bus nach Hause. Jugendlicher Leichtsinn, aber diesmal konnte ich mich nicht darauf hinausreden, ich hätte nicht gewusst, was ich tue. Ich hatte mich betrunken, um der Wirklichkeit zu entfliehen, meinen Problemen, dem Gefühl der Unzulänglichkeit.
Ich steckte Zimmerschlüssel und Handy ein und ging auf wackligen Beinen den Flur hinunter. Auf der Treppe ins Erdgeschoss kamen mir zwei Kinder entgegen – ein kleines Mädchen laut kreischend auf der Flucht vor dem jüngeren Bruder –, und die spitzen Schreie jagten wie Nadelstiche durch meinen Kopf. Die gemächlich folgenden, entspannt wirkenden Eltern entschuldigten sich im Vorbeigehen unbefangen für den Lärm. Sie hatten das Frühstück bereits hinter sich gebracht und kehrten ins Zimmer zurück, wahrscheinlich, um ihre Badesachen zu holen, für einen weiteren unbeschwerten Tag am Strand. Ich schenkte ihnen ein gequältes Lächeln. Bestimmt waren sie seit Stunden auf den Beinen und beneideten mich um mein Ausschlafenkönnen und meine Ungebundenheit. Ich schaute ihnen nach, die Kinder hüpfend, die Eltern Hand in Hand, und mich packte ein solches Heimweh, dass ich stehen bleiben und mich am Geländer festhalten musste.
So fand mich Rachel, als sie am Fuß der Treppe erschien und zu mir hinaufsah. Sie bemühte sich, ihre Bestürzung über meinen Anblick zu verbergen, aber es gelang ihr nicht ganz. Sie kam zu mir herauf und streckte die Hand aus, um mich zu stützen. »Hast du dich schon übergeben?«
Ich schluckte. »Ja.«
»Gut. Wenn du jetzt etwas in den Magen bekommst, wirst du dich bald besser fühlen. Komm mit.«
Sie geleitete mich fürsorglich die letzten Stufen hinunter, als wäre ausnahmsweise ich der Patient. »Die anderen sind alle schon unten.« Sie senkte die Stimme. »Sie wissen nur, was sie gesehen haben, dass du im Club einen jungen Mann geküsst hast. Alles andere haben sie nicht mitgekriegt. Ich habe ihnen erzählt, ich wäre mit dir im Taxi zum Hotel zurückgefahren und hätte dich ins Bett verfrachtet. Sie waren zu dem Zeitpunkt selbst schon ziemlich hinüber.«
»Danke dir.« Ich war erleichtert, aber nur für einen Moment, dann gewann die Scham wieder die Oberhand. »Ich habe euch den ganzen Abend verdorben, du ahnst nicht, wie leid mir das tut. Und dass du extra zum Hotel gefahren bist, um dich zu überzeugen, dass es mir gut geht, und dann siehst du die ganze Bescherung …«
»Du brauchst dich nicht entschuldigen. Ich hätte heute Morgen nicht so gedankenlos reinplatzen sollen.«
»Du konntest ja nicht wissen …«
»Es war unnötig.«
»Die ganze Affäre war unnötig.«
Wir schwiegen. Unten angekommen, wandte sie sich mir zu. » Ally, wem du davon erzählst oder ob überhaupt jemandem, ist allein deine Entscheidung, von mir jedenfalls erfährt niemand was.« Sie drückte mir noch einmal ermutigend die Hand, dann ließ sie mich los. »Komm, auf in den Kampf.«
Ich holte tief Luft und betrat hinter ihr das Restaurant, in dem bereits reger Betrieb herrschte. Der Geruch der warmgehaltenen Speisen auf dem Frühstücksbuffet verursachte bei mir schon wieder leichte Übelkeit. Wir erreichten den Tisch, an dem unsere sechs anderen Freundinnen in unterschiedlichen Stadien morgendlicher Frische saßen. Claire kratzte enthusiastisch und laut die Reste ihres Müslijogurts aus der Schüssel, feindselig gemustert von Stef, die in sich zusammengesunken einen Becher schwarzen Kaffee hütete. Marie und Cass starrten wie hypnotisiert auf ihre Handys, Carolyn, den Kopf in die Hand gestützt, hielt stumme Zwiesprache mit der gebutterten Toastscheibe in ihrer anderen Hand. Nur Jo, unsere Bohnenstange, hatte sich das volle englische Programm gegönnt. Ich schaute auf ihren Teller und spürte, wie sich mir der Magen umdrehte.
Alle hoben den Kopf, alle schwiegen, bis Rachel mich sanft nach vorne schob. »Hier ist unsere kleine Langschläferin«, sagte sie fröhlich.
Man nickte und lächelte und bemühte sich, keine vielsagenden Blicke zu wechseln, während ich mir einen Stuhl heranzog und mich setzte. Einzig Stef begrüßte mich unverblümt als Leidensgenossin: »Du siehst aus, wie ich mich fühle. Wir brauchen eine Bloody Mary!«
»Oh Gott, nein!« Ich wurde blass. »Ich trinke nie wieder einen Tropfen Alkohol.«
Wieder unbehagliches Schweigen, und wieder rettete Rachel die Situation, bevor sie noch peinlicher werden konnte. »Ich habe mich an der Rezeption erkundigt, und die Zimmer müssen erst um halb elf geräumt sein, deshalb gehe ich nach dem Frühstück vielleicht noch eine Runde schwimmen. Hat noch jemand Lust?«
Stef bedachte sie mit einem entsetzten Blick und wandte sich wieder an mich. »Und du hattest eine angenehme Nacht?«
Ich räusperte mich. »Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.«
»Die stillen Wasser sind immer die tiefsten«, stichelte Cass freundschaftlich und tätschelte mir aufmunternd den Rücken, mit um ein Haar verheerenden Folgen. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mich in ihren Schoß übergeben. »Es war nur eine kleine Knutscherei, Ally. Unsere Lippen sind versiegelt, Ehrenwort. Mach dir keine Vorwürfe.«
Zustimmendes Kopfnicken rings um den Tisch. Dieses Verständnis war schwerer erträglich als die Missbilligung, die ich verdiente. Ich wünschte, wir hätten uns, wie sonst auch bei unseren jährlichen Mädelswochenenden, in einem kleinen, aber feinen Hotel nicht weit weg von zu Hause getroffen. Wellness, Wein und Wisst-ihr-noch. Als ich vor zwei Monaten Ibiza vorschlug, günstig, all inclusive, hatte ich keine Hintergedanken. Ich war noch nie auf Ibiza gewesen, hatte immer schon mal hingewollt und dachte, es wäre eine nette Abwechslung.
Ich versuchte zu lächeln, aber ganz plötzlich war ich den Tränen nahe. Alle schauten mich besorgt an, und Rachel reichte mir eine Serviette.
»Um die Wahrheit zu sagen, wir sind grün vor Neid. Ich hätte auch gern so einen Adonis auf der Liste meiner schönsten Ferienerlebnisse.«
Es wurde gelacht, und für einen Moment wirkte die Stimmung gelöst, aber das Lachen klang nicht echt. Das sagt sie nur so. Ich weiß genau, sie denkt das nicht wirklich. Keine von ihnen denkt das.
»Er sah aus wie der Star einer Boyband«, schwärmte Carolyn .
»Und ich glaube, wir können bestätigen, dass du es immer noch draufhast, Baby «, sagte Marie. Die anderen murmelten zustimmend.
Cass hob sogar den Daumen und fügte hinzu: »Definitiv«, aber ich brachte nicht einmal ein schuldbewusstes, geschweige denn verschämt selbstgefälliges Lächeln zustande. Ich wollte es nicht draufhaben . Ich war nicht die Frau von letzter Nacht, die um jeden Preis beachtet werden wollte, die sich berauscht von Alkohol und dröhnender Musik inmitten der ausgelassenen Menschenmassen stark und frei fühlte, gefährlich, männermordend. Ich spürte ihr Mitleid und wusste genau, was ihnen durch den Kopf ging: Liebe Güte, Ally hat in den letzten drei Wochen ganz schön was einstecken müssen. Es war nur ein Kuss, und wisst ihr was? Das hat sie gebraucht, die beste Medizin für ein angeknackstes Selbstbewusstsein.
Ich schluckte und erinnerte mich an seinen Körper, der auf mir lag. An mein Stöhnen, getreu der Rolle, die ich mir geschrieben hatte. Mein kleines schmutziges Geheimnis. Nein, keine Namen. Und wenn du gehst, mach die Tür hinter dir zu.
Aber es handelte sich nicht um ein glamouröses Musikvideo, das sich eine Million pubertätsgepeinigter Teenies auf YouTube reinzog und die eindeutig zweideutigen Lyrics verinnerlichte. Das Geschehen der gestrigen Nacht hatte absolut keinen Glamour. Es war im Nachhinein betrachtet einfach nur traurig. Eine Träne rollte über meine Wange, und meine Freundinnen wussten nicht, wo sie hinschauen sollten. Marie legte tröstend ihre Hand über meine, aber ich zog sie weg, weil mein Handy vibrierte. Das Display zeigte mir, der Anrufer war Rob. Ich konnte jetzt nicht mit ihm sprechen, ich konnte einfach nicht. Wenn er das Telefon an die Mädchen weitergegeben hätte, wäre ich zusammengebrochen, komplett.
Sieben Augenpaare beobachteten, wie ich den Anruf wegdrückte, und noch beschämter als vorher überlegte ich krampfhaft, was ich sagen könnte, um zu verhindern, dass dieses Wochenende im Nachhinein als Reinfall betrachtet werden würde. Es war unser letzter Morgen und ich die Spielverderberin, die alle dafür büßen ließ, dass bei ihr der Haussegen schiefhing. Reiß dich zusammen! Ich hob den Kopf, setzte mich aufrecht hin, verschanzte mich hinter der Fassade professioneller Souveränität, die ich auch zu Hilfe nehme, wenn ein Patient schwierig wird.
Dr. Alexandra Inglis, Fachärztin für Allgemeinmedizin.
Ich wandte mich an Stef. »Du, ich habe meine Meinung geändert. Ich glaube, eine Bloody Mary ist genau das, was ich jetzt brauche.« Meine Stimme klang völlig normal: Ally hat einen kleinen Kater, aber sonst ist alles in Ordnung.
Stef stellte den Kaffebecher energisch auf den Tisch. »Endlich ein vernünftiges Wort. Danach kann ich vielleicht sogar die Vorstellung ertragen, heute Nachmittag in den Flieger zu steigen.«
»Wer vom Hund gebissen wird«, kommentierte ich mechanisch. Soll Hundehaare auflegen, da liegt der Hund begraben, getroffene Hunde bellen, da wird der Hund in der Pfanne verrückt.
Der Sonnenbrand in meinem Nacken juckte.
Ich bin ein wandelndes Klischee. Man soll keine schlafenden Hunde wecken.
Doch ich wusste jetzt schon, dass ich Rob alles beichten würde. Daran führte kein Weg vorbei. Auch wenn meine Freundinnen geschworen hatten, Stillschweigen zu bewahren, würden sie – jede Wette – ihrem Liebsten, kaum dass sie zur Tür herein waren, von meiner Nacht der Sünde berichten. Kein Vorwurf, ich hätte es auch getan. Die Versuchung war einfach zu groß. Danach wusste dann bald ein Dutzend Leute, mindestens, dass ich einen anderen Mann geküsst hatte. Das allein war schon schlimm genug. Ich vertraute Rachel zu hundert Prozent, aber sie kannte die ganze Wahrheit, und wenn irgendwann alles ans Licht kam – was früher oder später immer passiert –, wäre es für Rob doppelt so schwer zu verkraften. Der gehörnte Ehemann, der es immer zuletzt erfährt und sich vorkommt wie ein Idiot.
Davon abgesehen, ich wollte es ihm sagen.
Er verdiente es, dass ich ehrlich zu ihm war.
Rob musste am Fenster gestanden und gewartet haben, denn als ich vor dem Cottage anhielt, ging die Außenbeleuchtung an, und die Tür wurde geöffnet. Er stand auf der Schwelle in dem gestreiften Hemd, das ich vor Jahren für ihn gekauft hatte, seinen alten Jeans und Pantoffeln. Hinter ihm, vom Türrahmen eingefasst, ein Ausschnitt unseres Heims, wie ein Fremder es sehen würde: gemütlich und anheimelnd – ein Haus, in dem gelebt wurde. Erst recht einladend war der Anblick, wenn man wie ich sommerlich gekleidet durch für Anfang September zu kaltes englisches Regenwetter stolperte, müde, frierend, den Koffer in der Hand und niedergedrückt von der zusätzlichen Bürde eines schlechten Gewissens.
»Moment«, er streckte die Hand aus, als ich die Haustür erreichte, »lass mich das nehmen. Hast du das Wetter mitgebracht? Dann hattet ihr bestimmt einen unruhigen Flug.«
»Ging so.« Ich überließ ihm den Koffer, trat in den Flur und schaute zu, wie er leise die Tür schloss und den Koffer behutsam auf den Boden stellte.
»Schlafen die Mädchen schon?« Eine dumme Frage, weshalb sollte er sonst mit gedämpfter Stimme reden und laute Geräusche vermeiden. Ich zog die Jacke aus.
Er nickte und gab mir einen flüchtigen Kuss. Ich erstarrte, aber er schien es nicht zu bemerken.
»Tee?«
»Ja, gern.«
»Hast du gegessen? «
Ich dachte an die zahlreichen Schokoriegel und das nach Plastik schmeckende Thunfisch-Sandwich am Flughafen. »Vielleicht esse ich später eine Schüssel Cornflakes oder so. Mach dir jetzt keine Umstände, aber lieb von dir.«
»Warum gehst du nicht schon ins Wohnzimmer, und ich bringe dir eine Tasse. Du siehst erledigt aus.«
»Bin ich auch.« Ich schluckte. »Wir waren gestern Abend im Pacha.«
Er lachte. »Oha! Kein Wunder, dass du so blass um die Nase bist. Geh rein und setz dich. Ich bin gleich bei dir.«
Ich tat wie geheißen und ließ mich im Wohnzimmer vorsichtig auf das Sofa sinken. Mein Kopf hämmerte. Für einen Moment war ich versucht, meine Beichte auf den nächsten Tag zu verschieben, wenn ich mich besser fühlte. Ich hatte keinen anderen Wunsch, als die Augen zu schließen und zu schlafen … obwohl – ich schaute mich um – das Zimmer war das reinste Chaos. Überall lag Spielzeug herum. Rob hatte nicht einmal pro forma den Versuch gemacht, aufzuräumen, nachdem die Mädchen im Bett waren. Auf dem Beistelltisch eine halb leere Tasse Tee, auf dem Boden neben dem Sofa eine zerdrückte Coladose, ein abgegessener Teller und die Ketchupflasche. Er hatte sich Fischstäbchen und Pommes frites zum Abendessen gemacht. Ich stand noch einmal auf und legte die Coladose auf den Teller. Aus Erfahrung wusste ich, der Restinhalt genügte für ein klebriges Malheur, wenn morgen früh eins der Mädchen darüber stolperte.
»Lass alles liegen.« Rob kam mit dem Tee und einem Teller Schokoladenkekse ins Zimmer. »Ich erledige das gleich.«
Er stellte mir Becher und Teller hin, ging zu seinem angestammten Platz, schob Fernbedienung und Laptop zur Seite und setzte sich. »So, habt ihr Spaß gehabt? Wie war das Wetter?«
»Sehr heiß.« Ich griff nach dem Becher, nahm ihn in beide Hände und trank ab und zu einen kleinen Schluck. »Gestern habe ich mir einen Sonnenbrand geholt. «
Er verdrehte die Augen. »Quelle surprise . Wie war das Hotel?«
»Geschmackssache. Siebzigerjahre-Schick, jede Menge Retro. Schirmlampen, bunte Teppiche, wild gemustert und so weiter.«
Er rümpfte die Nase.
»Aber das Essen war gut.« Ein Schluck Tee. Ich hatte Sex mit einem Typen, den ich gestern Abend im Pacha getroffen habe . Unwillkürlich presste ich die Lippen zusammen, um nicht auszusprechen, was ich gedacht hatte. »Wie geht’s den Mädchen?«
»Großartig. Aber sie finden mich langweilig und haben dauernd gefragt, wann du wiederkommst. Maisie hat dir ein Bild gemalt.« Er angelte ein großes Blatt Papier vom Beistelltisch und hielt es so, dass ich es sehen konnte. Es war das dick mit Glanz- und Glitterstift gemalte Bild von Mama, Papa und zwei Kindern, alle mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Eine glückliche Familie.
Für Mummy. Ich hab dich so lieb!, las ich. Du bist die beste Mummy auf der Welt, und ich hab ein Geschenk für dich.von Maisie xxx
»Sie hat dir ein Fred Ferkel aufgehoben«, erklärte Rob. »Tilly hat ihre alle aufgegessen, aber Maisie hat an dich gedacht. ›Und was ist mit Mummy?‹, hat sie gefragt. Sie hat dich vermisst. Wir alle haben dich vermisst.«
Ich nickte, und meine Augen füllten sich mit Tränen.
Rob musterte mich aufmerksam und runzelte die Stirn. Von einer Sekunde auf die andere war die Atmosphäre umgeschlagen, schneller abgekühlt als der Teebecher in meinen Händen. »Du scheinst …«, begann er, aber ich schnitt ihm das Wort ab.
»Rob, ich habe gestern Nacht mit einem anderen Mann geschlafen.«
Er warf den Kopf nach hinten, als hätten ihn die Worte getroffen wie echte Geschosse. Ein, zwei Atemzüge lang blieb er stumm, dann beugte er sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte die Hände vor den Mund. Ich konnte nur seine Augen sehen, die blicklos geradeaus starrten. Er blies langsam den Atem zwischen den Fingern hindurch.
Ich beobachtete ihn ängstlich. Es war ein Moment quälender Ungewissheit. Wie würde er reagieren? Wie sah unsere Zukunft aus? Hatten wir noch eine – gemeinsame – Zukunft? Welche Auswirkungen würden meine Untreue und mein Geständnis auf unsere Kinder haben? Alles, wofür wir so hart gearbeitet hatten – zerstört in einem Wimpernschlag.
»Du hast es getan, um mich zu verletzen«, sagte er, keine Frage, eine Feststellung. »Warst du betrunken?«
»Ja. Sonst wäre es nicht passiert.«
»Verdammt noch mal, Alex.« Er krallte die Finger in das Titelblatt der Sonntagszeitung, knüllte es so fest zusammen, dass die Adern auf seinem Handrücken hervortraten, und schleuderte den Papierball durchs Zimmer. »Keiner hat dich gezwungen , es zu tun. Warst du überhaupt auf Ibiza?«
»Was?« Das kam unerwartet. »Aber natürlich war ich da.«
»Wer ist er?«
»Das ist nicht wichtig.«
Das Blut stieg ihm ins Gesicht, er biss die Zähne zusammen. »Okay. Aus deiner Sicht vielleicht. Für mich ist es wichtig. Wer ist er?«
»Niemand, den du kennst. Ich habe ihn im Club getroffen.«
Er verzog angewidert das Gesicht. »Ein vollkommen Fremder? Bist du mit ihm in sein Hotel gegangen?«
»Nein.« Mir versagte die Stimme, ich musste husten. »Nein. Ich habe ihn mit auf mein Zimmer genommen.«
»Herrgott, Alex.« Er war wütend. »Er hätte dir wer weiß was antun können. Er hätte dich ermorden können.«
Ich rief mir das Gesicht des Jünglings in Erinnerung. »Werd nicht melodramatisch, Rob. Ich war nicht in Gefahr. «
Er ignorierte mich. »Bitte sag mir, dass du ein Kondom benutzt hast.«
Mein Gesicht wurde heiß. Dieses Gespräch entwickelte sich anders, als ich erwartet hatte. »Selbstverständlich.«
Er nickte, als wäre das wenigstens etwas, dann erhob er sich abrupt. »Ich gehe ins Bett. Für heute Abend reicht’s mir.«
»Nein«, sagte ich verzweifelt. »Wir müssen uns aussprechen. Das sind wir den Mädchen schuldig.«
Er lachte kurz und freudlos. »Daran denkst du jetzt ? Hättest du das nicht besser getan, bevor du mit deiner Eroberung in die Kiste gesprungen bist?«
»Wie du vielleicht?«, konterte ich prompt. »Als du Hannah nach ihrer Abschiedsfeier gevögelt hast?«
Er richtete den Blick zur Decke und seufzte wie jemand, der sich genötigt sieht, noch eine ermüdende Runde auf dem Sportplatz zu absolvieren. Dann ließ er sich zurück aufs Sofa fallen. »Na gut. Was willst du von mir hören, Alex? Dass es wehtut? Weil ja, das tut es. Es tut weh. Das war doch der Sinn des Ganzen, oder nicht? Habe ich das Recht, dich zu verurteilen, in Anbetracht meiner eigenen – Entgleisung? Nein. Rechtfertigt es das, was du getan hast? Nein.«
»Angenommen, du hättest erfahren, dass ich bei der Arbeit einen Seitensprung begangen hätte – sagen wir mit David.« Ich wählte absichtlich denjenigen meiner Kollegen, den Rob, wie ich wusste, nicht leiden konnte. »Kannst du mir in die Augen sehen und behaupten, du würdest unter keinen Umständen jemals denken: Wie du mir, so ich dir, Alex, und in einem fremden Bett Bestätigung suchen?«
Er schaute mich ungläubig an. »Deshalb hast du es getan? Um dein angeknackstes Ego zu kitten?«
»Ja, stell dir vor. Wenn dein Ehemann mit einer anderen Sex hat, ist das komischerweise ein ziemlicher Knacks fürs Ego. Du fühlst dich …« Ich stockte und spürte das vertraute Brennen in de n Augen. »Man fühlt sich noch fetter, spießiger, älter und unsichtbarer als vorher schon.«
Er richtete den Blick zu Boden. »Du bist nichts davon. Nein, ich würde es nicht getan haben, um mir etwas zu beweisen, aber an einem schlechten Tag wäre ich vielleicht so wütend auf dich gewesen, dass ich es getan hätte, um es dir heimzuzahlen.«
»Das wollte ich auch, es dir heimzahlen, aber es war nicht nur das. Es war – kompliziert …«
»Du hast dich betrunken und mit einem Kerl gevögelt, den du in einer Bar aufgegabelt hast«, kommentierte er nüchtern. »Ich finde das nicht besonders kompliziert.«
So wie er es ausdrückte, konnte ich selbst kaum mehr begreifen, was ich getan hatte.
Das Schweigen hing fast greifbar zwischen uns. Beide wussten wir nicht zu sagen, wie es zu diesem Sonntagabend hatte kommen können oder wie wir ihn überstehen sollten. Irgendwann räusperte er sich. »Alex, du und ich, wir hatten seit Monaten keinen Augenblick mehr für …«, er suchte nach Worten, »für uns als Paar, schon lange vor Hannah nicht. Ich habe versucht, mit dir darüber zu reden. Ich weiß, du bist erschöpft. Ständig wollen alle was von dir, die Kinder, deine Patienten. Ich gebe auch zu, dass das Zusammenleben mit mir nicht immer einfach ist, aber wir haben nie Zeit für uns . Und vielleicht ticken Männer wirklich anders als Frauen. Vielleicht können wir nicht so leicht auf Sex verzichten wie Frauen. Wenigstens habe ich das bis jetzt geglaubt, aber offenbar ist es nicht so, dass du generell keine Lust mehr auf Sex hast, du hast nur keine Lust mehr auf Sex mit mir
Schon bei den ersten Worten waren mir die Tränen gekommen, die Ereignisse der letzten Wochen hatten meine Nerven zermürbt: schlaflose Nächte, nicht essen können, ständig diese Bilder vor Augen – Hannah und Rob, mein Rob, mein Ehemann, im Bett mit ihr . Dazu ein Beruf, der keine Fehler verzeiht, und die Notwendigkeit, den Schein zu wahren, sich vor den Kindern nichts anmerken zu lassen, denn ich wollte nicht, dass sie je erfuhren, was zwischen ihrer Mama und ihrem Papa vorgefallen ist.
»Das ist nicht wahr«, verteidigte ich mich. »Vorher hat es mir durchaus Spaß gemacht, mit dir zu schlafen, und das weißt du auch. Obwohl, ja, auch ich habe versucht, mit dir über einige Dinge zu reden. Ich weiß, ich bin die meiste Zeit müde und gestresst, aber, Rob, du bist nie auf die Idee gekommen, einfach meine Hand zu halten oder mich in den Arm zu nehmen. Stattdessen hast du mir Vorwürfe gemacht, unsere Beziehung wäre beschissen und ich solle zusehen, dass sich das ändert, und ehrlich gesagt hatte ich dann keine große Lust mehr, mit dir zu schlafen. Ohne emotionale Nähe funktioniert Sex nicht. Jedenfalls nicht bei mir.«
»Außer sternhagelvoll auf Ibiza und mit einem Wildfremden.«
»Ich wollte, dass du weißt, wie es sich anfühlt, wenn man betrogen wird. Ich muss die ganze Zeit an Hannah denken.«
»Sie ist wieder in Australien, wie du weißt. Und sie kommt nicht zurück. Ich hatte zu viel getrunken. Es war ein Fehler.« Er ließ sich erschöpft gegen die Sofalehne sinken. »Fürs Protokoll, es tut weh, Alex«, sagte er dumpf. »Es tut verdammt weh.«
»Ich hatte es nicht geplant, wirklich nicht. Die anderen wollten gleich losziehen, als wir ankamen, und ich gar nicht. Eigentlich hatte ich gar keine Lust auf Party. Ich fühlte mich irgendwie außen vor, aber dann kamen die ersten Drinks, und es war so heiß, alle hatten sich aufgebrezelt, und in den Clubs lief die Musik, zu der wir früher schon getanzt haben. Irgendwie kam das alles zusammen, die Beats, der Alkohol, und es schmeichelte meiner Eitelkeit, dass ich offenbar noch attraktiv genug bin, um Blicke auf mich zu ziehen.«
»So genau wollte ich es nicht wissen.«
»Ich versuche zu erklären, wie mir das alles zu Kopf gestiegen ist. Und mein Kopf war ohnehin schon ziemlich durcheinander.« Ich schaute ihn über den Couchtisch hinweg an, den Vater meiner Kinder und seit acht Jahren mein Ehemann. Die wichtigsten Momente meines Lebens hatte ich mit ihm geteilt, und jetzt konnte ich nicht erkennen, was hinter seiner Stirn vor sich ging. »Es tut mir leid.«
»Du bist attraktiv.« Er schaute mich nicht an, als er das sagte.
Das Schweigen, das folgte, war bedrückend, leer.
Schließlich raffte ich mich auf, die entscheidende Frage zu stellen. »Willst du trotzdem an unserer Beziehung festhalten?«
»Ja. Und du?«
»Ich auch.«
»Ich meine, von jetzt an wird es anders zwischen uns sein …«
»Vielleicht sollten wir es mit einer Paartherapie versuchen. Das könnte uns helfen, einen neuen Modus Vivendi zu finden.« Liebe Güte, ich hörte mich an wie bei einem Patientengespräch in der Praxis: Fragen Sie Dr. Inglis …
»Meinetwegen. Willst du das organisieren?«
Ich nickte, dann musste ich ganz plötzlich gähnen.
»Andererseits, wäre es nicht möglicherweise besser, wenn wir uns einmal in der Woche eine Auszeit zu zweit gönnen würden? Statt zu einer Beratung zu gehen und darüber zu reden, was es mit uns macht, dass wir nie Zeit füreinander haben?«
Ich wusste nicht gleich, was ich dazu sagen sollte, aber ich brauchte nicht zu antworten, denn er sprach schon weiter.
»Zum Beispiel würde ich dich gern zum Essen einladen.«
»Fein, das würde mir auch gefallen.«
Es war grotesk, wie wir miteinander umgingen, so steif und förmlich.
Er lächelte nicht. »Gut. Ich kümmere mich darum. Geh schlafen, sonst stehst du den Tag morgen nicht durch.«
Ich stand auf. »Du hast recht, ich kann kaum noch die Augen offen halten. Wenn es dir nichts ausmacht …? «
»Natürlich nicht. Ist es dir lieber, wenn ich im Gästezimmer schlafe?«
Stille, dann schüttelte ich den Kopf. Ich ging zur Tür, als ich ihn hinter mir sagen hörte: »Ally?« Ich blieb stehen und drehte mich um.
»Wer weiß sonst noch von dem – Vorfall gestern Nacht?«
»Nur Rachel. Die anderen haben mich im Club mit ihm gesehen …«
Er richtete den Blick zu Boden.
»Was sonst noch passiert ist, wissen sie nicht, und Rachel wird nichts sagen.«
»Aber alle wissen, was ich getan habe?«
Ich nickte, verwirrt. »Willst du, dass ich ihnen meinen Fehltritt gestehe? Der Fairness halber?« Ich kam mir vor wie in einem schlechten Traum. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass wir je ein Gespräch wie dieses führen würden.
»Nein. Ich finde, wir sollten all das hinter uns lassen und nach vorn schauen. Ein Neuanfang. Ohne Altlasten.«
Ich zögerte. »Tun wir das den Kindern zuliebe oder auch für uns? Nur damit ich weiß, woran ich bin.« Ich wartete mit angehaltenem Atem, denn trotz allem liebte ich meinen Mann. Sehr.
Er blickte stirnrunzelnd zu mir auf. »Natürlich auch für uns.«
Ich atmete auf. »Schön. Das ist schön. Es tut mir aufrichtig leid, und ich verspreche dir, es ist vorbei. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt.«
Das ist die reine Wahrheit.
Ich war felsenfest davon überzeugt, mit einem völlig Fremden geschlafen zu haben.
Zu Beginn meiner ärztlichen Tätigkeit hatte ich feierlich gelobt, mich im Umgang mit meinen Patienten zu enthalten jedes willkürlichen Unrechtes und jeder anderen Schädigung, auch aller Werke der Wollust.
Ich habe meinen Eid in jener Nacht nicht wissentlich gebrochen, was immer diese kleine Ratte behaupten mag.