Epilog
Alex
Sofort als David am Abend klingelte und mir erzählte, er habe mittags sein Handy vergessen – in unserer Gästetoilette –, wusste ich, es war etwas im Busch. David kann nicht ohne sein Handy sein, schon gar nicht einen ganzen Nachmittag. Er meinte, es wäre so still im Haus, und ich antwortete, Rob wäre seinem Vorschlag gefolgt und hätte die Mädchen zu seinen Eltern gebracht. David schien sich zu freuen und versicherte mir, die Ruhe würde mir helfen, mich zu erholen.
Bestimmt, sagte ich, aber leider, leider hätte ich die Schlaftabletten verbummelt. Er war sichtlich betroffen und bestand darauf, mit nach oben zu kommen und mir beim Suchen zu helfen. Das kam mir ebenfalls ziemlich merkwürdig vor.
Gary Day sorgte dann für eine kurze Unterbrechung, als er plötzlich vor der Tür stand und seinen unvergleichlichen Charme versprühte. Zum Glück ließ er sich abwimmeln, aber ich war ganz froh, dass David von sich aus anbot, noch etwas zu bleiben, für den Fall, dass er wiederkam. Natürlich fanden wir die Tabletten, und als ich nach dem Zähneputzen aus dem Bad kam, saß David auf der Bettkante, steckte grade sein Handy ein und schaute auf die Uhr. Es sah ganz so aus, als hätte er Pläne für den Abend, wartete aber noch auf etwas. Ich schrieb einen Zettel für Rob und klebte ihn an die Schlafzimmertür, sagte David, er könne ruhig gehen, und tat so, als würde ich die
Tablette nehmen und mit einem Schluck Wasser hinunterspülen, in Wirklichkeit behielt ich sie in der hohlen Hand. Dann legte ich mich ins Bett und lächelte ihn an. »Danke für alles, David. Sei mir nicht böse, wenn ich dich nicht zur Tür bringe.« Ich gähnte. »Heute Nacht werde ich endlich schlafen können, Gott sei Dank.«
Er stand auf. »Ich freue mich, dass ich helfen konnte. Gute Nacht und süße Träume.«
Ich deckte mich zu und knipste die Nachttischlampe aus, sobald er die Tür hinter sich zugemacht hatte. Ich hörte das Knarren der Dielen im Flur, dann seine leichten Schritte auf den Treppenstufen. Die Haustür wurde behutsam geschlossen, und ich entspannte mich ein wenig, aber dann kam etwas nicht, das eigentlich kommen musste: das Geräusch des Wagens, der gestartet wurde und vom Hof fuhr. Ich hob den Kopf und lauschte angestrengt, stand schließlich auf, ging zum Fenster und lugte durch den Vorhangspalt. David saß unten in seinem Auto und beschäftigte sich mit seinem Handy. Ich kroch wieder ins Bett, aber als nach fünf Minuten immer noch alles still blieb, trieb mich die Neugierde noch einmal zum Fenster. Der Wagen stand noch da, aber David war auf der Straße unterwegs in den Wald.
Was konnte er vorhaben? Ich ließ die einzelnen Möglichkeiten in Gedanken Revue passieren, dann beschlich mich eine Ahnung. Ich lief um das Bett herum, riss die Kleiderschranktür auf, steckte den Arm in einen meiner kniehohen Stiefel und klaubte das Wegwerfhandy, das Jonathan mir bei unserem zweiten Treffen gegeben hatte, aus der Spitze. Ich schaltete es ein, und fast sofort erschien eine Nachricht von Jonathan.
Bist du da? Bekomme einen txt ›wir müssen uns treffen‹. Ich soll in die BFL kommen. Fremde Nummer. Von dir
?
Ich zögerte. Heiliger Strohsack, David. Wirklich? Warum gab er sich für mich aus? Ich kaute nachdenklich an der Unterlippe.
Nachricht ist von mir. Dachte, du hättest dieses Handy geblockt, benutzte deshalb ein anderes. Dein Vater war heute Abend hier.
WIE BITTE? Warum?
Mit der Erwähnung seines Vaters hatte ich ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt.
Er hatte einiges zu sagen. Erzähle es dir, wenn wir uns sehen.
Du lügst. Spiel nicht wieder mit mir, bitte.
Ehrenwort. Komm. Es ist wirklich wichtig. Du sollst die Wahrheit erfahren. Deine Mutter soll die Wahrheit erfahren. Er ist kein netter Mann.
Mit einem kleinen Lächeln schaltete ich das Handy wieder aus. Das müsste genügen.
Sieh an, sieh an!
David – mein Ritter in schimmernder Rüstung. Wer hätte das gedacht. Ich legte mich wieder hin und musste zugeben, es schmeichelte mir, dass er auf so dramatische Weise antrat, um meine Ehre zu verteidigen. Lieber David, immer für mich da, jahrein, jahraus, nach jeder Dummheit. Der Gedanke, dass er Jonathan in die Schranken weisen würde, erheblich wirkungsvoller, als es Rob gelungen war, nahm mir eine Last von der Seele. Ich zitterte vor nervöser Erwartung, schließlich hielt es mich nicht mehr im Bett, ich stellte mich ans Fenster und harrte der Dinge, die da kommen sollten
.
Es war ein kleiner Schock, als ich nach einer Weile eine Gestalt um die Biegung kommen sah. David. Grade schien der Mond durch eine Wolkenlücke und beleuchtete etwas Merkwürdiges an seinen Füßen. Mein Lächeln erstarb. Was war
das?
Dann erkannte ich es. Tüten, es waren Tüten.
Er hatte verdammte Plastiktüten über seine Schuhe gezogen.
Ich schnappte nach Luft, zuckte vom Fenster zurück und war mit einem Satz wieder im Bett. Mein Herz klopfte so wild, dass mir übel wurde. Was hatte er getan? David?
Wieder wartete ich darauf, dass unten das Auto gestartet wurde, aber stattdessen hörte ich das leise Klicken der Haustür, die aufgeschlossen wurde, und erstarrte unter der Bettdecke.
Er war noch einmal ins Haus gekommen? Wie? Warum? Was hatte er vor? Als er vorhin ging, hatte er die Tür hinter sich ins Schloss gezogen, da war ich ganz sicher. Ich schaute mich hektisch nach meinem Handy um, auch wenn meine innere Stimme mir zuraunte: Selbst wenn du jetzt gleich den Notruf wählst – bis die kommen, bist du längst tot
.
Die Treppenstufen knackten.
Ich kniff die Augen fest zu und dachte an meine beiden Mädchen und an meinen Mann. Wie hatte unser Leben sich zu dieser traurigen Farce entwickeln können? Ich traf stumme, verzweifelte Abmachungen mit Gott, wenn er Erbarmen mit mir hätte, würde ich nie, nie wieder vom Pfad der Tugend abweichen. Ich gelobte, von nun an ein besserer Mensch zu sein. Eine gute Ehefrau, eine vorbildliche Mutter.
Er ging an meiner Tür vorbei, den Flur entlang – zum Badezimmer? Ich hörte Wasser laufen, das Quietschen der Tür des Medizinschranks, dann starb ich wieder tausend Tode, als seine Schritte sich erneut der Schlafzimmertür näherten. Oh lieber Gott, bitte, bitte nicht …
Sie gingen vorbei und die Treppe hinunter ins Erdgeschoss.
Ich wagte kaum zu atmen. Unten das gedämpfte Klirren von
Schlüsseln, die behutsam zurück auf das Sideboard gelegt wurden, das Türschloss schnappte ein und dann – Aufatmen!
– das schönste Geräusch, das ich je in meinem Leben gehört hatte – abgesehen vom ersten Schrei meiner Töchter –, sein Wagen, der gestartet wurde, zurücksetzte und wegfuhr, dann Stille.
Erst nach einer gefühlten halben Ewigkeit wagte ich aufzustehen und nach draußen zu schauen. Er war fort.
Mit zitternden Beinen ging ich noch einmal zum Schrank, holte das Wegwerfhandy aus dem Stiefel und vergewisserte mich, dass es abgeschaltet war. Jonathans Smartphone, das ich vor der Praxis aus seinem Auto gestohlen hatte, war gleich am nächsten Tag, in einer Blechdose ganz unten in der Abfalltüte verstaut, von der Müllabfuhr mitgenommen worden. Auch das Wegwerfhandy musste ich schnellstmöglich loswerden – jetzt gleich, obwohl Rob jede Minute zurück sein konnte, oder lieber bis morgen warten? Ich wollte gerade Socken anziehen, als das vertraute Brummen des Qashqai in der Einfahrt mir die Entscheidung abnahm. Rob war da. Ich schnappte das Handy, sauste ins Bett und unter die Decke, aber alles ging gut. Er las den Zettel und kam nicht herein.
Ich verbrachte die nächste schlaflose Nacht, von Schreckensvisionen heimgesucht, und erst als es hell wurde, war ich so weit zu glauben, dass ich mich in ein absurdes Melodram verstiegen hatte. David war nicht fähig, jemanden zu töten. Ruhig bleiben, sagte ich mir, bestimmt gibt es eine völlig harmlose Erklärung für die nächtlichen Vorkommnisse, doch als ich dann die Polizeisirenen hörte, wusste ich, was man gefunden hatte. Ich setzte ein Lächeln auf, aber als wir an der Lichtung vorbeikamen und ich Jonathans Golf auf dem Abschleppwagen stehen sah, konnte ich die Angst nicht mehr unterdrücken. Ich geriet in Panik. Jonathans Handy war in meiner Handtasche, und dann sagte Rob, die Polizei wäre hinter uns. Ich war überzeugt, sie würden uns anhalten, das Auto und natürlich auch meine Tasche durchsuchen
und dann … Ich hörte im Geiste schon die Handschellen zuschnappen.
Aber nichts passierte. Sie bogen ab, und wir fuhren weiter, einfach so. Ich konnte es mir nur damit erklären, dass David mit der für ihn typischen Sorgfalt vorgegangen sein musste. Trotzdem, falls Jonathan tatsächlich etwas zugestoßen war, fiel der Verdacht automatisch auf mich. Ich brauchte ein Alibi, das erheblich besser war, als eine Schlaftablette es mir bieten konnte. Mir blieb keine andere Wahl, als David anzurufen und ihn zu bitten, für mich zu lügen, was er natürlich nur zu gern tun würde, wie ich wusste. Seine methodische Planung war furchteinflößend. Natürlich ahnte er nicht, dass ich ihn gesehen hatte, aber was nützte mir das? Ich konnte es niemandem sagen. Mein Wort stünde gegen seins – welche Chance hätte ich? Wir sind von nun an auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet, wie er es sich schon immer gewünscht hat. Ich habe nie, auch nicht für eine Minute geglaubt, dass er so etwas tun könnte. Es macht mich krank, wenn ich ihn sehe, wie er mit diesem gütigen Lächeln den nächsten Patienten in sein Sprechzimmer bittet – und doch, er hat mich gerettet. Ich bin rehabilitiert, ich habe meinen Beruf wieder, meine Familie, mein Leben.
Das Wergwerfhandy habe ich in den Teich im Garten meiner Schwiegereltern geworfen, aber der Gedanke daran verfolgt mich bis in den Schlaf. Ich träume von Jonathan in diesem Teich, der durch das trübe Wasser zu mir heraufschaut.
Ich bin kein schlechter Mensch.
Ich liebe meinen Ehemann und meine Töchter, das tue ich wirklich. Jonathan war einfach eine zu große Versuchung.
Was kann ich noch zu meiner Verteidigung vorbringen?
Und wer würde mir glauben?