Kapitel 9

GROSSBRITANNIEN UNTER BESCHUSS, LONDON, HERBST 1940

Grim Glory

Lee Miller1

Die Furcht vermischt sich so sehr mit einer tiefsitzenden, fast unkontrollierbaren Wut, dass man kaum weiß, wo das eine aufhört und das andere anfängt.« In ihrem ersten Bericht über den »Blitz« entfernte Helen Kirkpatrick sich von ihrem sonstigen professionell-neutralen Tonfall und gestand ihre Angst. Sie suchte Zuflucht im Keller von Freunden, wo sie sich überwältigt fühlte vom endzeitlichen Lärm der fallenden Bomben, vom schaurigen Kreischen der deutschen Stukas und Getöse zusammenkrachender Gebäude. Helen war überzeugt davon, dass draußen »das gesamte Zentrum der Stadt weggesprengt wurde«. Doch am folgenden Morgen, als Entwarnung gegeben wurde und sie zu ihrer Unterkunft zurückradelte, staunte Helen, wie wenig Verwüstung sie sah. »London war immer noch da«, schrieb sie. Die ersten Autos wagten sich auf die Straßen zurück, und im frühmorgendlichen Sonnenschein freute Helen sich darüber, dass ihr Häuschen in Mayfair die Angriffe unbeschadet überstanden hatte.2

Die folgenden beiden Monate lag die Stadt Nacht für Nacht unter Beschuss, und wie alle Londoner musste Helen sich an die neuen, durch den »Blitz« bedingten Gegebenheiten gewöhnen: an den stickigen gelben Staub, der sich mit dem beißenden Gestank von Kordit verband; an die Straßen voller Schlaglöcher, die geborstenen Wasserrohre, die zerschossenen Gebäude und ausgebombten Wohnungen und Häuser. Auf dem Höhepunkt der Angriffe buchte die Zeitung ihr ein Zimmer im Dorchester. Obwohl sie ihren Eltern versicherte, dass das betonverkleidete Untergeschoss des Hotels es zur »stabilsten Bleibe« in London mache, suchte sie kaum dort Zuflucht. Wie die meisten Journalisten, die ins Dorchester gezogen waren, stand Helen für gewöhnlich irgendwo oben am Fenster, notierte die Anzahl und Einschlagstellen der Bomben und presste sich flach auf den Boden, wenn eine sehr nahe detonierte.[38] 

Helen spürte die Mischung aus Erregung, Resignation und Furcht all jener, die sich jede Nacht dem Risiko aussetzten, statt sich in die übelriechenden, engen öffentlichen Schutzräume zurückzuziehen. Die Opferzahlen waren hoch – offiziell schätzte man allein im ersten Monat 2100 Tote und 8000 Verletzte. Helens Ansicht nach waren es wahrscheinlich doppelt so viele. Für die Rettungstrupps, die Leichen aus dem Schutt buddeln mussten, und die Feuerwehrleute, die ihr Leben in einstürzenden Gebäuden riskierten, war dieser Winter zermürbend und erschöpfend. Aber Helen bemerkte bei den Briten auch eine bewundernswerte »Zähigkeit, gepaart mit Realismus«. Sie musste zugeben, dass Churchill es mit seinen sonntagabendlichen Radioansprachen an die Nation verstand, sie zu motivieren.3 »[Durch seine] Reden über Blut, Schweiß und Tränen stellte er ihre Zuversicht wieder her. Je schlimmer er die Situation präsentierte, desto besser fühlten sie sich«, konstatierte sie. Das beste Beispiel war ihre Sekretärin Dorothy, die in einer der am schlimmsten betroffenen Gegenden in East London wohnte, aber montagmorgens gestärkt durch Churchills Rede vom Vorabend fröhlich zur Arbeit erschien. »›Der alte Junge zeigt’s ihnen‹, sagte sie, ›er baut einen auf, wissen Sie.‹«4

Während der ersten Wochen des »Blitz« schrieb Helen hauptsächlich über Luftschutzkeller und die Heldenhaftigkeit mutiger Zivilisten. Etliche ihrer englischen Kolleginnen – unter ihnen Iris Carpenter, Hilde Marchant und Audrey Russell – berichteten draußen über die nächtlichen Bombenangriffe, aber eine Kombination aus Ritterlichkeit und nicht weiter hinterfragten Vorurteilen veranlasste Carroll Binder und Bill Stoneman, Helen vor der Gefahr zu schützen. Sie musste mehrere Wochen beharrlich kämpfen, bis auch sie mit Feuerwehr und Sanitätern zu den Angriffen oder den Männern und Frauen ausrücken durfte, die die Stadt mit Flaks und Suchscheinwerfern verteidigten.

Vieles von dem, was sie beobachtete, war zu schrecklich, um es zu schildern, und ihren Eltern gegenüber gestand Helen, dass die auf den Londoner Gehsteigen »hingestreckten« Leichen sie in ihre Träume verfolgten. Doch laut Ben Robertson Jr., einem Korrespondenten der New Yorker Zeitung PM, zeigte sie keinerlei Anzeichen von Verzweiflung, sondern war vielmehr dafür bekannt, dass sie professionell gelassen durch den »Blitz« fuhr. Der einzige Hinweis auf Angst sei ein »leichtes Zusammenpressen der Lippen« gewesen, wenn der Boden von einer Explosion in der Nähe erschüttert wurde oder eine Brandbombe zu nahe an ihr vorbeizischte.5 Einmal wurde sie tatsächlich aus einem Gebäude hinausgefegt, worauf sie – so Robertson – ihre Schnittverletzungen und blauen Flecken mit einem Achselzucken abtat und sich weiter Notizen machte. Helen Kirkpatrick sei »eine der sechs mutigsten Frauen von London«, behauptete er. Die Chicago Daily News veröffentlichte sogar ein halbseitiges Profil ihrer Starreporterin und brüstete sich damit, dass diese »schlanke und elegante Frau, kaum über dreißig, stündlich flammende Kapitel der Zeitungsgeschichte schreibt – was noch nie eine Auslandskorrespondentin vor ihr getan hat und vermutlich auch keiner ihrer Zeitgenossinnen gelingt«.6[39] 

In der zweiten Novemberhälfte des Jahres 1940 konzentrierte die Luftwaffe ihre mörderischsten Angriffe auf die Stadt Coventry in den Midlands. Wenn die Menschen aus den Schutzräumen auftauchten, boten sich ihnen grässliche Bilder – ein ganzes Viertel hinweggefegt, ein Hund, der mit dem Arm eines Kindes im Maul herumlief. Helen, die davon berichten sollte, konnte nur ganz allgemein über »den rauchenden Schutthaufen« und die elend auf den Straßen herumlungernden Obdachlosen schreiben. Diese »umklammerten die jämmerlich wenigen Habseligkeiten, die sie aus den Trümmern hatten retten können«.7 Noch weniger konnte sie sich über den Schaden äußern, den die Moral der Stadt nahm.

Tapferkeit, nicht Verzweiflung, war die Botschaft, die die Medien aussenden sollten, und wie ihre Kollegen schwieg sich Helen fast völlig über die andere Seite des »Blitz« aus, über die frisch bombardierten Gebäude und Leichen, die nachts geplündert wurden. Auch über die Wut und Verbitterung in den ärmeren Gegenden des Landes, größtenteils dicht besiedelte Industriegebiete, die die Wucht der Angriffe am schlimmsten traf, ließ sie sich nicht aus. Als Churchill Hafenarbeiter und ihre Frauen im East End besuchte, quittierten diese seine Versicherung, die Nation werde das »verkraften«, mit Verachtung und Hohn. »Sie können das verdammt noch mal verkraften«, rief eine Frau. »Aber wir haben die Schnauze voll.«

Journalisten und Redakteure übten so etwas wie Selbstzensur und mussten sich überdies Militärzensoren unterwerfen, die ihre Berichte nicht nur nach negativen Kommentaren durchkämmten, sondern auch nach möglicherweise nützlichen Informationen für den Feind. Dies war nötig, das wusste Helen, doch es frustrierte sie. Als Journalistin, der es um einen hohen Grad an Genauigkeit ging, fiel ihr dieses ständige Abwägen von Wahrheit und Zweckdienlichkeit schwer, und sie erkannte durchaus die Ironie, dass in einem Krieg, der der Verteidigung von Freiheit und Demokratie diente, das erste Opfer die Pressefreiheit wurde.[40] 

In Deutschland war die Vorstellung von einer freien und ehrlichen Presse schon längst passé. Während die Briten immerhin noch bis zu einem gewissen Grad militärische Verluste zugaben, war den deutschen Medien lediglich speichelleckerische Euphorie gestattet. In ihren Berichten wurde kaum jemals eingestanden, dass auch nur ein Flugzeug abgeschossen worden oder ein Einziger gestorben war. Im Sommer 1940 jedoch fiel es allmählich schwer, diese kollektive Lüge aufrechtzuerhalten, weil britische Flugzeuge begannen, Berlin und somit das Herz des Naziregimes anzugreifen.

Die erste Bombe fiel am 25. August. Obwohl sie relativ wenig Schaden anrichtete, waren die Berliner fassungslos. Göring hatte stets geprahlt, die Luftabwehr der Stadt sei unüberwindbar, und so war niemand auf das nächtliche Heulen der Sirenen, das manische Flakfeuer und den gestörten Schlaf vorbereitet. Der Öffentlichkeit entging außerdem nicht, dass die Presse den Londoner »Blitz« nach wie vor als Hitlers fantastische Rache an Churchill verkaufte. Aber unterdessen verflüchtigten sich sämtliche Versprechen eines schnellen Sieges, und die bunten Tribünen für eine bevorstehende Septemberparade waren stillschweigend abgebaut worden. Mehr und mehr Deutsche fingen an, den Sinn dieses Krieges infrage zu stellen, und ein offen verräterischer Witz machte die Runde: Ein Flugzeug mit Hitler, Göring und Goebbels stürzt ab. Alle drei kommen um. Wer wird gerettet? Antwort: das deutsche Volk.

Sigrid jubelte, als die ersten Wellingtons und Hampdens der RAF über Berlin auftauchten, und feuerte sie von einem Balkon aus mit ihren Kollegen an. Der zweite Angriff erfolgte in der Nacht ihrer Sendung für das Mutual Broadcasting System. Obgleich beim Haus des Rundfunks keine Bomben abgeworfen wurden, regnete es heißes Metall von den Flaks. Das Aufnahmestudio befand sich nicht im Hauptgebäude, sondern in einem kleinen Holzbau auf dem Gelände. Sigrid mochte den 200 Meter langen Weg dorthin spät in der Nacht nur im schwachen Schein einer Taschenlampe nie. Selbst ohne Bomben musste sie über eine wackelige Treppe und an SS-Leuten vorbei, die drohend ihre Waffen auf sie gerichtet hielten, während sie nach ihrem Passierschein suchte. Und mit dem Beginn der Luftangriffe wurde der Weg nachgerade gefährlich. Als Bill Shirer von seiner eigenen Sendung zurückkehrte, flehte er Sigrid an, ihre ausfallen zu lassen. Niemand, sagte er, würde ihr Vorwürfe machen, wenn ein paar Minuten Sendezeit frei blieben. Doch Sigrid ließ sich nicht abbringen, und als sie im Dunkeln ins Studio hinüberhastete, stolperte sie, und ein glühend heißes Schrapnellstück traf sie am Knie.

Trotz Schock und Schmerzen weigerte Sigrid sich umzukehren. Sie verlas ihren Text, aber die Sendeanlage im Haus des Rundfunks war während des Angriffs beschädigt worden. Somit erwies sich ihr heroischer Akt als sinnlos. Außerdem entpuppte sich ihre Verletzung als ernst, und geschwächt, wie sie dadurch war, zog sie sich kurz darauf eine Bronchialinfektion zu und musste zur Behandlung einer leichten Lungenentzündung in eine Klinik in der Nähe von Zürich.

Diese Erkrankung war mit Sicherheit kein Vorwand – Sigrid hatte die »schwache Brust« ihres Vaters geerbt –, doch höchstwahrscheinlich bauschte sie sie auf, um den Nazis ein Schnippchen zu schlagen. Kurz vor der Abreise nach Zürich schrieb sie McCormick einen fünfseitigen Brief mit gefährlichen Informationen, den sie nur außerhalb Deutschlands aufgeben konnte. Von ihren beiden treuen Quellen Johannes Schmitt und Kurt von Hammerstein hatte sie erfahren, dass Hitler zwei alternative Strategien abwäge für die Zeit, nachdem er Großbritannien in die Knie gezwungen hätte. Entweder er würde sich nach Westen wenden und Roosevelt durch einen Angriff auf die amerikanischen Handelsinteressen zwingen, in den Krieg einzutreten, oder nach Osten, um seine Kontrolle über den Balkan zu konsolidieren und danach seinen Pakt mit Stalin für null und nichtig zu erklären und seine Waffen gegen Russland zu erheben. Sigrid vermutete völlig richtig, dass er sich für die zweite Option entscheiden würde. Sie versprach McCormick, bald schon die nötigen Belege für diese Vermutung zu liefern. Sobald sie aus der Klinik entlassen wäre, wollte sie zu Nachforschungen in den Balkan sowie nach Mitteleuropa und Griechenland fahren.

Sigrid erklärte nicht, wie es ihr gelang, die Genehmigung für diese fast 5000 Kilometer lange Reise zu erhalten, die ihr belastende Informationen über die Stärke der in jenem Herbst in Rumänien einmarschierenden Truppen verschaffen würde. Möglicherweise wollten die Nazis sie aus Berlin heraushaben, denn in Sigrids Abwesenheit wurden Anschläge auf Schmitt und von Hammerstein verübt. Die Methode verwies eindeutig auf die Gestapo – gepanzerte Wagen mit verdunkelten Fenstern versuchten, die beiden Männer in ihren Autos von der Straße zu drängen. Sigrid fürchtete, sie selbst habe sie in Gefahr gebracht. In Zürich hatte sie aus Angst davor, überwacht zu werden, ihren brandgefährlichen Brief für McCormick einem der Klinikärzte anvertraut, damit er ihn für sie aufgab. Etliche Wochen später erfuhr sie, dass besagter Arzt angeblich ein Handlanger der Nazis war und ihr Schreiben möglicherweise an die Partei weitergeleitet hatte. Obwohl sie ihre Quellen nicht namentlich nannte, befanden sich darin doch genug Informationen, die in ihre Richtung wiesen. Umgeben von Spionen und unfähig, sich zu bewegen, ohne sich selbst oder ihre Freunde zu gefährden, akzeptierte Sigrid schließlich, dass sie von Berlin wegmusste.

Diese Entscheidung hatte sich bereits Anfang Oktober abgezeichnet: »Ihnen ist hoffentlich klar, dass ich … nie eine Drückebergerin gewesen bin«, schrieb sie McCormick, »aber nach allem, was ich gesehen und erlebt habe, glaube ich, ich sollte diesen Winter eine Weile nach Hause fahren, um mich zu erholen.« Schon vor dem Anschlag auf ihre Informanten hatte sie bezweifelt, weiterhin gegen das Regime kämpfen zu können. Die aktuellsten »Gesetze zum Hochverrat« legten ihr so wirkungsvoll »einen Maulkorb« an, dass sie tatsächlich meinte, von zu Hause aus einen besseren Hebel gegen die Nationalsozialisten zu haben. Doch sie befand sich auch persönlich auf dem Tiefpunkt, das gab sie McCormick gegenüber zu: »Ich habe nicht gegen Gesetze verstoßen, aber der permanente Versuch, mich in eine Falle zu locken, gibt mir gelegentlich das Gefühl, nicht mehr damit fertig zu werden. Man hat mich sogar als Jüdin denunziert etc.« Sigrid spielte diesen Punkt bewusst herunter, in der Hoffnung, dass McCormick ihn »aus der Ferne komisch« finden könnte. Ihr selbst machte er natürlich am meisten Angst.8

Sigrid plante sorgfältig die Route durch die Schweiz, Vichy-Frankreich und Spanien und weiter nach Lissabon, von wo aus sie mit dem Schiff nach New York fahren wollte. In den Wochen vor ihrer Abreise aus Berlin merkte sie, dass man ihr auf den Fersen war. Sie wurde von der Straße geholt und im Hauptquartier der Gestapo verhört, einem düsteren kasernenartigen Gebäude an der Prinz-Albrecht-Straße, von dessen Labyrinth weißgefliester Zellen bekannt war, dass sich darin Akte unbeschreiblicher Brutalität abspielten. Die Leute, die sie befragten, verletzten sie zwar nicht körperlich, verstanden es jedoch meisterhaft, sie einzuschüchtern. Sie erklärten Sigrid, dass ihr John-Dickson-Alias aufgeflogen sei und die Partei, falls weitere Artikel unter seinem Namen erschienen, »wissen würde, woher sie kamen«. Diese einigermaßen unverhohlene Drohung wurde noch schlimmer durch die Steine, die man ihr im Hinblick auf ihre Abreise in den Weg legte. Sigrid hatte mit Verzögerungen bei der Gewährung ihres Ausreisevisums gerechnet, das sowohl vom Auswärtigen Amt als auch von der Gestapo genehmigt werden musste. Darüber hinaus hielt Goebbels, der Angst hatte vor dem, was sie möglicherweise veröffentlichen würde, sobald sie von Berlin weg wäre, ihren Antrag zurück. Als es der amerikanischen Botschaft Anfang Februar endlich gelang, ihre Abreise zu erzwingen, war Sigrid mit den Nerven am Ende. Sie hatte fast ein Jahrzehnt lang die Schikanen des Regimes ertragen; nun, da die Freiheit so nah war, zuckte sie bei jedem Klopfen an der Tür und bei jedem beschleunigenden Wagen auf der Straße zusammen. Nicht einmal im Zug in Richtung Schweiz konnte sie sich entspannen. Fluchtrouten aus Deutschland heraus wurden immer wieder ohne Vorwarnung geschlossen, Züge fielen ohne Angabe von Gründen aus, Dokumente wurden verweigert. Sigrid fürchtete, jeden Moment könnten SS-Leute ihr Abteil betreten und sie nach Berlin zurückbringen.

Als sie schließlich Mitte Februar das Schiff erreichte, war sie erschöpft und körperlich am Ende: In einem Interview bezeichnete sie ihre Krankheit als »Kriegstyphus«, in einem anderen erklärte sie, sie sei »von der falschen Art Wanze« gebissen worden. In Amerika brauchte sie Monate, um sich zu erholen, und hörte nie auf, ängstlich über die Schulter zu blicken. Ein kleinerer Verkehrsunfall, in den sie in New York verwickelt war, überzeugte sie davon, dass Nazischergen sie verfolgten, und eine Weile weigerte sie sich, irgendwohin mit dem Auto zu fahren. Trotz allem, was Sigrid durchgemacht hatte, war sie nach wie vor entschlossen, nach Berlin zurückzukehren, und reagierte wütend und verbittert, als McCormick sich nicht dafür einsetzte. Er hatte guten Grund zu der Annahme, dass sie in Deutschland nicht länger sicher wäre: Ihr Name stand auf der schwarzen Liste amerikanischer Journalisten, die man nicht in ihre Heimat zurücklassen würde, falls oder wenn die beiden Länder einander den Krieg erklärten, das stellte sich später heraus. Aber McCormick hatte auch seine eigenen Motive, sie von Berlin fernzuhalten. Als nach wie vor unerschütterlicher Isolationist machte ihm die veränderte Einstellung Amerikas Sorge: Präsident Roosevelt hatte kurz zuvor ein Leih- und Pachtgesetz unterzeichnet, aufgrund dessen sich amerikanische Waffen gegen zeitlich verzögerte Bezahlung an Großbritannien liefern ließen. Und die amerikanische Bevölkerung, von der anfangs 77 Prozent gegen den Krieg gewesen waren, begann zu akzeptieren, dass es die Pflicht ihrer Nation sei zu kämpfen. In einem solchen gedanklichen Klima wollte McCormick Sigrid nicht wieder in Berlin haben, wo sie weiter deutschenfeindliche Artikel verfassen und gefährliche Fakten ausgraben und damit die amerikanische Neutralität untergraben würde.

Da ihr Berlin solchermaßen verschlossen blieb, bettelte Sigrid, anderswohin versetzt zu werden – in ein neutrales Land wie Portugal oder die Schweiz, wo sie immerhin ihr Wissen über die europäische Politik nutzen könnte. Doch auch das verwehrte ihr McCormick. Während sie ihren Kreuzzug gegen die Nationalsozialisten fortsetzte, indem sie in Klubs und Colleges in Amerika Vorträge hielt und unter höchster Geheimhaltung Informationen an das Office of Strategic Services (ein Vorläufer der CIA) weitergab, wurde sie im Wesentlichen dreieinhalb Jahre von ihrer Journalistenkarriere ferngehalten. Erst im Januar 1945 konnte sie sie wiederaufnehmen, als die Truppen der Alliierten in Deutschland einzumarschieren begannen und McCormick keine Argumente mehr hatte, sie an ihrer Rückkehr zu hindern.[41] 

Sigrid mochte zwar seit Anfang 1941 kaltgestellt sein, aber auch andere amerikanische Stimmen argumentierten für einen Kriegseintritt, und eine der leidenschaftlichsten war Virginia Cowles. Sie hielt sich seit dem zweiten Tag des »Blitz« erneut in London auf und berichtete die folgenden drei Monate regelmäßig. Er unterschied sich völlig von allem, was sie aus Finnland oder Spanien kannte, stellte sie fest. »Die blendenden Lichtblitze von Artilleriefeuer und das lang gezogene Zischen der Bomben« wirkten auf sie unerbittlicher als irgendeiner der Angriffe, die sie bis dahin erlebt hatte.9 Wie fast jeden in London brachte ihre erste Nacht des »Blitz« sie vollkommen aus der Fassung. Beim Klang der Sirenen bekam sie weiche Knie, und sie betete nur noch um einen sauberen, »unverzüglichen« Tod.10 Den ungewöhnlich strahlend blauen Himmel fand sie besonders grausam – jeden Tag schien die Sonne mit einem »Mona-Lisa-Lächeln« auf die Verwüstung herab. Doch sie lernte, sich anzupassen, ging hinaus auf die lodernden Straßen, um ihre Berichte zu verfassen, und rang sich sogar ein Dankeslächeln ab, als ein Kellner bei einem Abendessen in einem Lokal ihr die Nachricht überbrachte, dass ihre Unterkunft von einer Brandbombe getroffen worden sei.

Im Dezember geriet Virginia an ihre Grenzen. Sie glaubte, alles, was sie der Sunday Times über den »Blitz« mitteilen wollte, gesagt zu haben und ihre Schreibmaschine für bedeutend Sinnvolleres nutzen zu können. Also verließ sie London und tippte in den folgenden sechs Monaten ohne Ablenkung durch Abgabetermine und Bomben den Text eines Buches in die Maschine, durch das sie hoffte, ihre amerikanischen Leser und Leserinnen zu einer aktiveren Unterstützung des Krieges zu bewegen.

Looking for Trouble präsentierte in Memoirenform vorgeblich Virginias prägende Erfahrungen als Kriegsberichterstatterin. Darin schilderte sie lebhaft und selbstironisch ihre frühen Abenteuer und Missgeschicke, argumentierte jedoch gleichzeitig, der Kampf gegen Hitler sei keine ferne, fremde Auseinandersetzung, sondern eine Schlacht um Freiheit und Gerechtigkeit, die die ganze Welt angehe. Virginia schrieb eloquent über all jene, die der Tyrannei bereits zum Opfer gefallen waren: »die in Lumpen gekleideten Soldaten, die in den Bergen in der Nähe von Madrid kämpften; die weinenden Frauen auf den Straßen Prags; die verzweifelten Flüchtenden, die über die polnischen Grenzen strömten; die finnischen Patrouillen, die auf Skiern durch die eisbedeckten Wälder der Subarktis glitten; die Massen verängstigter Menschen auf der Straße von Paris nach Tours.«11 Und sie verurteilte die amerikanische Regierung dafür, dass sie diesen Menschen nicht zu Hilfe kam. Im letzten Kapitel mit der Überschrift »Nur vereint werden wir stehen« schwang sie sich fast schon zu einer Churchill würdigen Rhetorik auf und forderte leidenschaftlich von ihrem Land: »Richten wir uns zu unserer vollen Größe auf und kämpfen wir Seite an Seite mit Großbritannien, bis wir einen Sieg errungen haben, der so umfassend ist, dass er noch viele Jahrhunderte kraftvoll nachhallen wird …«12

Während Virginia auf dem Land am Tonfall ihrer polemischen Schrift feilte, wurde die amerikanische Fotografin Lee Miller eher zufällig in das Kriegsgeschehen hineingezogen. Ihre Karriere als Fotografin war tief in der Mode und der surrealistischen Avantgarde verwurzelt, und obwohl sie den Faschismus wie alle Formen der Schikane moralisch verachtete, hatte sie sich nie öffentlich engagiert. Ihrer Auffassung nach war Politik ein Spiel für Regierungen, das sich ihrer Kontrolle entzog. Ihr Leben hatte sich stets um die eigenen Belange gedreht – um die Suche nach dem nächsten Liebhaber, dem nächsten Abenteuer, dem nächsten aufregenden kreativen Höhenflug.

Aber zufällig lebte Lee zu Kriegsbeginn mit ihrem englischen Liebhaber Roland Penrose in London. In den ersten Monaten des »Blitz« beobachtete sie, wie aus der geschundenen Stadt eine brutale und zutiefst fotogene Poesie erwuchs. Eine zerbeulte Schreibmaschine, die eine Explosion von einem Büroschreibtisch gefegt hatte; eine angeschlagene, schmutzige Marmorstatue im Schutt; die Tore einer Kapelle in Camden, zwischen denen sich nicht Gläubige, sondern kaputte Ziegelsteine drängten. Diese Dinge warfen für Lee nicht nur ein Schlaglicht auf Londons physische Zerstörung, sie deutete sie als Metaphern der Gewalt, die Kultur und Zivilisation angetan wurde.

Irgendwann wurde Ernestine Carter, eine stilbildende Mitarbeiterin des Informationsministeriums, auf die gespenstische, statuarische Schönheit von Lees »Blitz«-Fotografien aufmerksam. Carter empfand sie als weit wirkungsvollere und interessantere visuelle Propaganda als die zunehmend klischeehaften Bilder von grinsenden Luftschutzwarten, aufgerissenen Straßen und brennenden Hafenanlagen, die die Presse beherrschten. Deshalb überredete sie Lee, ihre Bilder in einen Fotoband aufnehmen zu lassen, den sie herausgab. Dieser Band trug den Titel Grim Glory: Pictures of Britain Under Fire und wurde im Mai 1941 mit einer aufrüttelnden Einleitung des amerikanischen Radioreporters Ed Murrow und einer noch mitreißenderen Widmung für Winston Churchill an die amerikanischen Buchhandlungen ausgeliefert.

Es handelte sich um ein wunderschön gestaltetes Werk, um eine höchst niveauvolle Waffe in der Kampagne, Amerika zum Krieg zu überreden. Doch für Lee hatte dieses Buch eine sehr viel persönlichere Bedeutung. Indem sie die Auswirkungen des »Blitz« fotografierte und sich engagierte, meinte sie, endlich ein Thema und eine Sache gefunden zu haben, die ihr Auge, ihr Gehirn und ihre Kunstfertigkeit optimal fokussierten: »Brennende Gedanken hatte ich schon jahrelang gehabt«, schrieb sie, »nun plötzlich fand ich einen Haken, an den ich sie hängen konnte.«13

Lee behauptete gern, sie sei »praktisch in einer Dunkelkammer zur Welt gekommen und aufgewachsen«.14 Ihr Vater Theodore Miller war Maschinenbauingenieur und begeisterter Bastler und stets aufgeschlossen für technische Neuerungen. Sein Interesse an Fotografie schloss die gesamte Familie ein. Die meisten Bilder, die Theodore in seinem häuslichen »Fotolabor« entwickelte, waren Porträts seiner Frau Florence, seiner Söhne John und Erik und seiner Tochter Elizabeth (»Li Li«, später einfach »Lee«), die am 23. April 1907 zur Welt kam. Viele davon entstanden auf dem weitläufigen Gelände von Cedar Hill Farm am Rand von Poughkeepsie, wohin die Familie 1912 zog.

Als Vater folgte Theodore egalitären Prinzipien, und die kleine Lee genoss die gleichen Freiheiten wie ihre Brüder. Sie trug Latzhosen und Gummistiefel und vertrieb sich die Zeit wie sie mit Spielzeugsoldaten und Autos. Als wissbegierigstes der Kinder war es letztlich sie, die sich am stärksten für Theodores Fotografie interessierte, und als sie eine Boxkamera geschenkt bekam, fotografierte sie gern Seite an Seite mit dem Vater und saß in der Dunkelkammer, während er die winzigen trüben Negative wie durch Zauberhand in Abbildungen der Familie und ihres Zuhauses verwandelte.

Trotz Lees Behauptung, sie habe die Fotografie stets als ihre Berufung gesehen, gab es eine lange Phase, in der sie keinerlei Interesse daran zeigen konnte. Im Alter von sieben Jahren wurde sie vergewaltigt, und dieses Trauma übte eine zerstörerische Wirkung auf ihre Persönlichkeit, ihr Selbstvertrauen und ihre Konzentration aus.

Die Vergewaltigung ereignete sich, als ihre Mutter Florence krank wurde und Lee zu Freunden der Familie nach Brooklyn schickte. Eigentlich wäre das eine gute Lösung gewesen, denn Lee fühlte sich bei Mr und Mrs Kajderdt »ganz wie zu Hause«, doch eines Nachmittags ging das Paar aus, und ein junger Mann, ein Verwandter oder Untermieter, passte auf sie auf.15 Was genau passierte, ist nicht klar, weil die Millers hinterher kaum in der Lage waren, darüber zu sprechen. Aber um Vergewaltigung handelte es sich eindeutig, denn dabei wurde Lee mit Tripper infiziert. In den folgenden zwölf Monaten musste das kleine Mädchen sich einer grässlichen Tortur unterziehen: Einmal täglich ertrug sie eine Vaginalspülung, und zweimal wöchentlich wurde ihr Gebärmutterhals abgetupft. Die ausgebildete Krankenschwester Florence übernahm das selbst, obgleich es sowohl für sie als auch für ihre Tochter eine Qual war, die Lee die Vergewaltigung wieder und wieder durchleben ließ.

Man muss Florence und Theodore hoch anrechnen, dass sie mit Lee einen Psychiater aufsuchten, doch der war überfordert. Zwar versuchte er Lee zu erklären, dass dieser Übergriff auf ihren Körper keinerlei Ähnlichkeit habe mit einvernehmlicher ehelicher Liebe, aber wie sollte ein siebenjähriges Kind das begreifen? Lee fühlte sich schmutzig und beschädigt. Jahre später sprach sie von dem »unangenehm angeschwollenen Gefühl, das mich seit meiner Kindheit verfolgt«. Die einzige Möglichkeit, mit diesem Trauma umzugehen, bestand für sie darin, eine öffentliche Version davon auszuleben, indem sie zu Hause grob, manipulativ und ungebärdig wurde und in der Schule den Klassenclown spielte.16

Lee flog etliche Male von der Schule; ihre Bildung lässt sich bestenfalls als lückenhaft bezeichnen. Doch sie war ein kluges, kreatives Kind, und die letzte Schule, die sie besuchte – sie wurde von Quäkern geführt –, half ihr, ihr Ungestüm in die Überzeugung zu verwandeln, dass sie etwas aus ihrem Leben machen konnte. Außerdem wollte sie unbedingt von Poughkeepsie weg. Die Gelegenheit dazu ergab sich unerwartet, als eine frühere Lehrerin ihr anbot, sie nach Südfrankreich mitzunehmen, wo sie und eine Kollegin angeheuert worden waren, an einem Mädchenpensionat zu unterrichten. Theodore und Florence, erschöpft von den Versuchen, die schwierige Tochter zu bändigen, nahmen das Angebot von Madame Kohoszynska dankbar an, überzeugt davon, dass sie eine geeignete Aufsichtsperson wäre. So ging Lee am 29. Mai 1925 euphorisch an Bord der SS Minehaha, um nach Frankreich zu reisen. Für dieses Abenteuer war die Achtzehnjährige mit dem modischsten Glockenhut und Paisleykleid ausstaffiert, die Poughkeepsie zu bieten hatte.

Vielleicht hätten die Millers vorhersehen müssen, dass ihre Tochter nicht lange in Gesellschaft zweier Frauen mittleren Alters bleiben würde. Sobald das Trio in Paris angekommen und in einem billigen Hotel abgestiegen war (das sich zu Lees Entzücken und Madame Kohoszynskas Verwirrung als Bordell entpuppte), verkündete sie, sie werde in der Stadt bleiben und nicht mit den beiden Damen weiter nach Nizza reisen. Sie bat Theodore telegrafisch um Geld (ein Wunsch, den er ihr erfüllte, weil er sich nicht anders zu helfen wusste), mietete eine winzige Dienstbotenkammer an und begann, sich als Pariser Garçonne neu zu erfinden.

Lees Erwartungen an Paris unterschieden sich deutlich von denen Martha Gellhorns. Sie fühlte sich von Künstlern und Schauspielern angezogen, weniger von Schriftstellern, und als sie eine Kunstakademie gefunden hatte, die Kurse für Bühnenbildner anbot, schloss sie sich einer Gruppe an, die experimentelles Theater machte und sich über ihre Mitarbeit an Kostümen und Ausstattung freute. Zudem war Lee mit weit weniger moralischen Skrupeln nach Paris gekommen als Martha. Nachdem sie sich von ihrem Collegetutor hatte verführen lassen, stürzte sie sich in eine Zeit der entschlossenen sexuellen Selbsterkundung. Mittlerweile war sie zu einer veritablen Schönheit herangewachsen – groß, schlank, zart, blond und mit einer Ausstrahlung, die sogar in einer Stadt wie Paris dafür sorgte, dass sich die Leute nach ihr umdrehten. Trotzdem blieb sie nach wie vor ziemlich naiv, und in ihrem Bestreben, nicht wie ein prüdes Provinzei zu wirken, ließ sie sich auf einige, wie sie sie später nannte, »unschöne Affären« ein, die sie damals nicht als solche erkannte.17 Die Stadt der Lichter schien Lee unendliche Möglichkeiten zu bieten; sie war begeistert, wie begehrenswert man sie fand, und überzeugt davon, dass »alles offen vor mir lag«.18

Florence und Theodore waren natürlich weniger entzückt von Lees Paris-Abenteuer, und als sie ihr schließlich weitere Zahlungen verweigerten und sie zwangen, nach Hause zurückzukehren, glaubte Lee, um ihre Zukunft betrogen zu sein. Ihr gesamtes Erwachsenenleben litt sie phasenweise unter Depressionen – dann waren ihr Gehirn und ihr Körper so gelähmt vom Elend, dass sie kaum aus dem Bett kam –, und die ersten Wochen in Poughkeepsie, in denen sie in tiefe Verzweiflung stürzte, gehörten zu den schlimmsten ihres Lebens. Ihr fehlten nicht nur die Geschäftigkeit und die Farben von Paris, sie begann auch an allem zu zweifeln, was sie zu erreichen versucht hatte. Ihre Tagebucheinträge gerieten zu einer düsteren Selbstgeißelung, wenn sie auf ihre Affären zurückblickte. Dann quälte sie sich mit dem Gedanken, sie habe sich, statt in ein künstlerisches Erwachsenenleben hineinzuwachsen, lediglich verhalten wie »ein Tier mit ungesunden Begierden«. Sie habe, schrieb sie, das Muster eines »Daseins voll verkommener Erfahrungen« angelegt und fürchtete, niemals zu erleben, was es hieß, »ausschließlich und keusch« um ihrer selbst willen geliebt zu werden.19

Diese Wochen, gestand sie, führten sie »näher an den Rand des Selbstmordes« als je etwas zuvor, doch letztlich war Lee zu jung und energiegeladen, um lange zu leiden.20 Die Bühnenbildnerei fand sie nach wie vor interessant, und sobald ihre Kraft wiederkehrte, schrieb sie sich für einen Kurs am nahe gelegenen Vassar College ein. Mehrere Monate lang vertiefte sie sich in ihre neuen Studien und in die Projekte, die sie mit einer kleinen Theatergruppe in New York plante. Aber sie war rastlos und selbstkritisch und glaubte plötzlich, ihren Entwürfen fehle »Genie«, weswegen sie zu dem Schluss kam, dass ihre Begabungen sich besser für eine Laufbahn als Tänzerin eigneten. Als Kind hatte sie ja Ballettstunden gehabt. Aufgrund ihres Aussehens und ihrer Größe wurde sie tatsächlich als Revuegirl für die Broadway-Show Scandals engagiert. Sie mietete ein kleines Zimmer in einem Manhattaner Hotel, und während sie in Schminke und Klatsch aus dem Bühnenleben schwelgte, war Lee erst einmal davon überzeugt, dass ihr Körper ihr neues kreatives Medium werden und der Tanz ihr den Weg aus Poughkeepsie heraus ebnen würde.

Kaum zwei Monate vergingen, bis diese Überzeugung sich wieder verflüchtigte. »Meine Finger fühlen sich leer an vor Sehnsucht, etwas zu schaffen«, notierte sie verdrießlich in ihrem Tagebuch. Nachdem sie ihren Lebensunterhalt vorübergehend als Unterwäschemodell verdient hatte, schrieb sie sich für einen Malkurs an der Art Students League in New York ein,21 wo sie einige sehr enge Freundschaften schloss. Wenn sie wollte, konnte es viel Spaß machen, mit Lee zusammen zu sein, denn sie war weltgewandt, neugierig, wagemutig und großzügig und liebte die Gesellschaft anderer Frauen. Doch sie konnte sich nie von der Unruhe und Unzufriedenheit befreien, die sie permanent zwischen eigensinnigem Enthusiasmus und lustloser Desillusionierung oszillieren ließen. Nach einigen Monaten gelangte sie zu der Einsicht, dass sie weder die Begabung noch die Vision einer echten Künstlerin besaß. »Sämtliche Gemälde sind schon gemalt«, meinte sie, verabschiedete sich mit dem trotzigen Gefühl, ihren schlimmsten Instinkten nachzugeben, von ihren kreativen Ambitionen und driftete in ein Leben voller Partys und Liebesaffären unter den Reichen von Manhattan.22

»Ich sah aus wie ein Engel … war aber innerlich ein Teufel«, stellte sie später fest. Möglicherweise hätte sie sich völlig verloren, wenn sie nicht mehr oder minder buchstäblich in eine neue Richtung gestoßen worden wäre.23 Eines Nachmittags Anfang 1927 überquerte sie gedankenversunken eine Straße, als ein groß gewachsener, auffällig teuer gekleideter Mann sie packte, um zu verhindern, dass sie direkt vor ein Auto lief. Ihr Retter war der Großverleger Condé Nast. Bei genauerer Betrachtung der jungen Frau in seinen Armen stellte er fest, dass sie nicht nur außergewöhnlich hübsch war, sondern trotz ihres Schocks auch natürliche Eleganz und Stil besaß.

Lee hatte eine Zukunft vor der Kamera, davon war Nast überzeugt. Er gab seinem Bauchgefühl so schnell nach, dass er ihr Gesicht bereits im März auf das Cover der Vogue brachte, und im Sommer setzte er sie in seinem Topteam von Modemodellen ein. Die langgliedrige Lee war prädestiniert für die stromlinienförmige Couture dieser Zeit, und ihre ausgeprägten Gesichtszüge kamen auf Film wunderbar zur Geltung. Und es gab noch einen weiteren Grund, warum die Fotografen von Vogue und Vanity Fair so gern mit ihr zusammenarbeiteten: Sie war ungewöhnlich professionell. Das jahrelange Posieren für ihren Vater sowie die kurzen Episoden als Tänzerin und Unterwäschemodell sorgten dafür, dass sie nicht wie eine unbeholfene Anfängerin wirkte, und die letzten Hemmungen, die sie vielleicht noch gehabt haben mochte, waren durch die Aktstudien beseitigt worden, an denen sie und Theodore kurz zuvor gearbeitet hatten.[42] 

Lee ging an diese Aktstudien heran wie an ein Kunstprojekt, übte mit der Ernsthaftigkeit einer Tänzerin und arbeitete sogar mit einem Spiegel, um zu sehen, wie eine Drehung der Hüfte oder eine Beugung des Rückens ihren Körper noch attraktiver erscheinen ließ. Sie war sich des künstlerischen Werts des Projekts so sicher, dass sie einige ihrer Freundinnen ermutigte, sich daran zu beteiligen. Obwohl Lee sich nicht gezwungen fühlte, Nacktmodell für ihren Vater zu sein, und Florence bei den meisten der Sitzungen anwesend war, fällt es schwer, diese Bilder heutzutage ganz ohne Bedenken zu betrachten. Einige von Lees Posen wirken ziemlich lasziv, und man fragt sich, ob Theodore, als er seine Tochter bat, sich vor seiner Kamera zu entblößen, auch an das kleine, verängstigte Mädchen dachte, dem man so brutal die Unschuld geraubt hatte, ob ihn je Zweifel hinsichtlich der Angemessenheit dessen plagten, was er tat.[43] 

Seinerzeit bewertete man Mr Millers Aktfotos als geschmackvoll, künstlerisch wertvoll und modern, und Lee kamen sie beruflich zugute, denn sie halfen ihr, sich in ihrem neuen Metier hervorzutun. Lee fand die Fotografen, mit denen sie arbeitete, aufregend – Männer wie Edward Steichen, dessen meisterhafte Beherrschung von Licht und Komposition Möglichkeiten eröffnete, die die von Theodores amateurhaften Bemühungen weit überstiegen. Diese beiden Jahre waren auch deshalb prägend, weil Condé Nast fast alle wichtigen Leute in New York kannte. Wenn er Lee zu seinen Festen einlud, wurde sie Berühmtheiten wie Dorothy Parker, Edmund Wilson oder Charlie Chaplin vorgestellt und war gezwungen, sich geistreich und kultiviert zu geben.

Nach einer Weile drängte es sich fast auf, dass Lee vom Modell zur Fotografin werden, aus dem Blick der Kamera verschwinden und das Bild selbst bestimmen wollte. Aber die meisten professionellen Fotografen waren Männer. Als sie mit Edward Steichen über ihre Ambitionen sprach, empfahl er ihr, dem Beispiel der jungen Berenice Abbott zu folgen, die ihre Karriere als Assistentin von Man Ray in Paris begonnen habe. Der Gedanke, nach Paris zurückzukehren und einem der berühmtesten Avantgardefotografen der Welt ihre Dienste anzubieten, erschien Lee sehr verlockend. Also nahm sie im Frühjahr 1929 Steichens Angebot an, ihr ein Empfehlungsschreiben für Man Ray zu verfassen.

Jahre später dachte sie darüber nach, welche Rolle der Zufall in ihrem Leben gespielt hatte, und beschrieb, wie sie Man Ray beinahe verpasst hätte. Als sie im Atelier des Fotografen in Montparnasse vorsprach, teilte ihr die Concierge mit, Monsieur Ray habe gerade seine Arbeit abgeschlossen und werde den Sommer in Biarritz verbringen. Unvorbereitet auf einen solchen Rückschlag und unsicher, was sie nun tun sollte, trottete Lee in eine nahe gelegene Bar, um sich zum Trost ein Gläschen Pernod zu gönnen. Hätte sie sich für eine andere Bar entschieden oder wäre sie eine halbe Stunde später hingegangen, wäre ihre Reise nach Paris möglicherweise vergeblich gewesen. Doch kurz nach ihrem Eintreffen dort trat ein Mann ein, dessen »außergewöhnlichen Körper, sehr dunkle Augenbrauen und dunkle Haare« sie sofort erkannte. Man Ray höchstpersönlich. Entschlossen stellte sie sich ihm nicht nur als »seine neue Studentin« vor, sondern überredete ihn auch gleich unverfroren, sie nach Biarritz mitzunehmen.24

»Ich schätze, ich habe es ihm angetan«, schrieb sie. Das klingt wie eine kokette Untertreibung, denn obwohl Man Ray als guter Surrealist die romantische Liebe stets als bourgeoisen Mythos abgetan hatte, als Falle für Unachtsame, begegnete er nun in Lee seiner Nemesis. In ihr erkannte er eine Perfektion, die er unbedingt besitzen wollte. Laut einem seiner Freunde war sie »fatal« für ihn, »er liebte sie ohne jede Einschränkung«.25 Während ihres ersten gemeinsamen Sommers fotografierte er sie ein ums andere Mal. Daraus entstand eine Serie einfallsreicher, neuartiger Porträts, mit denen er nicht nur die schwer zu fassende Schönheit Lees einzufangen versuchte, sondern auch das merkwürdige Charisma ihrer Persönlichkeit – jene Kombination aus Eleganz, Esprit und unverbrauchter Energie, die ihm andere Frauen nun als nichtssagend oder schrill erscheinen ließ.

Während Lee es aufregend fand, Man Rays Schülerin, Mitarbeiterin und Muse zu sein, war sie nicht bereit, sich als seine treue Geliebte zu sehen. Als Mann und Liebhaber war er faszinierend – »wenn er deine Hand nahm oder dich berührte, erglühte die Haut in fast magnetischer Wärme«. Lee war dankbar für die Großzügigkeit, mit der er sie in »wunderbare Restaurants« ausführte und sie Jean Cocteau, James Joyce, André Breton und Marcel Duchamp vorstellte, all den Sternen am Kulturhimmel der Stadt.26 Doch Dankbarkeit und Zuneigung brachten sie nicht dazu, sich ihm zu unterwerfen. Falls sie bereit gewesen wäre, Man Ray Treue zu versprechen, hätte sie dieses Versprechen vermutlich ohnehin nicht halten können, da machte sie sich keine Illusionen.

Lee war sich bewusst, dass ihre Affären etwas Zwanghaftes hatten. Sie genoss den Sex mit genialen oder großzügigen Liebhabern, und wie die meisten in ihren beruflichen oder gesellschaftlichen Kreisen glaubte sie, Frauen sollten ihre Begierden genauso frei ausleben dürfen wie Männer. Aber sie merkte auch, dass andere weniger rationale und positive Impulse sie von einem Liebhaber zum nächsten flattern ließen. Obwohl sie kein Interesse an einer Psychoanalyse hatte, erkannte sie eine mögliche Verbindung zwischen ihrer Promiskuität im Erwachsenenalter und dem »unangenehm angeschwollenen Gefühl«, das sie seit ihrer Kindheit begleitete.

Mit unserem heutigen Wissen über die langfristigen Folgen einer Vergewaltigung können wir darauf schließen, dass Lees Ausprägung der Sexualität in dem frühen Übergriff wurzelte. Möglicherweise nutzte sie Sex als Form der Kontrolle, sowohl über ihren eigenen Körper als auch über die Männer, die ihn begehrten oder bedrohten. Egal, ob Lee die Gründe für ihre Sexualität durchschaute: Sie verschaffte ihr Freiheit, und Lee war nicht bereit, sich für Man Ray zu mäßigen, obwohl er sehr unter ihrem Verhalten litt.

»Du bist so jung, so schön, so frei, und ich hasse mich dafür, dass ich versuche, dich in dem zu behindern, was ich am meisten verehre«, schrieb Man Ray. Er verachtete seine Eifersucht, doch es gelang ihm nicht, seine Anschuldigungen und Vorwürfe zu zügeln, die Lees Seitensprünge bei ihm hervorriefen.27 Sie reagierte ihrerseits frustriert und gedemütigt auf seine Wutanfälle, bewunderte ihn allerdings zu sehr, um ihn schon zu verlassen. Keiner der Fotografen, mit denen sie für die Vogue zusammengearbeitet hatte, besaß sein Genie, seinen technischen Einfallsreichtum und seine Fähigkeit, die Welt neu zu deuten. Wenn Lee mit Man Ray durch die Straßen von Paris ging, lernte sie, Poesie in einem eigentümlichen Nebeneinander von Objekten, einer ausgefallenen Perspektive oder ungewöhnlichem Licht zu erkennen. Einige ihrer eigenen frühen Fotografien waren Zufallsfunde – vier Ratten auf einem Metallbalken, deren Schwänze genau parallel herunterhängen zum Beispiel. Man Ray brachte ihr auch bei, wie man Bilder manipulierte. Eines der schockierendsten Fotos aus ihrer Anfangszeit ist eine Nahaufnahme von zwei amputierten Brüsten, die sie in eine Schale gelegt hatte, sodass sie wirkten wie eine makabre Version von îles flottantes.[44] 

Sie machte schnell Fortschritte, baute sich innerhalb von neun Monaten einen prestigeträchtigen Kundenstamm auf, und ihre witzig schrägen Bilder erschienen in Zeitschriften wie der französischen Vogue. Am Ende erschienen ihr Man Rays besitzergreifende Wutausbrüche als zu hoher Preis dafür, sein Schützling und seine Mitarbeiterin sein zu dürfen. Im Sommer 1932 war Lee schließlich bereit, sich von ihm zu trennen. Ein reicher, kultivierter und ausgesprochen toleranter Ägypter namens Aziz Eloui Bey hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, aber sie sah bessere Fluchtchancen in einem Angebot von Julien Levy, einem aufstrebenden Galeristen, der ihr dabei helfen wollte, zu Hause in New York ein Fotoatelier zu eröffnen.

Man Ray war todunglücklich, als er von Lees Plänen erfuhr, und ließ seinem Zorn in Rachekunstwerken freien Lauf. Auf einem suizidalen Selbstporträt ist er mit einer Schlinge um den Hals und einer dramatisch auf seine Schläfe gerichteten Pistole zu sehen. Obwohl Lee erleichtert war, Man Rays theatralischen Auftritten zu entkommen, zögerte sie nicht, seinen Namen zu nutzen. Ihr eigenes bescheidenes Atelier in New York bewarb sie schamlos als »den amerikanischen Ableger der Man-Ray-Schule in der Fotografie«. Ihr Opportunismus verletzte ihn fast genauso sehr wie die Tatsache, dass sie sich von ihm getrennt hatte, und kurz spielte er mit dem Gedanken, sie zu verklagen. Lee plagten keine Gewissensbisse. Journalisten gegenüber, die sie bei ihrer Ankunft interviewten, behauptete sie lässig, sie habe lediglich »die Persönlichkeit des Mannes«, nicht sein »technisches Genie« absorbiert. Die Ansicht einiger weniger Kritiker, Man Rays Handschrift sei im gesamten Werk von Lee zu spüren, ignorierte sie nonchalant.28

Berauscht vom Erfolg, stellte Lee ihren jüngeren Bruder Erik als Assistenten für die Dunkelkammer in ihrem Fotoatelier in der East 48th Street ein. Trotz der Nachwirkungen des Wall-Street-Debakels gab es nach wie vor genügend New Yorker, die reich genug waren, um Porträts von sich selbst in Auftrag zu geben, und genug Modehäuser, die Geld für Werbekampagnen hatten. Bald schon war Lee mit ihrem anerkannten Pariser Chic so gefragt, dass sämtliche Stimmen verstummten, die sie als reines Novum abgetan hatten, als Model, das hinter die Kamera gewechselt war. Im Mai 1934 hatte sie sich bereits einen so guten Ruf erworben, dass auf der von Vanity Fair erstellten Liste der sieben herausragendsten lebenden Fotografen auch ihr Name stand.

Im selben Atemzug wie eine Berühmtheit vom Range Cecil Beatons genannt zu werden, war eine fantastische Auszeichnung, insbesondere für eine Frau mit weniger als fünf Jahren Berufserfahrung. Doch ihre Rastlosigkeit und Querköpfigkeit – Lees schlimmste Dämonen – hinderten sie daran, stetig weiter auf diesem Erfolg aufzubauen. Gerade als die Fotografie Geld und Lob einzubringen begann, wurde sie ihrer überdrüssig. Ihre kommerziellen Aufträge langweilten sie (New York war weniger empfänglich für Avantgardefotografie als Paris), aber im Wesentlichen lag Lees Unzufriedenheit in ihr selbst begründet. Wenn sie mit kreativen Projekten experimentierte, musste sie feststellen, dass sie weder Man Rays scharfes Auge noch seine Fantasie besaß. Wie sehr sie sich auch bemühte, ihre Zweifel zu ersticken: Allmählich fürchtete sie, immer nur im Windschatten ihres genialen Geliebten gefahren zu sein.

Tage-, ja wochenlang empfand sie einen so starken Hass auf die Fotografie, dass sie kaum die Kamera in die Hand nehmen konnte. In der Hoffnung, die Stimmung seiner Schwester möge sich bessern, erledigte Erik so viel Arbeit wie möglich. Doch Anfang Juli verblüffte Lee ihn mit einer unerwarteten Nachricht: Sie werde das Fotoatelier schließen, New York verlassen und – die größte Überraschung überhaupt! – heiraten.

Ihr früherer Verehrer Aziz Eloui Bey war plötzlich in New York aufgetaucht, offiziell in Geschäften für die Ägyptischen Staatsbahnen, aber in Wahrheit, um nach Lee zu suchen und seinen Heiratsantrag zu wiederholen. Als er sich in Paris in sie verliebte, hatte er die Verletzlichkeit hinter ihrem wilden Glamour gespürt und das Gefühl gehabt, es sei seine ganz eigene Berufung, sich um sie zu kümmern und »ihrem Herzen Frieden zu bringen«.29 Lees Familie und Freunde waren verwirrt, als sie seinen Antrag annahm, und konnten es kaum glauben, dass sie ihre Arbeit und Unabhängigkeit aufgeben und sich in Kairo niederlassen wollte, Welten entfernt von allem, was sie bis dahin gekannt hatte. Lee selbst hingegen sehnte sich verzweifelt nach jemandem, der Ordnung in ihr kompliziertes Leben brachte.

Aziz war ein wunderbarer Mann, attraktiv, eine Seele von einem Menschen. Lee meinte nicht nur, dass er sie vor der anstrengenden Unsicherheit in ihrem Beruf bewahren konnte, sondern hoffte wohl auch, er würde sie vor ihren privaten Zweifeln retten, ihrem »Bammel«, wie sie es nannte, der fast alle Projekte und Beziehungen, auf die sie sich einließ, verdarb. Obwohl sie Aziz schon wenige Tage nach ihrer Hochzeit untreu wurde (auf dem Schiff nach Ägypten verführte sie einen neunzehnjährigen Jungen), wollte sie ihm tatsächlich eine gute Ehefrau sein. Und als sie in Kairo ankam, glaubte sie aufrichtig, sie könne sich dort etwas Neues aufbauen. In den belebten Straßen und dunklen Souks, in denen es nach Essen und Gewürzen roch, fühlte sie sich sofort wohl. Besonders liebte sie die Wüste; sie unternahm ausgedehnte Ausflüge, um die sich ständig ändernden Farben der Landschaft zu erkunden – das stille Blau des frühen Morgens, die flache Grelle des Mittags, das feurige Leuchten des Sonnenuntergangs und die tiefe Schwärze der Nacht.

So sinnlich und exotisch Lee dieses ägyptische Leben fand: Der Reiz des Neuen verblasste auch hier. Aziz war sanftmütig, jedoch kein Intellektueller, und die Leute, mit denen sie verkehrten, stellten keinen Ersatz dar für die in Paris oder Manhattan. Die reiche Kairoer Elite verbummelte den Nachmittag gern mit Klatsch und Kartenspielen im Café Groppi, und die Abende verbrachte sie mit Drinks und Tanz im Shepheard Hotel. Zum Teil aus Langeweile zwang Lee sich, die Kamera in die Hand zu nehmen. Einige ihrer Fotos wiesen Spuren ihres alten Einfallsreichtums auf, aber das eindrucksvollste war sinnigerweise das düsterste. »Portrait of Space« war nominell eine Landschaft – von der Sonne ausgebleichter Wüstensand, aufgenommen durch ein Loch in einem zerfetzten Fliegennetz. Emotional vermittelte es einen so starken Eindruck von Einsamkeit, Klaustrophobie und Langeweile, dass Lee es gut und gern »Portrait of a Marriage« hätte nennen können.

Aziz erstickte sie mit seiner Sanftmut, und im Mai 1937 flehte sie ihn schließlich an, sie allein nach Paris fahren zu lassen zu einem, wie sie es nannte, »Junggesellinnenurlaub«. Zur selben Zeit saß Virginia Cowles in ihrer geborgten Wohnung in der Nähe der Champs-Élysées, durchlebte in Gedanken noch einmal die Brutalität von Madrid und fragte sich, was sie in Francos Spanien erwartete. Lee hingegen war nicht nach Europa zurückgekehrt, um sich über die Politik dort den Kopf zu zerbrechen; sie wollte ihr altes Leben wiederaufnehmen, sich mit kultivierten, kreativen Menschen umgeben und sich vor allen Dingen einen Liebhaber suchen, der sie auf eine Art und Weise fordern und erheitern konnte, wie es Aziz nicht gegeben war.

Sie fand ihn bereits an ihrem allerersten Abend auf dem Surrealistenball der Saison. Roland Penrose war Maler und sammelte moderne Kunst. Er hatte ein langes Gesicht, einen aufgeweckten Blick, ein bestimmtes Auftreten und eine elegant regelwidrige Weltsicht, die Lee sofort attraktiv fand. Obwohl sie eigentlich nur eine Affäre im Sinn gehabt hatte, fühlte sich die Sache mit Penrose ernst an. Lee zögerte nur kurz, als Roland sie zu einer Hausparty in Cornwall einlud. Dort versammelte sich die surrealistische Crème de la crème – Paul und Nusch Éluard, Leonora Carrington und Max Ernst, Man Ray und seine aktuelle Geliebte Ady Fidelin (Lee und Man Ray hatten sich mittlerweile halbwegs versöhnt). Die vier Wochen, die sie miteinander verbrachten, waren mit Avantgardebühnenstücken und experimentellem Gruppensex gefüllt (Roland neigte offenbar dazu, »noch die kürzeste Begegnung in eine Orgie zu verwandeln«).30

Lees Begeisterung über das Fest ist den Fotos anzumerken, die sie machte. Auf einem stellte sie Manets Gemälde Le déjeuner sur l’herbe nach. Darauf sitzen Roland, Man und Paul voll bekleidet neben Ady und Nusch, die lässig mit nacktem Oberkörper auf dem Boden lümmeln. Leonora Carrington ist auf dieser Aufnahme nicht zu sehen. Später drückte sie ihre Verachtung für das vielgepriesene Prinzip der sexuellen Freiheit aus, das die Surrealisten verfochten. Ihrer Ansicht nach habe es immer nur der Befriedigung der Männer gedient. Falls Lee ihrer Hommage an Manet tatsächlich etwas Ironisches geben wollte, tat sie es mit leichter Hand. Als die Gruppe nach Südfrankreich weiterzog und Roland Lee seinem Freund Picasso »anbot«, fühlte sie sich geschmeichelt. Mit dem größten Künstler der Welt schlafen zu dürfen, erachtete man in ihrem Kreis als Privileg. Das Porträt, das Picasso von ihr malte, vergrößerte Lees Freude darüber hinaus. Darauf ist ihr Gesicht in sonnigem Gelb dargestellt und hebt sich fröhlich von dem leuchtend pinkfarbenen Hintergrund ab.

Dieses Porträt strotzt vor Kraft, Farbe und sexueller Energie. Als Lee nach Kairo zurückkehren musste, litt sie unsäglich unter der Trennung von Rolands Welt. In den folgenden Monaten schrieb sie ihm ohne Unterlass Liebesbriefe, in denen sie gestand, sie leide unter »schmerzlicher Ekstase«, weil er ihr so sehr fehle, und sie wünsche sich, »immer« bei ihm zu sein – selbst wenn, scherzte sie, »mein Immer nicht immer so viel bedeutet«.31 Im folgenden Sommer bekniete sie Aziz, ihr einen zweiten Urlaub zu gewähren, damit sie mit Roland eine hedonistische Tour durch Griechenland, Bulgarien und Rumänien unternehmen könnte. Inzwischen war sie nicht mehr in der Lage, ihm etwas vorzumachen. Sobald sie Aziz reinen Wein eingeschenkt hatte, wurde ihr klar, dass sie sich irgendwann für einen der beiden Männer entscheiden musste.

Doch das erschien ihr unmöglich. Lee machte sich wirklich etwas aus Aziz. Und sie war abhängig von seiner wunderbaren Freundlichkeit, wie erdrückend diese auch sein mochte. Sie fühlte sich so verloren in ihrem »kranken Chaos der Unentschlossenheit«, dass sie sich in eine weitere Affäre flüchtete, in Gesellschaft eines jungen Diplomaten namens Bernard Burrows nach Beirut reiste und die Distanz zu Aziz nutzte, um ihre Emotionen zu rationalisieren. »Ich weiß wirklich nicht, was ich will, außer dass ich das eine möchte, ohne das andere aufzugeben«, schrieb sie ihm schuldbewusst. »Ich wünsche mir die utopische Kombination aus Sicherheit und Freiheit und muss völlig in der Arbeit oder einem Mann, den ich liebe, aufgehen können.«32 Obwohl Lee versuchte, offen zu sein, war sie verwirrt und brutal genug, Aziz in dem Glauben zu lassen, die Krise sei vorübergehender Natur und ihre Affäre mit Roland werde sich bald totlaufen. Im Sommer 1939 gab Aziz seinen Segen zu einem weiteren Urlaub und verließ sich wieder darauf, dass Lee zu ihm zurückkehren würde. Am Ende erzwangen Ereignisse, die sich ihrer Kontrolle entzogen, einen Entschluss, denn als Lee und Roland sich in Südfrankreich aufhielten, marschierte Hitler in Polen ein, und angesichts drohender geschlossener Grenzen und chaotischer Reisebedingungen musste Lee sich schnell entscheiden. Sie konnte entweder in das sichere Kairo und in ihre Ehe mit Aziz zurück oder Roland nach London begleiten. In der Hitze des Augenblicks wählte sie London.

Nach der überstürzten Fahrt durch Frankreich und zur Fähre in Richtung England war Lee davon überzeugt, dass sie sich richtig entschieden hatte. Roland war vermögend, wenn auch nicht ganz so reich wie Aziz, und als sie am 3. September 1939 in London ankamen, staunte Lee über die Geräumigkeit seines Hauses in Hampstead und seine Sammlung von Picassos, Magrittes, Brâncușis und Ernsts. Während die meisten Londoner unter der Unsicherheit des Sitzkrieges litten, veranstaltete Roland Feste und schaffte es, diese vergnüglich zu gestalten. So ließ er im Garten von Downshire Hill 21 einen Luftschutzbunker errichten, den er leuchtend pink und blau anmalte.

Lee hatte Aziz nicht nur ihr Bedürfnis gestanden, entfliehen zu wollen, sondern ihm auch erklärt, sie müsse sich »wieder konzentrieren«, um sich »wach und lebendig« zu fühlen und vor allen Dingen einen neuen Einstieg in die Arbeit zu finden.33 Zu Beginn des Krieges bekam sie Lust, ihre Kamera zu benutzen. Als sie um ein Bewerbungsgespräch bei der britischen Vogue in London nachsuchte, ging sie davon aus, dass ihre frühere Verbindung mit Condé Nast ihr den Weg in einen Job ebnen würde. Zu ihrer Bestürzung teilte ihr die dortige Atelierchefin jedoch mit, dass sie keine Arbeit für sie habe. Sie erläuterte ihr, die Zeitschrift sei leider aufgrund von kriegsbedingten Beschränkungen gezwungen, die Anzahl der Fotos zu reduzieren, aber ihr Tonfall verriet etwas anderes: Die fünf Jahre, die Lee ihren Beruf nicht ausgeübt hatte, waren genug gewesen, den Glanz ihres Namens verblassen zu lassen.

Der Abweisung lag auch ein praktisches Problem zugrunde: Amerikanischen Staatsbürgern ohne besonderen Grund für einen Aufenthalt in Großbritannien – beispielsweise ein britischer Ehepartner oder eine feste Anstellung – wurde nun nahegelegt, das Land zu verlassen. Lees vertraute Ängste – ihr »Bammel« – bedrohten ihre frisch erworbene Zufriedenheit, und so schrieb sie lange Briefe an Aziz, in denen sie ihn um Trost und Rat bat. Großzügig, wie er war, hatte er ihr Anteile an seinem Unternehmen geschenkt, sodass sie stets über ein unabhängiges eigenes Einkommen verfügte. Ihre Briefe schürten seine Hoffnung auf ihre Rückkehr. Im Januar jedoch sprach Lee erneut bei der Vogue vor und hatte diesmal mehr Glück, denn etliche Mitarbeiter der Zeitschrift waren eingezogen worden. Vorausgesetzt, dass Lee eine Genehmigung von der Ausländerbehörde vorweisen konnte, war man nun bereit, ihr eine Vollzeitstelle als Fotografin mit einem Wochensalär von acht Pfund zu geben, was das bedeutend kostbarere Recht, in London zu bleiben, nach sich zog.[45] 

Die Beschäftigung bei der Zeitschrift hatte für Lee einen weiteren, sehr wertvollen Vorteil: Sie arbeitete mit der jungen, ehrgeizigen Frau zusammen, die schon bald die Leitung der Vogue-Redaktion übernehmen sollte. Audrey Withers war Oxford-Absolventin, Feministin und Sozialistin, besaß einen Sinn für schrägen Humor und engagierte sich für ihre Untergebenen. Mit einem ambitionierten Plan für Veränderungen hatte sie sich innerhalb der Zeitschrift hochgearbeitet. Ihrer Ansicht nach war es »einfach nicht modern, sich dessen, was um einen herum geschieht, nicht bewusst zu sein oder sich nicht dafür zu interessieren«. Obwohl sie den Status der Vogue als Bibel der Mode respektierte, wollte sie die Berichterstattung über Kultur und Politik erweitern und auch den Krieg thematisieren. Mit sicherem Instinkt dafür, den Mangel in Stil zu verwandeln, gab Audrey exklusive Fotoberichte mit Arbeitskleidung in Auftrag und ließ Features schreiben, die selbst den Anbau von Gemüse und die Organisation von Fabrikkantinen chic erscheinen ließen. In diesem neuen Klima des Praktischen – und Subversiven – schuf Lee einige ihrer fantasievollsten Zeitschriftenarbeiten.

Inspiriert von Audrey, suchte sie nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für so etwas wie Kriegsglamour. Ihren frühen Aufnahmen für die Vogue ist der Spaß am Teamwork anzumerken. Eines ihrer Modelle steht in einem eleganten Kostüm vor einer Karte von Europa, Militärstiefel, Taschen und Helme an einem Kleiderständer neben ihr; zwei andere fotografierte Lee am Eingang zu Rolands Luftschutzkeller, das geschminkte Gesicht eines Models ist halb verdeckt von einem Helm, beide mit Augenschutzmasken. Hätte sie ausschließlich solche Modeaufträge bekommen, wäre Lee wahrscheinlich wieder unzufrieden gewesen und hätte sich gelangweilt, aber im September 1940 begann die Luftwaffe, London zu bombardieren, und so bot sich ihr und ihrer Kamera eine drastisch veränderte Welt.

In der ersten Woche des »Blitz« war Lee genauso verängstigt wie alle, weil sie sich angesichts der Bomben schutzlos fühlte wie »ein Krebs mit weicher Schale«, doch sobald sie sich an die Angriffe gewöhnt hatte, war sie fasziniert von dem Spektakel.34 Im sicheren Downshire Hill brachte sie Stunden am Fenster ihres Zimmers zu, von wo aus sie bis nach London schauen konnte. Sie betrachtete die Lichtspuren der Flak, den Strahl der Suchscheinwerfer, das blutrote Leuchten des fernen Hafens. Als London eines Nachts unter besonders heftigem Bombardement erzitterte, begleitete Lee Roland, der sich freiwillig als Helfer beim Luftschutz gemeldet hatte, auf einem Rundgang, und als Flakgeschosse auf die Dächer prasselten, packte sie seine Hand und seufzte: »Schatz, wie aufregend!«35

Da Hampstead sich in relativ sicherer Distanz zu den Hauptzielen der Luftwaffe befand, wurde Rolands Haus zum Treffpunkt für nächtliche »Blitz«partys. Freunde kamen zum Scrabble- oder Kartenspielen, zum Trinken, Scherzen und Diskutieren, bis Entwarnung gegeben wurde. Valentine Penrose, Rolands Exfrau, suchte ebenfalls Schutz bei ihm, als ihr eigenes Haus bombardiert wurde, und Lee, die die Gesetze der Gastfreundschaft in Kriegszeiten kannte, fühlte sich verpflichtet, sie aufzunehmen.

Dieser Geist des »Blitz« war Lee neu. Als die Redaktion der Vogue von Brandbomben getroffen wurde, berichtete sie ihren Eltern, sie habe wie ihre Kollegen die Ärmel hochgekrempelt: »Es war eine Frage des Stolzes weiterzumachen … [trotz des] grässlichen Geruchs von feuchtem, verkohltem Holz – des Gestanks von Kordit – die Löschschläuche noch oben im Treppenhaus«, und trotz der Tatsache, dass alle barfuß zu ihren Schreibtischen wateten.36 Weil die Gas-, Strom- und Wasserversorgung gestört war, musste Lee ihre Aufnahmen zu Hause entwickeln. Audrey verwendete die Fotos, die Lee von dem ausgebombten Gebäude der Vogue und den beherzten Bemühungen des Personals machte, an den Arbeitsplatz zurückzukehren, als Illustration des aufmunternden Leitartikels in jenem Monat: »Still Smart Despite All Difficulties« – »Noch immer flott, trotz all der Probleme«.

Diese Fotos bildeten den Ausgangspunkt für Lees Grim-Glory-Sammlung. Während der Bombardements durch die Luftwaffe nahm sie ihre Kamera überallhin mit und staunte über den täglichen Wandel der Straßen in der Stadt. Manchen der Bilder, die sie machte, wohnte etwas surreal Absurdes inne – eine einzelne unbekleidete Schaufensterpuppe auf dem Gehsteig. Heroische Schönheit kennzeichnete ihre Aufnahme des University College in London, dessen zerborstenes Dach sich in einer glänzenden Regenwasserpfütze spiegelte. Mit ihren Fotografien vom »Blitz« nutzte Lee, was Man Ray ihr über die Poesie des Lichts, der Perspektive und des visuellen Nebeneinanders beigebracht hatte. Mit dem Kriegsthema spürte sie endlich, wie sich die Last seines Einflusses von ihren Schultern hob. Jetzt lernte sie, ihrem eigenen inneren Sucher zu vertrauen, und in den Monaten nach dem Erfolg von Grim Glory begann sie nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten, wie sie sich in diesem Krieg mit ihrer Kamera nützlich machen konnte.