»Ihr solltet mich in meiner Soldatenuniform sehen.«
Lee Miller1
Für Helen Kirkpatrick war es eine berufliche wie persönliche Erleichterung, als Roosevelt sich endlich zum Kriegseintritt entschloss. Helen hatte sich für das lange Zaudern ihres Landes geschämt und war, wie viele Amerikaner in London, Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Den kriegsmüden Briten, die von ihren amerikanischen Cousins im Stich gelassen worden waren, galt schon der Klang eines amerikanischen Akzents als Provokation, und im Lauf der vergangenen ein bis zwei Jahre hatte Helen sich immer wieder wappnen müssen gegen böse Blicke und gemurmelte Beleidigungen.
Doch am 11. Dezember 1942 verwandelten sich die Beleidigungen in ein Lächeln, das noch einladender wurde, wenn Helen Uniform trug. Sie und Mary Welsh, die seit dem vorigen Jahr in London für das Time-Magazin arbeitete, erhielten als erste Amerikanerinnen eine Akkreditierung. Helens herausgehobene Stellung innerhalb des Pressekorps wurde anerkannt, und nachdem sie einen Sicherheitsfragebogen ausgefüllt und geschworen hatte, über »die Tatsachen des Krieges wahrheitsgetreu zu berichten, ohne dabei militärische Aktionen zu gefährden«, wurde ihr die AGO-Karte ausgehändigt. Dann schickte man sie zu einem Schneider in der Savile Row, wo sie sich ihre eine Uniform anmessen ließ, die aus einer Jacke und zwei Röcken bestand.[53]
Helen trug diese Uniform mit Stolz, als sie im Januar 1942 nach Nordirland geschickt wurde, um über die Landung der ersten GIs in Großbritannien zu berichten. Auch später, als sie über den königlichen Besuch eines US-Stützpunkts schrieb – einen gänzlich anderen Zeitvertreib für das Königspaar, das dort amerikanischen Soldaten beim Marschieren zur Militärmusik von John Philip Sousa zusah und mit großen Bechern Kaffee bewirtet wurde, was »die Queen höchlich amüsierte«, wie Helen berichtete.2 Doch zu diesem Zeitpunkt war Helens Akkreditierung allenfalls noch von symbolischer Bedeutung. Obgleich sie ihre Uniform durchaus mochte, war das ohne Bezugsscheine erworbene neue Seidenkleid doch sehr viel aufregender, ebenso der blaue Schiaparelli-Mantel, den Nancy Tree ihr geschenkt hatte. Während die AGO ihr privilegierten Zugang zu den Briefings der US-Armee und der Londoner Offiziersmesse gewährte, fand der Großteil ihrer Arbeit am Schreibtisch statt. Nach nur achtzehn Monaten sehnte Helen sich nach aktiven Kampfhandlungen und beneidete die wenigen Kolleginnen, denen es trotz aller Hindernisse gelungen war, an die Front zu kommen.
Eine von ihnen war Margaret Bourke-White, die ebenfalls eine Akkreditierung erhalten hatte, um die Ankunft der U.S. 97th Air Bombardment Group in Großbritannien zu fotografieren. Es war der Sommer 1942, und die Crews bereiteten ihre B-17 »Flying Fortresses« auf die Tageseinsätze über Europa vor. Margarets Ansinnen, in einem dieser riesigen, auf große Höhen ausgelegten Bomber mitzufliegen, wurde erwartungsgemäß abgelehnt. Doch im weiteren Verlauf dieses Jahres folgte sie der 97th Group zu einem Einsatz in Nordafrika, und die Gefährdungen durch heftige Seestürme und Torpedoangriffe, die sie dabei auf sich nahm, beeindruckten den Kommandeur des Verbands so sehr, dass er sie bei der Bombardierung feindlicher Wüstenstellungen mitfliegen ließ.
An Bord der Flying Fortresses war es mehr als ungemütlich, und Margaret musste sich auf eisige Temperaturen, Höhenschwindel und das lästige Gewicht einer vor die Brust geschnallten Sauerstoffflasche gefasst machen. Doch als die Mission am 12. Januar schließlich erfolgte, ging alles glatt. Auf dem Rückweg zum Stützpunkt geriet die Maschine in deutschen Kugelhagel, und man konnte Margaret durch die Sprechanlage jubilieren hören: »Der perfekte Winkel … haltet ihn, damit ich direkt auf sie runterschießen kann.«3 Die Bilder, die sie dabei für das Life-Magazin machte, sollten zu einem weiteren Meilenstein ihrer Karriere werden, und »Maggie, die Unverwüstliche«, wie sie in der Truppe genannt wurde, posierte darauf übermütig lachend in ihrem Fliegerdress.
Margarets Bekanntheit ebnete den Weg für einige andere Frauen, die die strengen Regeln zu umgehen suchten. Vor allem für Virginia Cowles, die im selben Monat eintraf, um über den Einsatz britischer Truppen in Tunesien zu berichten. Sie war auf verschlungenen Wegen in die Kriegsberichterstattung zurückgekehrt, nachdem sie das Jahr 1941 genutzt hatte, um ihre Memoiren Looking for Trouble [Looking for Trouble. Bericht einer unerschrockenen Kriegsreporterin] zu schreiben und das Buch auf einer sechsmonatigen Lesereise durch die Staaten vorzustellen. Als sie nach London zurückkehrte, war Amerika bereits in den Krieg eingetreten, und sie wurde für ihren Beitrag zur Kriegspropaganda gefeiert. Dennoch hatte sie keine feste Stelle, und der erste Job, der ihr angeboten wurde, war nicht etwa im Journalismus, sondern im Büro des amerikanischen Botschafters John Gilbert Winant.
Laut Bill Shirer war Winant ein »hagerer, ungelenker, an Lincoln erinnernder Typ Mann«; als Naturphilosoph und Diplomat erkannte er, dass es bei der Allianz zwischen Großbritannien und Amerika einigen Fingerspitzengefühls bedurfte.4 Natürlich hießen die Briten die erste Welle von amerikanischen Expeditionskorps auf englischem Boden begeistert willkommen. Diese kräftigen jungen Männer mit ihren Geschwadern fabrikneuer Flugzeuge sowie Waffen und Panzern wirkten wie ein belebender Energie- und Hoffnungsschub. Doch im Lauf der kommenden drei Jahre sollten über zwei Millionen Soldaten durch Großbritannien geschleust werden, eine halbe Million Piloten waren dauerhaft dort stationiert, und zumindest einigen kam die riesige »Yank Army« vor wie eine Besatzungsarmee. Kostbares, ererbtes Farmland musste für ihre Lager und Luftwaffenstützpunkte geopfert werden, und die für den britischen Lebensstil typische Zurückhaltung wurde durch die nassforschen GIs mit ihrem Bürstenschnitt kräftig aufgemischt. Sie tauchten in Pubs und an Straßenecken auf, köderten die Mädchen mit Nylonstrümpfen und Parfüm und prahlten mit ihrem privilegierten Zugang zu Whisky und Zigaretten.
Viele der GIs waren noch nie im Ausland gewesen, und obwohl spezielle Informationsblätter verteilt wurden, taten sie sich schwer, die Befindlichkeit auf dieser tristen, kalten Insel zu verstehen, Tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat. Sie sahen nicht ein, warum es als ungezogen galt, auf der Straße Kaugummi zu kauen oder den Passantinnen Komplimente hinterherzurufen, und verstanden nicht, weshalb die Briten sich beklagten – schließlich waren es jetzt die Amerikaner, die für ihren erbärmlichen Krieg bezahlten.
Winant war sich dieser kulturellen und sozialen Kluft durchaus bewusst und hatte erkannt, dass man den Soldaten erklären musste, wieso die Briten ihrer Hilfe bedurften. Eine Umfrage im Sommer 1941 hatte ergeben, dass fast die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung Zweifel hegte an der Kampfmoral und der militärischen Einsatzbereitschaft der Briten und dass Tausende britischer Opfer durch kompetente Führung hätten vermieden werden können.
Winant stellte die amerikanischen Journalisten in London in den Dienst seiner Mission, die neuen Bündnispartner einander näherzubringen. Helen als einziges weibliches Redaktionsmitglied der Chicago Daily News war angehalten, peppige Artikel über all das zu schreiben, was amerikanische Frauen von den erfinderischen, tapferen britischen Hausfrauen lernen konnten – den »Spaß«, den man an zweckmäßiger Kleidung haben konnte, und die köstlichen Gerichte, die sich aus rationierten Lebensmitteln zaubern ließen. Unterdessen bestand Virginias Aufgabe in der Botschaft vor allem darin, Unterlagen zu erarbeiten, die Winant und seinen Angestellten zu einem besseren Verständnis britischer Institutionen und Lebensart verhelfen sollten.
Einige von Virginias Ausführungen befassten sich mit militärischen, andere mit häuslichen Themen – etwa der britischen Rechtslage bezüglich des Alkoholgenusses und der Prostitution, sensible Bereiche, in denen die amerikanische Freizügigkeit häufig als »Unverschämtheit« ausgelegt wurde. Sie fand diese Aufgabe spannend und dem Journalismus durchaus ebenbürtig. Außerdem lenkte sie die Arbeit von der Sorge um ihren Geliebten Aidan Crawley ab, der im Juli 1941 über der libyschen Wüste abgeschossen worden war und nun in einem deutschen Kriegsgefangenenlager einsaß. Doch obgleich sie froh war über die Gesellschaft und die Beschäftigung, ging ihr die Büroroutine allmählich auf die Nerven. Ein Jahrzehnt lang war ihr Leben von Reisen und vom Krieg bestimmt gewesen, und als der Botschafter im Januar 1943 vorschlug, sie solle zwei Monate freinehmen, um über die britischen Truppen in Nordafrika zu berichten, war sie mehr als bereit, sich wieder in die Kampfzone zu begeben.
Winant erwartete von Virginia eine Serie von mitfühlenden, positiven Reportagen, die an die Herzen und den Verstand der Amerikaner appellierten. Man kam überein, dass sie in der Sunday Times und im Sketch veröffentlicht werden sollten, und beim War Office wurde eine Bewilligung erwirkt, dass Virginia als »Ehrengast« an die Front reisen durfte. Mit der amerikanischen Botschaft und dem britischen War Office im Rücken meinte Virginia bei ihrer Ankunft in Kairo auf Kooperation zählen zu können, und bat um Reisepapiere und einen Fahrer, der sie weiter nach Tunesien bringen sollte. Allerdings hatte niemand sie vor Philip Astley gewarnt, der von einer weiteren Infragestellung seine Autorität durch eine Frau so genervt war, dass er ihr schlichtweg untersagte, auch nur in die Nähe der Frontabschnitte zu kommen, in denen die Briten kämpften.
Astley war seinerseits nicht vor Virginia gewarnt worden. Sie hatte von Margaret Bourke-Whites geplanter Unternehmung mit der 97th Group erfahren, und diese geschickt zum eigenen Vorteil nutzend, schrieb sie ein Bittgesuch an den Oberbefehlshaber der Alliierten in Nordafrika, General Eisenhower. Vorsichtig informierte sie den General darüber, es sei die Idee des US-Botschafters gewesen, sie »Material sammeln zu lassen, … das geeignet sei, die anglo-amerikanische Freundschaft durch einen Bericht über diese erste alliierte Unternehmung zu festigen«. Sie wies ferner darauf hin, dass Astleys ablehnende Haltung nicht nur in direktem Gegensatz zu ihrer Unterstützung durch das War Office stehe, sondern »umso peinlicher« sei, als eine weitere Frau »schon seit geraumer Zeit aus dem vordersten Frontabschnitt« berichte. Zu Recht ließ sie dabei durchblicken, dass »Miss Burke-White« [sic] zweifellos von ihrer »misslichen Lage« erfahren und diese nach der Rückkehr in die Staaten bei einer medienwirksamen Tour publik machen würde. Sie, Virginia Cowles, schlage deshalb vor, dass Eisenhower in ihrer Angelegenheit tätig werden solle.5
Eisenhower war »Maggie, die Unverwüstliche«, die er für aufdringlich und skrupellos hielt, zwar herzlich egal, doch er wollte verhindern, dass sie Ärger machte. Überdies wusste er um die Macht der Medien und unterstützte Winants Absicht, bei der amerikanischen Bevölkerung um Sympathie für die britischen Truppen zu werben. Daraufhin wurde ein harsches Telegramm nach Kairo geschickt, dass man Miss Cowles gestatten solle, »zu gehen, wohin sie wolle«, und ihr dabei »jegliche Unterstützung« zukommen zu lassen. Astley musste akzeptieren, dass er ausgetrickst worden war.6
Mitte Februar konnte Virginia dann endlich die lange Fahrt Richtung Westen antreten. Ihr Ziel war das Atlas-Gebirge, wo die Briten um die Kontrolle über den Kasserinpass kämpften. Unterwegs traf sie überall auf Spuren früherer Kampfhandlungen. Nicht beerdigte Leichen verfaulten im Gelände, das Fleisch von Raubvögeln zerfetzt, und über viele Kilometer glich die Wüstenlandschaft einer riesigen Müllhalde, voll ausgebrannter Fahrzeuge, stinkender Latrinen und Abfallhaufen. Als sie schließlich Sbiba am nordöstlichen Ende des Passes erreichte, wurde sie von Nigel Nicolson in Empfang genommen, einem Nachrichtenoffizier bei der 6. Panzerdivision und Sohn des Diplomaten Harold Nicolson und der Schriftstellerin Vita Sackville-West. Nicolson zeigte sich erstaunt über Virginias Auftauchen. Seines Wissens durfte kein Journalist, ganz gleich ob männlich oder weiblich, so weit in den Wüstenkrieg vordringen, noch dazu zu einem so kritischen Zeitpunkt. Dennoch begleitete er sie bereitwillig überallhin und brachte sie geradewegs auf einen Grat, von wo aus sie die Gefechte beobachten konnte.
Die Schlacht war spektakulär, aber überraschend kurz. Kaum hatten sich die britischen und deutschen Panzer in Stellung gebracht, folgte die schwere Infanterie unter Eruptionen von Rauch, Flammen und Staub. Dann zogen sich beide Seiten wie auf ein verabredetes Zeichen unvermittelt zurück und hinterließen Leichen und ausgebrannte Fahrzeuge. Aus der Entfernung wirkte die Schlacht eher wie ein ritueller Tanz, und wenn genügend Zeit gewesen wäre, hätte Virginia Nicolson sicher gedrängt, sie hinuntergehen und das Schlachtfeld inspizieren zu lassen. Doch in dem Moment kam die Order, dass die Division weiter auf den Pass vorrücken solle, wo die Gefahr von deutschen Angriffen bestehe. Es bildete sich ein langer Konvoi, der sich rumpelnd seinen Weg durch die Wüste bahnte, und Virginia begriff, dass sie sich tatsächlich in Gefahr befand, denn Rommel und sein Afrikakorps kämpften um jeden Zentimeter. Am Himmel kreisten deutsche Flugzeuge, die steinige Piste war von Minen gesäumt, und der Fahrer ihres Wagens schwitzte Blut und Wasser, um das Fahrzeug auf sicherem Kurs zu halten.
Kaum hatte der Konvoi das Dorf Thala erreicht, spitzte sich die Lage weiter zu, denn die feindlichen Panzer standen nur sechs Kilometer entfernt, und die Stuka-Bomber näherten sich bedrohlich rasch. Beim ersten Einschlag wurde Virginia von einem britischen Hauptmann gepackt und in ein nahe gelegenes Haus gebracht. Während sie nur einer Wolke aus Mörtelstaub ausgesetzt war, mussten andere ihr Leben lassen, und Nicolson bat sie dringend, sich zurückzuziehen, während er und sein Verband weiterkämpften. Doch Virginia war mittlerweile in einen ähnlichen Zustand der Dissoziation geraten wie damals auf den Kreidefelsen von Dover und bestand darauf, erst noch ein paar Fotos von Thala zu schießen, bevor sie sich ins britische Lager zurückbringen ließ. Unterdessen hatten deutsche Bomber die Straße unter Beschuss genommen, und Nicolson beobachtete an Virginia eine beeindruckende Mischung aus Mut und Glamour. Später schrieb er, alle seine Männer hätten ihr Herz an sie verloren. »Sie war seit Monaten die erste angelsächsische Frau, die sie sahen, … eine reizvolle Vision inmitten des Schlachtgetümmels.«7 Sie liebten Virginia auch deshalb, weil sie als Journalistin in der britischen Presse über sie berichten würde. Einige der Männer hielten sich schon so lange in der Wüste auf, dass sie sich fragten, ob man zu Hause überhaupt noch an sie dachte, und Nicolson erinnerte sich, wie viel es ihnen bedeutete, dass Virginia Nachrichten über sie heimbrächte und erzählen würde, was »unsere Leute … hier taten und erlitten«.8
Als Virginias Nordafrikareportagen schließlich im Sketch und in der Sunday Times erschienen, wurden auch die Risiken gewürdigt, unter denen sie entstanden waren. Clare Hollingworth, die ebenfalls für diese Zeitungen schrieb, sah sich verständlicherweise in den Schatten gestellt und verstärkte ihre Bemühungen, ebenfalls näher ans Kampfgebiet heranzukommen. Virginia selbst fühlte sich durch diese Nordafrikatour wie neu belebt, war sie doch an all das erinnert worden, was sie so sehr vermisst hatte – den Nervenkitzel, unter Beschuss einer Story nachzujagen, sowie die Kameradschaft innerhalb der Truppe –, und zurück in London, begann sie, ihre Chancen auf eine Rückkehr in den Krieg zu eruieren, für den Fall, dass sich eine weitere Front in Europa eröffnete.
Unterdessen kamen andere Frauen mit ähnlichen Ambitionen nach London. Ein im Januar aufgenommenes Foto zeigt die beiden »Veteraninnen« Helen Kirkpatrick und Mary Welsh in Uniform in einer Reihe mit vier anderen voll akkreditierten Amerikanerinnen – Kathleen Harriman, Tania Long, Dixie Tighe und Lee Miller.
Lee Miller hatte erst vor Kurzem eine eigene AGO beantragt, und zwar auf Druck des Fotografenkollegen David Scherman, der seit einem Jahr auch ihr Liebhaber war. Die beiden waren sich im Dezember 1941 begegnet, einige Wochen nachdem Dave, ein junger, unerfahrener Fünfundzwanzigjähriger, als Fotojournalist für das Life-Magazin nach London gekommen war. Für ihn war Lee schlichtweg die außergewöhnlichste Frau, die er je getroffen hatte: Sie war die Mätresse und Muse von Man Ray gewesen, eine Freundin von Picasso und außerdem selbst Künstlerin. Er konnte es gar nicht fassen, dass diese schöne, lustige, komplizierte Frau, die sich in Sekundenschnelle von der »weltläufigen Grande Dame« in das »komische Landei« verwandeln konnte, Gefallen fand an einem »nassforschen, angeberischen Kerl« wie ihm.9 Nicht weniger erstaunlich fand er es, dass Roland Penrose gegen die Affäre nicht nur nichts einzuwenden hatte, sondern ihn sogar einlud, in Downshire Hill zu wohnen. Die Vorstellung einer ménage à trois kam Dave sehr europäisch und intellektuell vor, obgleich das Arrangement Roland durchaus entgegenkam. Man hatte ihn als Berater eingezogen und mit der Tarnung großer militärischer Anlagen und Gerätschaften betraut. In dieser Position würde er häufig und über längere Zeit abwesend sein. Im Fall einer Bombardierung wollte er Lee nicht allein im Haus wissen, und eine feste Beziehung zu Dave war ihm lieber als ständig wechselnde Affären.
Ob Lee Rolands Plan durchschaute, ist unklar, jedenfalls hatte sie nichts dagegen einzuwenden. Daves abgedroschene Witze und sein unbefangener Enthusiasmus erinnerten sie an die Jungs zu Hause, außerdem sprachen die beiden denselben Slang. Aber mehr noch interessierte er sie als Kollege. Im Gegensatz zu ihrem eigenen, stark stilisierten Ansatz erzählten seine Bilder Geschichten. Die Technik, die er benutzte, um seine Storys für Life zu entwickeln – die Planung, Reihenfolge und Untertitelung seiner Aufnahmen entlang einer einfachen Botschaft oder eines Themas –, faszinierte Lee und schien ihr geeignet für die Kriegsberichterstattung.
Sie wollte dieses Handwerk unbedingt von ihm lernen, denn im Grund hatte sie, wie er es ausdrückte, »die Seele eines Kesselflickers«. Sie studierte sein Vorgehen so gründlich und begleitete ihn so begeistert auf seinen Shootings, dass er sie nach wenigen Wochen drängte, sich mit eigenen Fotoreportagen bei der Vogue zu bewerben. Doch Lee hatte Bedenken. Seit Grim Glory waren ihre Erwartungen an sich selbst sehr hoch, aber es gelang ihr nicht, daran anzuknüpfen. Die Tatsache, dass sie weiterhin vor allem Models und Berühmtheiten fotografierte, hatte ihr Selbstvertrauen in den Keller sinken lassen. Als sie mit Dave zusammen das Time-Life-Büro in Soho aufsuchte, war sie sich kaum der Erregung bewusst, die sie dort auslöste. Laut Mary Welsh ließ die Kombination aus Lees Schönheit, ihrer »mürrisch kühlen Intelligenz« und ihrer legendären Vergangenheit dort »alle Herzen schneller schlagen«. Lee selbst war sich nur bewusst, dass diese toughen, jungen Journalisten mit der »größten Story des Jahrzehnts« beschäftigt waren, während sie den Krieg bei einem Frauenmagazin vertändelte.10
Das Gefühl des Ungenügens verstärkte sich noch, als sie von der Vogue den Auftrag erhielt, Margaret Bourke-Whites sommerlichen Einsatz bei der 97th Air Bombardment Group zu dokumentieren. Lee hatte sich in New York mit Margaret angefreundet und zur Hochzeit eine Fotografie der Kollegin geschenkt bekommen, und sie sah sich, zumindest damals, als professionell ebenbürtig. Mittlerweile jedoch hatte Margaret sich zu einer der bedeutendsten Kriegsfotografinnen entwickelt, und als Lee auf dem Stützpunkt der 97er eintraf, empfand sie es als demütigend, ihr auf Schritt und Tritt folgen zu müssen und sie dabei abzulichten, wie sie sich mit Piloten verbrüderte und aus B-17-Bombern kletterte.
Margaret machte genau jene Art ernsthafter Reportagen, die Lee anstrebte. Obwohl sie über mehr Erfahrung als Fotojournalistin verfügte, würde die Vogue sie wohl kaum mit militärischen Themen betrauen. In diesem Punkt hatte Lee die Chefredakteurin allerdings unterschätzt. Audrey Withers war überzeugt, dass den Magazinen auch eine Verantwortung gegenüber dem Hier und Jetzt zufiel, und hatte bereits Überlegungen angestellt, wie sie die Kriegsberichterstattung in der Vogue forcieren könnte. Als Lee schließlich Daves Drängen nachgab und vorsichtige Vorschläge in diese Richtung machte, reagierte sie sofort.11 Sobald man die New Yorker Redaktion überzeugt hatte, sich für Lees Akkreditierung einzusetzen, wurde eine AGO mit Lees Passbild, Unterschrift und Fingerabdrücken ausgestellt, und Anfang Januar 1943 ließ sie sich in der Savile Row einkleiden. »Ihr solltet mich in meiner Soldatenuniform sehen«, schrieb Lee wichtigtuerisch an ihre Eltern, »höchst ernsthaft in militärischem Oliv und mit flachen Schuhen.«12
Lees erste Serie von Reportagen handelte von Frauen: Sie fotografierte einen eben in England eingetroffenen Trupp amerikanischer Krankenschwestern; eine Gruppe von Arbeiterinnen aus der Freiwilligenreserve, die in Nordlondon Suchscheinwerfer bediente, und eine Abteilung in Ausbildung befindlicher Rekrutinnen des Women’s Royal Naval Service. Für diesen letzten Einsatz reiste sie an einen geheimen Ort in Schottland, wo sie, wie sie stolz berichtet, »beinahe ertrank«, während sie die »Wrens« (abgeleitet von dem Kürzel WRNS) dabei fotografierte, wie sie eine Schiffsleiter hinabkletterten und über einen schmalen Ausleger balancierten.
So aufregend und interessant Lee ihr neues Metier fand, es hatte auch seine frustrierenden Seiten. Anfang 1944 arbeitete sie zusammen mit Dave fünf Tage lang an einer Story über den britischen Kriegskünstler Henry Moore und war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Das Kernstück der Reportage war ein Foto von Moore, wie er während des »Blitz« in der U-Bahn-Station Holborn Skizzen machte. Es war ein magisch komponiertes Bild mit geradezu biblischer Anmutung: Der Künstler hält Wache bei einem Häuflein verletzlicher, erschöpfter Londoner, deren Körper von einem fahlen Lichtschein erhellt werden, während die restliche Aufnahme sich im gähnenden Dunkel verliert. Doch in der Ausgabe, in der die Reportage veröffentlicht werden sollte, wurde der Platz knapp, und zu Lees Empörung wurde die gesamte Story einschließlich ihres Henry-Moore-Porträts auf engstem Raum unvorteilhaft zusammengedrängt.
Noch ärgerlicher waren die oberflächlichen, wenig sachkundigen Kommentare, die die Bilder begleiteten. Bisher hatte Lee nicht den Mut aufgebracht, eigene Texte zu verfassen, aber dieses verhunzte Stück Journalismus trieb sie dazu, es zu versuchen. Für ihre nächste Aufgabe – ein Porträt von Ed Murrow, dem CBS-Reporter, der die Einleitung zu Grim Glory geschrieben hatte – brachte sie ein ganz besonderes persönliches Engagement mit. Sie wollte den körperlichen Einsatz und die verblüffende Spontaneität wiedergeben, mit der Murrow seine Berichte über London im Krieg ablieferte. Ihn zu fotografieren war einfach, doch als Lee sich hinsetzte, um ihn zu beschreiben, war sie erschüttert über die Flachheit ihrer Prosa. »Ich schneide mir selbst den Hals durch«, jammerte sie, während sie einen Entwurf nach dem anderen verwarf und Audrey bat, sich auf die Fotografie beschränken zu dürfen, »du weißt schon, [das Bild] das zehntausend Worte wert ist«.13
Audrey fand den Text, den Lee schließlich einreichte, völlig in Ordnung. Die Schilderung eines grimmig dreinschauenden Ed, wie er, einem Spitfire-Piloten nicht unähnlich, hinter seinem Mikrofon lauerte, besaß genau jene Schärfe und Originalität, die auch Lees Aufnahmen kennzeichneten, und Audrey wollte sie unbedingt weiter anspornen. Sie hätte aus ihr gern eine Schriftstellerin gemacht, benötigte aber gleichzeitig ihre Bilder für den Modeteil und die Klatschspalten. Im November 1943 wurde Lee daher mit einer Fotodokumentation über Martha Gellhorn beauftragt, die für einen dreimonatigen Europaaufenthalt in London eingetroffen war.
Lee hatte Martha zwar nie kennengelernt, war aber vertraut mit ihrem Ruf als Kriegskorrespondentin und als Ehefrau von Hemingway. Dave und die übrigen aus der Time-Life-Clique waren sich einig, dass Martha ihre eigene Stellung überschätze und zu genaue Vorstellungen vom Stand der Kriegsberichterstattung habe, die sie, verglichen mit dem Spanischen Bürgerkrieg, als zu zahm abtat. Martha wurde von den jüngeren Kolleginnen und Kollegen bewundert, gleichzeitig aber auch als Diva betrachtet, und Lee dürfte von dieser Sicht ebenfalls beeinflusst gewesen sein, als sie Martha im Dorchester-Hotel fotografierte. Die Aufnahme, die sie schließlich aus Dutzenden von Porträts für die Vogue vorschlug, zeigte Martha an einem Schminktisch, den Rücken zur Kamera gewandt und das Gesicht im Spiegel sichtbar, so als wäre sie eine berühmte Schauspielerin in ihrer Garderobe.
Jahre später sollte Martha behaupten, damals in London sei sie von so vielen Fotografen umgeben gewesen, dass sie sich an die Session mit Lee nicht mehr erinnern könne. Sie wirkte auf dem Bild höchst professionell, mit beherrschtem Gesichtsausdruck und frisch ondulierten und gefärbten Haaren. Doch in einigen anderen Aufnahmen hatte Lee einen leicht gehetzten Ausdruck festgehalten, der Marthas tatsächlicher Gefühlslage wesentlich näher kam. Im Dorchester erwarteten sie Stapel von Einladungen zu gesellschaftlichen Ereignissen, und sie zwang sich, zumindest einigen von ihnen nachzukommen, war dabei aber schlecht gelaunt und schüchtern, da sie befürchtete, das ganze Trara um sie gelte letztlich Hemingway. Außerdem konnte die Tatsache, dass sie ohne ihren Mann nach London gekommen war, Anlass zu boshaftem Klatsch geben.
Zunächst war Martha überrascht darüber, wie viel Genugtuung es ihr bereitete, Mrs Hemingway zu sein. Die beiden hatten am 21. November 1940 vor einem Friedensrichter in Cheyenne, Wyoming, geheiratet, und später vertraute sie ihrer Freundin Eleanor Roosevelt in einem Brief an: »Ernest und ich gehören eng zusammen. Wir geben ein gutes Paar ab.« Sie glaubte, offenen Auges in den Stand der Ehe getreten zu sein und ihren Mann einschätzen zu können; außerdem war sie überzeugt, dass eine Heirat weder das Ende ihrer Unabhängigkeit bedeuten noch ihre Fähigkeit beeinträchtigen würde, »einfach und geradlinig« zu leben.14
Dennoch gab es schwierige Phasen: Martha fühlte sich schuldig und gekränkt, als sie Ernests Hoffnung auf ein Töchterchen enttäuschen musste, und sie stellte mit beschämender Bitterkeit fest, dass die Reaktionen auf ihre Kriegsromane sehr unterschiedlich ausfielen. Während ihr The Heart of Another nur spärlich mit Besprechungen bedacht wurde, provozierte Hemingways For Whom the Bell Tolls [Wem die Stunde schlägt] geradezu eine Flut an Rezensionen. Das Leben an der Seite eines Genies dürfte schwierig werden. Hemingway konnte auf rührende Weise großzügig sein und dabei von überwältigender Zärtlichkeit; 1943 sagte er ihr: »Es gibt für mich keine größere Freude, als dein Buch so wunderbar und herrlich wachsen zu sehen.« Und er schrieb: »Ich liebe Dich, weil Du so große Füße hast und weil ich für Dich sorgen kann, wenn Du krank bist, und weil Du die schönste Frau bist, der ich jemals begegnet bin.« Doch es gab auch Zeiten, in denen seine vulkanische Bravour Martha beunruhigte; sie hatte dann das Gefühl, dass er ihr die Luft für das eigene Schreiben, für die eigenen Ideen nahm, und wagte sich zu fragen, ob es wohl der Fehler ihres Lebens gewesen sei, ihn geheiratet zu haben.15
Besonders zwiespältig reagierte sie, als er kurz nach der Hochzeit die Absicht bekundete, sie zu einem Einsatz im Fernen Osten zu begleiten. Ihre letzte große Reportage lag mehr als zwei Jahre zurück, und sie gestand, dass sie »wieder Journalistin sein«, ein Leben »in Hektik und voller Fragenstellen« führen und an Orte gehen wolle, »wo alles um einen herum in die Luft fliegt«. Anfang 1941 hatte sie mit Collier’s vereinbart, einen Beitrag über Japans imperialistische Ambitionen, über seinen Einmarsch in China und die Bedrohung weiterer Länder in der Region zu schreiben. Doch Hemingway war überzeugt, Martha werde sich »bei diesem verfluchten Einsatz in diesem Land voller Scheiße« großen Gefahren aussetzen. Ohne sie zu informieren, besorgte er sich einen Vertrag mit dem Magazin PM, um über dieselben Themen zu schreiben. Das Ganze könne ein »verrückter Honeymoon« werden, meinte er, als er ihr seinen Plan schließlich unterbreitete, und sie wusste nicht, ob sie wegen seiner Fürsorge gerührt oder wegen der Arroganz, mit der er sich in ihre Reise einmischte, verärgert sein sollte.16
Als sie in Hongkong, ihrer ersten Station, ankamen, hatte Hemingway allerdings weniger den Journalismus im Sinn. Er tat sich mit einer Gruppe Boxer und Polizisten zusammen und ging mit ihnen auf Sauftour und zur Fasanenjagd, während Martha, sich selbst überlassen, auf eigene Faust die Stadt erkundete. Sie wagte sich in ein Bordell und eine Opiumhöhle, wo sie einem vierzehnjährigen Mädchen mit einer zahmen Schildkröte dabei zusah, wie es einem Kunden geschickt die Pfeifen zubereitete; sie irrte durch Gässchen und über Straßenmärkte und machte sich genaue Notizen über Familien, die in verlassenen Gebäuden hausten, und über Kinder, die in Ausbeuterbetrieben schufteten. Die Armut in Hongkong stieß sie ab, zugleich aber faszinierte sie die Fremdheit dieser »reichen und ungewöhnlichen und erschreckenden und komplizierten Stadt«. »Ich laufe wie benommen und mit vor Staunen offenem Mund herum«, schrieb sie. »Alles riecht fantastisch. Noch nie war ich so glücklich, nur anstrengend ist es.«17
Doch eigentlich war Martha wegen einer anderen Geschichte in den Osten gekommen: In Hongkong ergab sich die Gelegenheit für einen eiskalten, 16-stündigen Flug über das chinesische Festland, der ihr einen Blick auf die im Krieg zerstörte Landschaft von oben bot. Als 1931 Japan erstmals chinesisches Territorium angriff, hatte Martha dem ebenso wenig Beachtung geschenkt wie die Mehrheit der westlichen Welt. Doch jetzt, wo Kaiser Hirohito ein Bündnispartner Hitlers geworden war und eine klare Bedrohung für die amerikanischen und britischen Kolonien darstellte, wurde ihr klar, dass man den Fernen Osten nicht länger aus sicherer Entfernung und aus Geboten des Anstandes ignorieren konnte.[54] Und kaum waren Martha und Ernest Anfang März auf dem chinesischen Festland eingetroffen, erkannte Martha in dem Konflikt mit Japan bereits Parallelen zum Spanischen Bürgerkrieg: eine freie Nation, die von einem barbarischen, tyrannischen Diktator überfallen wird.
Während der beschwerlichen Reise in die Siebente Kriegszone[55] wurde ihre Sympathie auf eine harte Probe gestellt, zunächst durch eine Fahrt mit einem maroden, überfüllten Dampfer, dessen stechender Qualm ihr Brechreiz verursachte, später durch zwei »sture, hartmäulige, boshafte Ponys«.18 Die Siebente Zone umfasste eine Fläche von der Größe Belgiens, und da die Kämpfe in unwegsamen Bergregionen ins Stocken geraten waren, bekam Martha nicht mehr zu sehen als einen simulierten Angriff durch sehr junge Soldaten, die ihr in ihren unzulänglichen Uniformen wie »traurige Waisenknaben« erschienen.
Die Reise schien ihnen endlos, denn an jeder Station und bei jeder Unterkunft galt es, ein nicht enden wollendes Bankett durchzustehen, wobei Martha Seegurken hinunterwürgen und die lokale Spezialität, einen mit Gin aufgepeppten Reiswein, trinken musste. Die Haut an ihren Händen war von einem Pilz befallen und schälte sich, weshalb sie eine übelriechende Salbe auftragen musste. Und während sie auf ihrer harten Pritsche im Gästehaus müde und erfolglos gegen die Moskitos kämpfte, schwor sie einem herzlos amüsierten Hemingway, dass sie sterben wolle.
»Zu spät«, grinste er. »Wer wollte denn unbedingt nach China?«19 Noch ernüchternder als die körperlichen Torturen war die Korruption, die sie im Mittelpunkt dieses Krieges überall entdeckten. Chinas schlechtes Abschneiden gegenüber Japan lag nicht nur an unzureichender Ausrüstung und mangelhafter Strategie, sondern daran, dass ihr Oberbefehlshaber General Chiang Kai-shek die eigene Armee vorsätzlich schwächte. Als offizieller Verbündeter der USA profitierte Chiang stark von der großzügigen amerikanischen Unterstützung, doch anstatt sie für das Wohl seines Landes einzusetzen, steckte er Teile davon in die eigene Tasche und benutzte den Rest für seinen Privatkrieg gegen die kommunistischen Aufständischen.
Martha und Ernest wurden zu einem Bankett mit dem General und seiner makellos gepflegten Frau gebeten und empfanden den Kontrast zwischen der Opulenz seiner Residenz in Chongqing und der Armut draußen als abstoßend. Als Martha es wagte, nach den Leprakranken zu fragen, die in der Nähe bettelten, bekam sie als Antwort nur einen abweisenden Blick. Sie fand die Chiangs empörend – »Ihre Macht war wie von Stein«, urteilte sie –, und verachtete ihre kaltherzige Anmaßung umso mehr, nachdem sie und Hemingway sich heimlich mit dem internationalen Repräsentanten der Kommunistischen Partei Chinas, Zhou Enlai, getroffen hatten.20 Trotz seiner schmutzigen, zerrissenen Uniform war er eine eindrucksvolle Erscheinung, ein gutaussehender Mann mit »strahlenden, humorvollen Augen« und der unwiderstehlichen Aura seiner Mission. Martha hielt ihn für den »einzig wirklich guten Menschen«, dem sie in China begegnet war, aber sie wusste auch, dass sie seine Sache nicht würde unterstützen können.21 Amerika hatte zu viel in Chiang investiert, als dass Collier’s jemals in Erwägung ziehen würde, die »reine Wahrheit« zu veröffentlichen. Ebenso wenig konnte sie über die Korruption innerhalb des Chiang-Regimes schreiben und auch nicht die Seite derjenigen ergreifen, die zu Recht dagegen aufbegehrten.
Unterdessen bewies Hemingway seine Qualitäten als Reisebegleiter. Obwohl auch er sich gelegentlich heftig über das Essen und die Wanzen in China beklagte, holte sein Lachen Martha immer wieder aus der Verzweiflung heraus, und er gab ihr kluge, einfühlsame Ratschläge für ihre Reportagen. Gelegentlich fühlte sich die Reise tatsächlich an wie der »verrückte Honeymoon«, den er ihr versprochen hatte, und als sie allein weiter nach Burma [Myanmar], Singapur und Niederländisch-Ostindien reiste, erinnerte er sie in seinen Briefen daran, was für ein gutes Gespann sie waren: »Ohne Dich bin ich verloren … es schmerzt, und ich vermisse Dich die ganze Zeit. Mit Dir habe ich immer so viel Spaß, selbst auf einem so beschissenen Trip.«22
Auch Martha vermisste ihn, aber die Wiedersehensfreude wurde getrübt von der Scham über ihren Chinaartikel. »Man muss sehr jung sein und sehr zynisch und sehr ignorant, um heutzutage Freude am Journalismus zu haben«, schrieb sie an ihren Freund und langjährigen Liebhaber Allen Grover. Sie wusste, dass die Integrität ihres Schreibens gelitten hatte, und ihre Verzweiflung angesichts der Lage in China begann nun auch ihre Wahrnehmung des europäischen Krieges zu beeinflussen. Sie spürte, wie damals im schrecklichen Herbst 1938, dass sie nicht mehr in der Lage war, verlässlich zu beurteilen, was Recht und was Unrecht war, und fürchtete, selbst nach einer Niederlage Hitlers werde das Böse, das er in die Welt gebracht hatte, weiter wüten wie »eine Blutvergiftung«.23 Am 7. Dezember wurde Pearl Harbor bombardiert, und an Weihnachten kam Virginia Cowles nach Kuba zu Besuch, wo sie das Ende ihrer Lesereise feierte. Doch Martha wurde von einer so »kosmische(n) Gleichgültigkeit« erfasst, dass sie meinte, mit dem Journalismus sei nun endgültig Schluss, und mit den Kriegen ebenso.[56]
Wieder war es Hemingway – oder eher ihr Unmut über ihn –, der sie anders entscheiden ließ. Seit der Rückkehr aus China ließ er sich treiben – hing tagelang mit seinen Schiffskumpanen ab, rührte die Schreibmaschine kaum an und war weit davon entfernt, jenen Zustand höchster Konzentration zu erreichen, in dem er Wem die Stunde schlägt geschrieben hatte. Wagte Martha auch nur zu fragen, ob er ein neues Projekt im Auge habe, reagierte er mit übertriebener Bosheit und nannte sie eine »arrogante Schlampe«. Und weil sie angeblich seine Arbeit in Frage stellte, erinnerte er sie gemeinerweise an ihren so ungleichen literarischen Ruhm: »Meine Sachen werden noch gelesen werden, wenn die Würmer sich längst an deinen sattgegessen haben.«24 Wäre Martha eine andere Frau gewesen – geduldiger, sanfter und ohne ihr eigenes Talent verteidigen zu müssen –, hätte sie Ernest vielleicht dazu gebracht, sich die Ängste einzugestehen, die ihn zu so überzogenen Reaktionen trieben. Sie hätte erkannt, dass sich unter seiner Großtuerei die Furcht vor dem Misserfolg verbarg, die Panik, eines Tages aufzuwachen und feststellen zu müssen, dass seine Begabung ihn im Stich ließ und ihm die Wörter nicht mehr zu Gebote standen. Sein Vater hatte sich, von Depressionen geplagt, umgebracht, und Hemingway spürte, dass auch in ihm die Dunkelheit lauerte. Aber er konnte keine Schwäche eingestehen, vor allem dann nicht, wenn Martha mit Kritik nicht hinterm Berg hielt. Stattdessen wandte er sich von ihr ab, und als Amerika im Dezember 1941 in den Krieg eintrat, diente ihm das als perfekte Ausrede, um sie zu ignorieren und seine Arbeit zu vernachlässigen.
Kuba und die umgebenden Gewässer waren plötzlich zum Ziel deutscher Angriffe geworden, und Ernest, angeregt durch Gerüchte über Nazispione und patrouillierende U-Boote, organisierte mit seinem Schiff, der Pilar, und acht Helfern seine eigene Küstenwache. Es reizte ihn, endlich wieder in Aktion zu treten, vor allem, nachdem eine monatliche Zuwendung von 500 Dollar von der Central American Naval Intelligence es ihm ermöglichte, seinen »Ganoventrupp«, wie er ihn nannte, mit Bazookas, Granaten und Maschinengewehren auszustatten. Martha betrachtete das alles mit Skepsis. Anfang Januar 1942 erhielt sie von Collier’s den Auftrag, selbst auf U-Boot-Jagd zu gehen, aber außer einem Anfall von Dengue-Fieber kam nichts dabei heraus. Auch Hemingway und seine Mannen waren nicht erfolgreicher, und mit der Zeit erkannte Martha seine Aktivitäten als das, was sie waren – Männerfantasien. Sie versuchte, ihre Zweifel zu unterdrücken und ihren aktuellen Roman über eine junge Frau von den französischen Antillen zu beenden, die sich zwischen Geld und Liebe entscheiden muss. Doch als das Manuskript abgeliefert war, konnte sie an nichts anderes mehr denken als an Ernest und das Misstrauen und die Ernüchterung, die ihre Beziehung bestimmten. Sie hatte das Gefühl, schon lange nicht mehr »klar denken« zu können, und als Collier’s im September 1943 einen längeren Aufenthalt in Europa vorschlug, war sie froh, sich mit Dingen beschäftigen zu können, die so viel größer und bedeutender waren als ihre Ehe. Zunächst hatte sie gehofft, Ernest zum Mitkommen überreden zu können, und ihm sogar vorgeschlagen, eine oder zwei der Storys für Collier’s zu übernehmen. Vielleicht würde das den verrückten Übermut der Chinareise zurückbringen oder die entschlossene Zielstrebigkeit der spanischen Jahre. Aber Ernest reagierte wütend und verletzt, erstens, weil Martha offenbar meinte, er solle seine Agentenjagd einfach so beenden, und zweitens, weil sie in Erwägung zog, ohne ihn nach Europa zu reisen. Aus den vereinzelten Spitzen wurde ein dorniges Dickicht aus Bosheit: Martha warf ihm vor, betrunken und verblendet zu sein, und er konterte, sie sei eine selbstsüchtige, unnatürliche Frau, und, für sie am verletzendsten, eine Heuchlerin in Sachen Moral, die dem Krieg nur deshalb nachjagte, weil sie berühmt werden wollte.
Als Martha sich dann nach New York aufmachte, um eine Pan-Am-Maschine nach Europa zu besteigen, hatte sie den Frieden einigermaßen wiederhergestellt. »Vor uns liegt ein gutes, nach allen Seiten offenes Leben«, versprach sie, »und wir werden Bücher schreiben und viele Herbste miteinander verleben, in Kornfeldern auf Fasane lauern und es gemütlich haben.« Dennoch konnte sie ihre freudige Erregung aus den Briefen, die sie von unterwegs an Ernest schrieb, nicht gänzlich heraushalten. Die beiden hatten sich auf einen Code geeinigt, der ihm mitteilen würde, wohin sie nach ihrer Ankunft in London weiterreiste – wenn sie Herbert Matthews erwähnte, ging es nach Italien, wenn es der Fotograf Robert Capa war, bedeutete das Nordafrika. Martha hoffte, beides zu sehen. »Ich freue mich auf die neuen Orte wie ein Kutschpferd, das den Stall wittert«, gestand sie Ernest, und die Trennung drohte schon jetzt länger zu dauern als die geplanten drei Monate.25
Martha war 1938 zum letzten Mal in London gewesen, und als sie Anfang November 1943 dort eintraf, war sie erschüttert vom Ausmaß der Zerstörung. Die schlimmsten Spuren des »Blitz« waren bereits beseitigt – die größeren Einschläge hatte man hinter Plakatwänden verborgen und die Krater aufgefüllt –, aber sie konnte noch immer sehen, wie sehr das Leben aus der Stadt herausgebombt worden war. Aus verlassenen Gebäuden starrten leere Fensterhöhlen, und an freistehenden Innenwänden erkannte man die gespenstischen Reste von Treppen, Kaminen und Türstürzen, Zeugnisse von Familien, die längst tot oder weggegangen waren. Nach der hellen, klaren Luft Kubas wirkte London wie in dauerhafte Düsternis getaucht, tagsüber durch den Smog, nachts durch die Verdunklung, in der der tanzende Schein von Taschenlampen und der bläuliche Schimmer gedimmter Scheinwerfer die einzigen Lichtquellen waren.
Martha liebte die Wärme, und so litt sie unter der gnadenlosen Kälte schlecht geheizter Räume und nur lauwarmem Badewasser. Doch diese kleinen Entbehrungen weckten in ihr eine neue Bewunderung für die Briten. »Die Katastrophen sind ihnen gut bekommen. Langsamkeit, Understatement und Selbstzufriedenheit verwandeln sich in Durchhaltevermögen, die Weigerung, in Panik zu geraten, und in Stolz, den Vater der Selbstdisziplin.«26 Sie fand, sie hätten ihr verachtenswertes Phlegma gegen heroischen Widerstand eingetauscht, und seit das »Wiesel« Chamberlain nicht länger im Amt war, war Martha bereit, sie als die Champions im Kampf gegen den Faschismus zu feiern.
Ihr erster Impuls nach der Ankunft war, bei Virginia Cowles anzurufen und sie zum Frühstück einzuladen. Während sie sich vom amerikanischen Pressekorps in London fernhielt, erachtete sie Ginny als ihre »gute, vertraute Kameradin«, eine ihrer treuesten Freundinnen.27 Auf ihre Anregung hin ging Martha in die Savile Row, um sich ihre Uniform schneidern zu lassen. Virginia selbst hatte sich die eigene militärische Akkreditierung durch einen Vertrag als freie Mitarbeiterin mit der Chicago Sun gesichert. Durch sie lernte Martha in London auch einen Kreis von ziemlich beeindruckenden und angenehmen Leuten kennen, allen voran Duff und Diana Cooper: »Ein kleiner Mann mit absurd hohen Krägen und einem feinen, redlichen Kopf«, und seine Frau »ist so schön, wie Du es Dir kaum vorstellen kannst«. Begeistert von dem illustren Londoner Zirkel, realisierte sie erst, wie vereinsamt sie in Kuba gewesen war: »Ich bin wieder versöhnt mit der menschlichen Spezies und danke Gott dafür«, schrieb sie an Hemingway, vermutlich ohne zu merken, wie sehr sie ihn damit verletzte. »Mein Kopf war allmählich schon ganz vertrocknet, aber das ist jetzt vorbei.«28
Während der folgenden drei Monate ließ sie diese Zuneigung in ihre Prosa einfließen. Sie lobte die Briten für ihren Kriegseinsatz: die halbwüchsigen Cockney-Boys, die lange, fröhliche Tage in Munitionsfabriken schufteten; die Teams aus Ärzten und Therapeuten, die sich geduldig um die Soldaten mit entstellenden Brandverletzungen kümmerten; vor allem aber die Bomberpiloten, die jede Nacht am Himmel über Deutschland ihr Leben riskierten. Der Artikel, den Martha über einen Luftwaffenstützpunkt in Lincolnshire schrieb, enthielt zwar wenig Neues, aber sie sah ihr Material jetzt mit den Augen einer Autorin. Sie saß bei den Männern, die allabendlich ihre Befehle »wie ordentliche Kinder« entgegennahmen, während sie »aus Zahnputzbechern, süßen, lauwarmen Tee« tranken, der sie zu trösten schien, denn sie wirkten viel zu jung für eine so gefährliche Mission. Während auf der Piste »die großen schwarzen Lancasters« wie Todesvögel auf sie warteten, versuchte Martha sich vorzustellen, welche körperlichen und seelischen Torturen ihnen bevorstanden.29 Opferbereitschaft und Heldentum – Begriffe, von denen sie geglaubt hatte, sie seien mit der loyalistischen Sache untergegangen – kehrten in ihr professionelles Lexikon zurück, und sie schloss ihren Artikel für Collier’s mit der Bitte, dass alle Piloten, die heil aus dem Krieg zurückkehrten, mit dem »von ihnen ersehnten, wunderbaren Leben« belohnt würden. »Dafür sollten all jene sorgen, die niemals dort sein mussten, wo [diese Jungs] gewesen sind.«30
Die »kosmische Gleichgültigkeit«, die Marthas Glauben an den Journalismus zeitweilig überschattet hatte, war gewichen; sie war einmal mehr überzeugt von der Kraft, ihre Leser informieren und beeinflussen zu können, und der dringlichste Artikel, den sie von London aus schrieb, handelte von dem Gefängnis zu dem Polen unter deutscher Besatzung geworden war. Sie interviewte drei Polen, denen die Flucht gelungen war, und hörte mit Entsetzen deren Schilderungen, wie blonde, blauäugige, polnische Mädchen in Lebensborn-Heime gebracht wurden, um dort arische Babys für das Großgermanische Reich zu gebären. Sie erfuhr auch von der Beschlagnahmung polnischer Bauernhöfe und Geschäfte, der Ermordung kommunistischer Anführer und der Brutalität, mit der die jüdische Bevölkerung abtransportiert worden war. Einer der drei war ein Warschauer Jude, den man mit dem Rest der jüdischen Gemeinde ins Ghetto gesperrt hatte. Er berichtete in quälenden Einzelheiten, wie jene, die nicht verhungert oder an Krankheiten gestorben waren, der Willkür der gelangweilten deutschen Wachleute ausgesetzt waren, die sich mit sogenannter »Karnickeljagd« die Zeit vertrieben.
Während Martha es sich wieder zur Aufgabe machte, für die »zum Schweigen gebrachten Millionen« zu sprechen, erkannte sie, dass sie schon immer eine eingefleischte Journalistin gewesen war und selbst in ihren Romanen versuchte, Genaueres zu erfahren und die Welt zu verstehen.31 »Solange ich lebe, werde ich niemals genug sehen«, schrieb sie an Ernest und bat ihn, nach London zu kommen. »Ich finde, es wäre so wichtig für Dich, das alles selbst zu erleben. Bestimmt wärest Du der Liebling aller, und weil Du so viel klüger bist als ich, könntest Du mir bei der Arbeit helfen, indem Du mir das Denken abnimmst.«32 Trotz der Schmeichelei konnte Martha die gnadenlose Ehrlichkeit nicht ablegen, die ihr Talent und Fluch zugleich war. Mit der ihr eigenen Taktlosigkeit ließ sie Hemingway wissen, dass der Rückzug auf die Finca ein Fehler gewesen sei, und fügte hinzu, während ihres gemeinsamen Lebens in Kuba seien sie wie »von tropischen Pflanzen stranguliert gewesen«.
Der beleidigte Hemingway kam natürlich nicht nach London und war erst recht verletzt, als Martha ihm im Januar schrieb, dass ihre Rückkehr sich verzögern würde. In London gebe es so viel, worüber man berichten könne, und sie wolle ja noch weiter nach Italien, wo die Alliierten in einer neuen Wendung dieses Krieges inzwischen gegen deutsche Überfälle kämpften.
Für Mussolini war der Krieg nicht gut gelaufen: Missglückte Feldzüge hatten ihm die Verachtung seines Volkes eingebracht, und am 25. Juli 1943 war er verhaftet und seiner Ämter enthoben worden. König und Premierminister traten in Verhandlungen mit den Alliierten, die am 3. September zu einem Waffenstillstand führten. Aber Hitler wollte Italien nicht kampflos aufgeben. Truppen wurden entsandt, um Mussolini wieder an die Macht zu bringen, doch die Alliierten hatten am 9. September die Operation Avalanche durchgeführt und waren mit Soldaten und Ausrüstung im Hafen von Salerno gelandet.
Der Italienfeldzug sollte der blutigste des gesamten Krieges werden. Zu Beginn des Jahres 1944 war der Vorstoß der alliierten Truppen – ein internationaler Mix aus Amerikanern, Briten, Polen, Kanadiern und Streitkräften von France Libre – bei Monte Cassino ins Stocken geraten, und dort wollte Martha hin. Zuvor machte sie noch einen Abstecher nach Algier, das unter Kontrolle der Alliierten stand. Diana und Duff Cooper hatten sie eingeladen. Duff war soeben ins Friends Committee on National Legislation (FCNL) berufen worden, das die Zukunft Frankreichs für die Nachkriegszeit planen sollte. Nach dem nebelgrauen London war das eine herrliche Abwechslung, und Martha fühlte sich wie berauscht von der Farbenpracht Nordafrikas, dem Kanariengelb der Mimosen und den purpurnen Blüten der Prachtwinden. Aber mindestens ebenso fasziniert war sie von Diana, die sich sofort zum Mittelpunkt turbulenter Gastlichkeit machte und Abendgesellschaften gab, bei denen der Whisky von der erbärmlichen Verpflegung ablenkte und die Räume ihres staubigen Palastes mit »roten, blauen und grünen Haremslämpchen« geschmückt waren. »Sie ist liebenswert … spaßig … einzigartig«, schrieb Martha bewundernd an Hemingway und stellte mit Befriedigung fest, dass diese Einschätzung gegenseitig war: »Sie ist voller Witz«, schrieb Diana über Martha, »blonder Lockenkopf, schlanke Figur und höchst vergnügliches Geplauder«.33
So angenehm es in Algier auch war, auf Martha wartete der italienische Krieg, und speziell die Frage, ob man ihr erlauben würde, über ihn zu berichten. Bislang hatte sie nur die Genehmigung, über die Arbeit der Sanitätstrupps zu schreiben. Keinesfalls durfte sie in die Nähe der Front kommen, und laut ihren Reisevorschriften hatte sie sich zunächst bei einem amerikanischen Presseoffizier in Neapel zu melden, der ihr eine Transportmöglichkeit zu einem Evakuierungshospital in sicherer Entfernung von den alliierten Linien verschaffen sollte. Das passte Martha überhaupt nicht, aber zum Glück nahmen es die Streitkräfte von France Libre mit dem Protokoll nicht so genau. Ihnen war es egal, ob ein Journalist männlich oder weiblich war, und als Marthas Flugzeug in Neapel landete, fand sie auch bald einen französischen Transportoffizier, der bereit war, sie an die 100 Kilometer nördlich gelegene Cassino-Front zu chauffieren.
Die Fahrt im offenen Jeep durch Wind und Regen war beschwerlich, und für Martha glich Italien einem »Land der Schlangen«, von Bomben und Granaten heimgesucht und mit willkürlich detonierenden Sprengsätzen vermint. Doch sieben Kilometer südlich von Cassino klarte das Wetter auf, und als Martha zu den schneebedeckten Gipfeln und dem strahlend blauen Himmel aufsah, empfand sie plötzlich das Hochgefühl einer Überlebenden. Die Nacht verbrachte sie in einem verlassenen Keller, wo bereits ein amerikanischer Major und ein französischer Arzt ihre Schlafsäcke ausgerollt hatten und einem Cellokonzert in ihrem Rundfunkempfänger lauschten. Die sehnsuchtsvolle Süße dieser Musik ging Martha ans Herz und war umso ergreifender, da es sich um eine Übertragung aus Berlin handelte, die an die Ideale eines zivilisierten, nicht von Waffen zerfetzten Europa erinnerten.
Im Februar 1943 war Deutschland allerdings der Feind, der sich in Cassino auf einer Anhöhe verschanzt hatte und von dort aus die Franzosen gnadenlos mit Granaten beschoss. Es war gefährlich für Martha, von diesem Frontabschnitt zu berichten, aber man sagte ihr, solange sie die Soldaten nicht behindere, könne sie sich auf eigene Verantwortung frei bewegen. In den folgenden Tagen lernte sie, die Franzosen für den Mut zu bewundern, mit dem sie die Deutschen aus ihren Stellungen zu vertreiben suchten. In einer mobilen Sanitätseinheit erlebte sie mit, wie ein junger Arzt, selbst halb blind, mit einem Taschenmesser eine Notamputation am halb abgetrennten Bein eines Kameraden vornahm. In Kuba hatte Martha verzweifelt geklagt, dass »Glaube und Herrlichkeit« gänzlich von dieser Welt verschwunden seien, doch angesichts solch tapferer Taten erkannte sie, wie banal diese Annahme gewesen war. Mit Begeisterung und Demut schwor sie sich, Ernest von seinem Ganoventrupp loszueisen, damit er diesen Krieg aus erster Hand miterleben konnte.
Bevor Martha Cassino verließ, wollte sie für Collier’s ein paar amerikanischere Geschichten aufspüren und begab sich Ende Februar in die US-Zone, wo sie sich bei ihrem kommandierenden Presseoffizier meldete. Sie hatte sich schon auf langweilige Tage voller Vorschriften und Schikanen eingestellt, die sie von den interessanteren Aktionen fernhalten würden. Stattdessen traf sie dort Ginny Cowles an.
Virginia hatte den Daily Telegraph dazu gebracht, sie nach Italien zu schicken, angeblich um ein paar Schreibstubenhengste zu interviewen, denen das strategische Kommando für die Operation Avalanche oblag. Wie Martha hatte auch sie einen Abstecher zu den Coopers gemacht, was Diana freudig mit den Worten kommentierte: »wie vom Himmel gefallen in ihrem Kampfdress«. Und obwohl sie anschließend einige triste Tage im Alliierten-Hauptquartier in Caserta bei Neapel mit dem Studium von Diagrammen und Karten verbringen musste, erreichte sie schließlich ihr eigentliches Ziel: Sie fand heraus, wo Martha war, und kam endlich dort an, wo die Gefechte tobten.
Virginia konnte sich eine Mitfahrgelegenheit zum Pressecamp in der amerikanischen Zone verschaffen und den kommandierenden Offizier überreden, ihr und Martha eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Das war ein Glücksfall, denn laut US-Protokoll waren Frauen aus sämtlichen Pressecamps verbannt. Man nahm an, dass ihre Anwesenheit in der rauen Männerwelt, wo Soldaten schon mal nackt aus der Dusche kamen oder Pin-up-Girls an ihre Spinde hefteten, zu Peinlichkeiten führen würde. Doch in diesem Camp, hoch oben in dem Bergdorf Sessa Aurunca, herrschte kein rowdyhaftes Benehmen. Dort hielten sich nur vier höchst gelangweilte Männer auf, die schon viel zu lange in Cassino festsaßen und nicht in der Stimmung für ausgelassene Späße waren. Und der »reizende, durchgeknallte britische Offizier«, der nach seiner Verwundung das Camp befehligte, hätte über die Gesellschaft der beiden lebhaften Frauen nicht erfreuter sein können.34
Die Unterbringung war primitiv – »ein heruntergekommenes Backsteingebäude« unterteilt in verwahrloste schachtelähnliche Kabinen – und natürlich war es den beiden Frauen untersagt, sich dem amerikanischen Frontabschnitt auch nur zu nähern. Doch sie freuten sich so sehr über die Gesellschaft der anderen, dass ihnen das egal war. Virginia schnorrte Lebensmittel aus der Lagerküche, um damit die halb verhungerten Kinder zu verköstigen, die an der Tür bettelten. Und Marthas Versuche, eine illegale Mitfahrgelegenheit an die Front zu ergattern, blieben halbherzig. Ironischerweise berichtete sie in ihrem besten Artikel von der Cassino-Front über eine Tour durch das amerikanische Militärhospital. Sie dachte darin über die Tatsache nach, dass die Männer, die gebrochen und verwundet hier lagen, mehr noch als die Waffen das »Material« darstellten, mit dem dieser Krieg geführt wurde. Die einzig angemessene Reaktion darauf, so schien es ihr, war die Anerkennung ihrer Professionalität und Würde, mit denen sie dienten und litten: »Du sprichst mit den Verwundeten, die dich anschauen, in der Hoffnung, dass sie deine Anwesenheit schätzen. Du versuchst, sie nicht mit deiner eigenen Gesundheit zu überwältigen; und du versuchst, das Mitleid, das hier niemand haben will, aus deinem Gesicht und deiner Stimme zu tilgen.«35
Marthas Artikel über das Hospital war einer von sechs, die sie aus Europa schickte, und Collier’s, höchst zufrieden mit ihrer Berichterstattung, bedachte sie sogar mit einem kurzen Porträt. »Groß, blond und verwegen entspricht sie ziemlich genau der Vorstellung, die Hollywood sich von einer Starreporterin macht«, hieß es dort.36 Obwohl Martha ein wenig grollte, dass so viel Aufhebens um ihr Geschlecht und ihr Aussehen gemacht wurde – besonders missfiel ihr das Hochglanzfoto, das der Kurzbiografie beigegeben war –, freute sie sich über die Anerkennung und war gerührt von dem Zitat, das Collier’s von Hemingway erhalten hatte: »Sie kommt an den Schauplatz, recherchiert die Story, schreibt sie und kehrt heim. Das letzte ist der beste Teil.«37
Die Begeisterung, die in dieser Äußerung lag, gab ihr Zuversicht, denn sie unterschied sich deutlich vom Ton seiner letzten Telegramme. Sie enthielten endlose Vorwürfe darüber, dass Marthas Aufenthalt nun schon Monate länger dauere als angekündigt, und gipfelten in dem Ultimatum: »Bist du nun Kriegsberichterstatterin oder die Ehefrau in meinem Bett?« Sie hoffte, die Wiedersehensfreude in Verbindung mit dem Enthusiasmus ihrer Kriegsgeschichten würde ihn versöhnlich stimmen. Doch als sie dann Mitte März endlich in die Finca zurückkehrte, wurde Martha klar, wie sehr sie Ernests Zorn unterschätzt hatte.38
Das Wiedersehen war schrecklich. Während ihrer Abwesenheit hatte Ernest sich eingeredet, Marthas Hunger nach Krieg und Ruhm habe sie »psychisch labil« werden lassen und sie sei unfähig zu lieben. Die kühle, grausame Verachtung, mit der er ihre Versuche, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, abtat, ließen sie befürchten, dass ihre Ehe endgültig gescheitert sei.
Die Eheprobleme der Hemingways waren kein Einzelfall. Clare Hollingworth hatte ihren Mann Van bereits verloren, weil sie zu sehr Korrespondentin und zu wenig Ehefrau gewesen war; auch Margaret Bourke-Whites Ehe war in die Brüche gegangen, obwohl ihr Erskine Caldwell versprochen hatte, er werde nie zwischen ihr und ihrer Karriere stehen. Die meisten der Frauen, die über den Krieg berichteten, standen am Ende allein da – getrennt, geschieden oder in selbstgewählter Ungebundenheit. Und Helen Kirkpatrick, die 1943 ihren ersten Auslandsauftrag bekam, war froh, an keinen Ehemann oder Liebhaber gebunden zu sein, als sie die Tür ihrer Londoner Wohnung hinter sich schloss.
Helen hatte in den letzten Jahren keineswegs keusch gelebt. Mehrere Männer hatten ihr den Hof gemacht, am ernsthaftesten Richard Keane, ein diplomatischer Korrespondent der Times. Bei einer Abendeinladung, die sie für den durchreisenden amerikanischen Theaterkritiker Alexander Woollcott gab (ein wildes Dinner, das mit viel Brandy und der Musik einer Straßenband endete), blieb nicht unbemerkt, dass mindestens »ein halbes Dutzend« Junggesellen anwesend war. Helen ließ sich mit keinem von ihnen ein, und als die Chicago Daily News sie für einen Auftrag nach Algier schickte, der sie auf unbestimmte Zeit von London fernhalten würde, betraf diese Entscheidung niemanden außer sie selbst.
Eines der Themen, über die sie schreiben sollte, war der sich abzeichnende Machtkampf zwischen Henri Giraud und Charles de Gaulle, die beiden Generale, die am ehesten für die Führung in Frage kamen, sobald Frankreich von der deutschen Besatzung befreit wäre. De Gaulle war bei den Amerikanern nicht sonderlich beliebt, und Helen, die ihn in London getroffen hatte, als er für die Streitkräfte von France Libre warb, verstand auch, warum: »Ein Mann, der keinerlei Smalltalk macht«, berichtete sie und fügte hinzu, dass er kaum je lächelte und viel zu ungeduldig sei für die Diplomatie.39 Giraud hingegen hatte keinen Rückhalt bei den Franzosen, was hauptsächlich daran lag, dass er zeitweilig Kommandeur in der verhassten Vichy-Armee gewesen war. Helen war fasziniert von der »verworrenen politischen Situation«, die sich nun am Rand des Kriegsgeschehens entfaltete; Machtkämpfe für die Zeit nach dem Friedensschluss.40[57]
Doch am meisten genoss sie ihr neues Leben in Nordafrika. Auch wenn es nur eine Stunde am Tag heißes Wasser gab und sie in »einem schrecklichen Zimmer in der Nähe der Kasba« hauste, war Helen bezaubert von der »unglaublichen Schönheit« der Landschaft und begeistert von den Tanzveranstaltungen, Badepartys und Besichtigungstouren, die jetzt, wo die schlimmsten Kämpfe vorüber waren, wieder möglich wurden. »Ich war seit Jahren schon nicht mehr so glücklich«, schrieb sie ihren Eltern. »Die Unbequemlichkeiten machen mir nichts aus, sie sind nichts weiter als mangelnder Luxus. Ich fühle mich so unheimlich gut und voller Energie.«41
Im Juli 1943 nahm Helen dann die Witterung neuer Kriegsmeldungen auf. Obwohl der Fall Mussolinis noch bevorstand, hatte Churchill die Ungeduld gepackt, und er lancierte einen Angriff auf die italienische Südküste, die er für die Schwachstelle, den »soft underbelly«, der europäischen Achsenmächte hielt. Sein erstes Ziel war Sizilien, und da die Insel von Algier aus leicht zu erreichen war, stellte Helen sofort einen Reiseantrag. Allerdings stieß sie dabei an die Grenzen ihrer Akkreditierung, denn während das US-Militärkommando seine Genehmigung gab, hatte der Presseoffizier vor Ort andere Vorstellungen: Sie könne nicht nach Sizilien reisen, weil dort keine »Vorkehrungen« für Frauen getroffen worden seien. Helen wollte sich mit diesem süffisanten Euphemismus nicht zufriedengeben – »Wenn Sie die Toilettenfrage meinen, so kann ich Ihnen versichern, dass es an der Front auch keine Latrinen gibt; das ist genau wie wild zelten« –, doch der PRO blieb eisern, und sie kam nicht näher an die Kampfhandlungen heran als bei einem Überflug mit einer Militärmaschine.42
Helen hatte während ihrer ganzen Karriere stets versucht, sexuelle Scharmützel zu meiden, sie wollte nicht nach ihrem Geschlecht, sondern nach ihrer Arbeit beurteilt werden. Und eine Sonderbehandlung wollte sie auch nicht – bei ihrer Ankunft in Algier hatte man ihr ein komfortables Hotel angeboten, aber sie bestand darauf, zusammen mit den Männern in einer einfachen Armeeunterkunft zu wohnen. Wenn sie sich mit Vorurteilen von Kollegen konfrontiert sah, focht sie ihre Kämpfe lieber allein aus, als sich Unterstützung bei anderen Frauen zu holen. Wie viele aus ihrer Generation betrachtete Helen den organisierten, militanten Feminismus des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts als abgeschlossenes Kapitel. Das Wahlrecht war erkämpft, Frauen hatten bessere Berufschancen, und der Begriff »Feministin« klang im Jahr 1943 nach einer überholten Politik der schrillen Aktionen und des demonstrativen Leidens. Doch die selbstgefällige Blödheit des PRO in Algier brachte sie in Rage; und als Margaret Bourke-White nach Algier kam und sich mit dem gleichen Problem konfrontiert sah, war Helen froh, ihre Frustration mit einer anderen Frau teilen zu können. Die beiden freundeten sich sofort an, begrüßten die andere als geschätzte Kollegin und schmiedeten eine fröhliche, sarkastische Allianz gegen die Kleinlichkeit der Militärbürokratie. Als ihr PRO sich herablassend erkundigte, worüber sie denn so sprächen, verdrehten die brillante Kriegsfotografin und die ebenso hervorragende Reporterin nur die Augen und erwiderten spöttisch: »Klamotten.«[58]
Endlich bekam Helen die Zulassung für das Kampfgebiet, wobei der Stabschef Eisenhowers seine Hand im Spiel gehabt hatte. Anfang Oktober ging sie an Bord eines französischen Zerstörers mit Kurs auf Korsika, wo die Alliierten gerade die letzten deutschen Besatzer vertrieben. Auf den ersten Blick wirkte die Insel idyllisch. »Völlig unberührt und von einer Schönheit, wie ich sie noch nie gesehen habe.« Doch als drei amerikanische Offiziere sie nach Bastia mitnahmen, sah sie, dass die Hafenstadt noch immer heiß umkämpft war; ganze Viertel waren dem Erdboden gleichgemacht, und deutsche Scharfschützen lieferten sich Gefechte mit versprengten Trupps von Korsen. Bei dieser Art von Berichterstattung ging es, im Vergleich zum »Blitz«, um Leben und Tod; Helen und ihre Begleiter mussten unter Beschuss über den Hauptplatz robben und in einem verlassenen Nachtklub schlafen, zugedeckt mit schmutzigen Samtvorhängen. Als sich die Lage am nächsten Morgen etwas beruhigt hatte, beobachtete Helen, wie die alliierten Truppen den Hafen sicherten. Dabei wurden sie von sogenannten Leichenminen behindert – junge im Kampf gefallene Soldaten der Achsenmächte, an denen man Sprengladungen befestigt hatte. Für Helen war das der makaberste Ausdruck deutscher Barbarei: »Was für ein Volk«, schrieb sie entsetzt nach Hause. »Ich will niemanden mehr hören, der mir erzählt, es gebe auch anständige Deutsche.« Ihr war immer klar gewesen, dass sie sich mit ihrer Berufswahl für das Grauen entschieden hatte, aber sie kannte auch die eigenen Grenzen. Als ihre amerikanischen Begleiter auf dem Rückweg von Bastia einen ausgebrannten italienischen Panzer inspizieren wollten, weigerte sich Helen, sie zu begleiten. Sie wusste, dass sie den Anblick der verbrannten Crew nie wieder loswerden würde, wie sie ihren Eltern in einem Brief ausführlich erklärte: »Ich habe in diesem Krieg schon zu viele über das Pflaster verspritzte Leichen gesehen, davon brauche ich nicht mehr als unbedingt nötig. Ich will von so was nicht träumen und schaue mir nur noch an, was unvermeidlich ist.«43
Doch auf Helen warteten mehr Blut und mehr Traumata, als sie am 31. Oktober nach Neapel flog, um die 10. britische Panzerdivision auf ihrem Vorstoß nach Norden zu begleiten. Es war eine beschwerliche Reise: Kalter, heftiger Herbstregen hatte eingesetzt, und einige Straßenabschnitte waren mit gefährlichen Schlammlawinen überzogen. Am Himmel patrouillierten feindliche Flugzeuge und nahmen den Konvoi nach Belieben unter Beschuss. Obwohl man Helen in das vermeintlich sichere amerikanische Feldlazarett im Ort Venafro brachte, waren die vier Tage, die sie sich dort aufhielt, mit die gefährlichsten ihrer gesamten Zeit im Krieg.
Die Einheit war für die Notversorgung jener Soldaten zuständig, deren Verletzungen zu schwer waren, als dass man sie in weiter entfernte Evakuierungslager hätte bringen können. Das Lazarett war auf freiem Feld kaum anderthalb Kilometer von der Front entfernt errichtet worden. Ständig schallte Trommelfeuer herüber, und man lief Gefahr, von vorbeifliegenden Bomben oder Granaten getroffen zu werden. Wann immer Helen die einzige Latrine benutzte – nicht mehr als ein Loch im Boden –, war sie sich jedes Mal »entsetzlich« bewusst, dass sie sich in voller Sichtweite der deutschen Aufklärungsflugzeuge befand.44 Aber ihre Angst um das eigene Leben wurde in den Schatten gestellt von der um das medizinische Personal, das unter schauerlichen Bedingungen arbeiten musste. Die eigentliche Einheit war nicht mehr als eine Ansammlung von Zelten, die kaum Schutz vor dem heftigen Regen boten, und die Ärzte führten am Tag bis zu 20 Operationen unter triefenden Zeltbahnen und auf schlammigem Boden durch. Helen versuchte zu helfen, wo sie konnte, schleppte Wassereimer herbei, wischte Blut weg und verrichtete einfache Pflegedienste. Oft musste sie sich innerlich wappnen, wenn es um schwere Verletzungen ging: Männer, die mit eingeschlagenen Köpfen, klaffenden Fleischwunden und herausstehenden Knochen eingeliefert wurden. »Ich konnte so ziemlich alles ertragen, solange ich nicht in ihre Gesichter sehen musste«, schrieb sie. »[Deshalb] konnte ich keine Kopfoperationen mit ansehen – denn da wurde aus dem Opfer eine Person.«45
Die Ärzte und Schwestern, die diese Männer versorgten, gehörten zu den »unbesungenen Helden« des alliierten Feldzugs, schrieb Helen; sie besaßen denselben bewundernswerten, bescheidenen Mut wie die Funker und einfachen Soldaten: »Da ist kein Glanz und Gloria in diesem Matsch, diesen Feldrationen, dem Übernachten in Unterständen und dem Erklimmen von Bergen auf allen vieren«, erinnerte sie ihre Leserschaft, und doch waren es diese vielen kleinen Beweise von Durchhaltevermögen, mit denen man einen Krieg gewann.46 Helen wollte noch mehr von Italien sehen und fürchtete einen Rückruf nach London, obwohl sie mittlerweile selbst mit einer Bronchitis im Spital lag. Als Helen dann Anfang Dezember von ihrem Verleger, Colonel Knox, nach Algier berufen wurde, hoffte sie, dass er nicht mehr von ihr erwartete als einen informellen Lagebericht über die Bodenkämpfe in Italien, den Rest würde er dann bei ihrer Heimkehr absegnen.
Seit sie den Colonel zuletzt gesehen hatte, war er zum Marinestaatssekretär aufgerückt, und in dieser Eigenschaft hatte man ihm in Algier eine vornehme Villa zur Verfügung gestellt. Helen, die kaum Zeit hatte, ihre dreckverkrusteten Stiefel und die schmutzige Uniform auszuziehen, war wie geblendet vom Glanz ihrer Umgebung und der Armee von »philippinischen Stewards, die in weißen Jacken herumrannten und Cocktails servierten«. Sie war wie vor den Kopf gestoßen, als sie im Büro ihres Chefs darüber informiert wurde, dass sie ihre Mission in Italien keinesfalls fortführen werde, sondern unverzüglich an ihren Schreibtisch zurückzukehren habe. In Pfeifenrauch und Geheimnistuerei gehüllt, ließ der Colonel durchblicken, der Befehl sei von ganz oben gekommen, streng geheim, und Helen müsse sich daran halten. Er wies allerdings darauf hin, dass sie für ihre momentane Enttäuschung bald entschädigt werden würde. Man brauche sie in London, erklärte er, um bei der Umstrukturierung der Presse zu helfen, die durch eine bedeutende Initiative der Alliierten notwendig werde. Wohl wissend, dass Helens Prognosen über den Kriegsverlauf fast immer zutreffend gewesen waren, ging er davon aus, sie könne sich wohl denken, dass mit besagter Initiative die Befreiung Frankreichs gemeint war.
Wie alle anderen hatte auch Helen diese Entwicklung herbeigesehnt – wenn die Deutschen aus Frankreich vertrieben werden könnten, wäre das ein schwerer Schlag für Hitler, eine symbolische und militärische Niederlage, von der er sich womöglich nicht mehr erholen würde. Sie wusste aber auch, wie hoch der Preis für eine solche Aktion war. Die Deutschen hatten an der französischen Westküste eine massive Verteidigungslinie aufgebaut, die nur von einer schlagkräftigen Armee durchbrochen werden konnte. Sie selbst hatte in ihren Artikeln darauf hingewiesen, dass es für die Alliierten »selbstmörderisch« sei, diese Linie anzugreifen, bevor ihre Truppen entsprechend aufgerüstet waren. Aus dem, was Knox ihr mitteilte, schloss sie, dass der Vorstoß für das folgende Jahr geplant war. Und während Helen nichts anderes übrigblieb, als umgehend nach London zurückzukehren, hatte sie längst insgeheim beschlossen, dass die Befreiung Frankreichs eine Story war, die sie auf keinen Fall verpassen durfte. Sobald alliierte Soldaten auf französischem Boden landeten, würde sie einen Weg finden, um dabei zu sein.