Kapitel 14

DIE ARDENNENOFFENSIVE, WINTER 1944-45

»Wenn sie dir keine Akkreditierung geben, dann geh trotzdem, jede kleine Lüge ist in Ordnung.«

Martha Gellhorn1

Bereits im Herbst 1944 hatte sich Martha Gellhorn aus Paris davongestohlen, um inoffiziell Berichte über den Vormarsch der Alliierten zu schreiben. Sie hatte die Befreiung von Brüssel und Antwerpen miterlebt und war Mitte September nach Nimwegen gereist, das sich in eine besonders brutale Kampfzone verwandelte, als Briten und Amerikaner versuchten, den Deutschen die Kontrolle über die Stadt zu entreißen. Die Einzelheiten der Kampfhandlungen interessierten Martha nicht weiter, obwohl sie längst gelernt hatte, die Chancen einer einzelnen Messerschmitt im Luftkampf mit drei Spitfires einzuschätzen oder die Anordnung von Geschützbatterien und Stellungen zu deuten. Sie wollte vielmehr den leidvollen Alltag der verbliebenen Einwohner dokumentieren, wobei ihr nicht entging, dass diese Leiden durch ebenjene Kämpfe verursacht wurden, die ihnen die Befreiung bringen sollten.

In dem Artikel »Eine kleine Stadt in Holland«, den sie an Collier’s schickte, beschrieb sie die stoische Ruhe, mit der die Männer und Frauen allmorgendlich aus den Schutzräumen kamen, um die Zerstörungen der vergangenen Nacht zu begutachten und »verzweifelt bemüht um Sauberkeit … die Glasscherben zusammenfegen«.2 Mit trostloser Genauigkeit berichtete sie, wie Nimwegen zu einer Stadt geworden war, »in der die Menschen in Kellern schlafen und auf der Straße immer vorsichtig die Ohren spitzen, ob nicht Granaten im Anzug sind«. Trotz des Leids, das sie beobachtete, war Martha überzeugt, dass die Befreiung von den Nazis nahezu jedes Opfer rechtfertigte. Überall konnte sie die Folgen der Besatzung beobachten: rachitische Kinder, die, geschwächt von Jahren des Hungers, das Spielen verlernt hatten; Familien, die ihre Väter, Brüder und Ehemänner in deutschen Fabriken oder Lagern verloren hatten. Die jüdische Bevölkerung der Stadt war praktisch ausgelöscht, dennoch gelang es Martha, mit einigen wenigen Überlebenden zu sprechen. Eine von ihnen, eine dünne, dunkle, nervöse Frau mit einer ungesunden, von vier im Keller verbrachten Jahren verursachten Blässe, arbeitete nun Zwölf-Stunden-Schichten als Rote-Kreuz-Schwester und legte täglich einen achtstündigen Fußmarsch zurück, um ihr verletztes Kind im Krankenhaus zu besuchen.

Ihre Lage war ebenso tragisch wie heroisch, doch, wie Martha anmerkte, war die Tragödie in Europa mittlerweile so sehr zum Normalzustand geworden, dass es schwerfiel, für diese Frau mehr als ein abstraktes Mitgefühl aufzubringen. Vor allem als sie von den anderen zwölftausend Juden aus Nimwegen erfuhr, die in Konzentrationslagern in Polen zu Tode gekommen waren. Martha hatte zwar Gerüchte über die Todeslager gehört, war aber zutiefst erschüttert, als ansässige Holländer sie bestätigten. Wie sie ihren Lesern und Leserinnen versicherte, hatte ihr Informant direkt von SS-Wachen erfahren, dass dieses polnische Lager mit besonderen Vernichtungseinrichtungen ausgestattet worden war – einem »sauberen weiß gekachelten Duschraum« mit speziellen Luftschächten, durch die tödliches »Zyklon B« hineingepumpt werden konnte. Sie hatte damals noch keine Vorstellung von dem Ausmaß der Vernichtungsaktion, versuchte aber, sich die Angst jener Juden vorzustellen, »deren Agonie wir nicht mal erahnen können«. Martha fragte sich, was das für Wissenschaftler und Ingenieure waren, die willentlich solch mörderische Technologie entwickelten, deren Schatten sich für immer über die Einwohner von Nimwegen legte. »Wenn die Menschen in der Nähe von etwas so Furchtbarem gelebt und es gesehen, gehört und verstanden haben, dann geschieht etwas mit ihnen, das sich niemals wieder auslöschen lässt«, überlegte sie und erkannte damals noch nicht, dass auch sie auf Dauer von ihren Kriegserfahrungen gezeichnet sein würde.3

In der zweiten Oktoberhälfte waren die fünf Armeen der Alliierten so weit vorgerückt, dass sie bereit waren für den Angriff auf den Westwall, eine Verteidigungslinie aus natürlichen und von Menschen gemachten Befestigungen entlang der deutschen Westgrenze. Als am 21. Oktober die Festungsstadt Aachen eingenommen wurde, schien ein Sieg bis Weihnachten wahrscheinlich. Dieser Optimismus stellte sich jedoch als leichtfertig und verfrüht heraus. Anfang November setzte Dauerregen ein; die Panzer blieben im Matsch stecken, und der Vormarsch des Konvois wurde zusätzlich behindert von den dichten Wäldern und großen Seen des Grenzgebiets. Auf keines dieser Hindernisse war man vorbereitet gewesen, doch der schwerwiegendste Fehler in der Strategie der Alliierten war, dass sie den Willen des Feindes unterschätzt hatten.

Hitler hatte in den vergangenen sechs Monaten schmachvolle Niederlagen einstecken müssen: Seine Luftwaffe kontrollierte nicht länger den Himmel, seine Fabriken konnten nicht genügend neue Panzer und Waffen produzieren, und die Mehrzahl seiner Generale hatte die Hoffnung längst aufgegeben. Doch er war weiterhin entschlossen, die eigene Existenz und die des Reiches in einer letzten Gegenoffensive zu riskieren und ließ verlautbaren: »Wir setzen alles auf eine Karte. Wir dürfen nicht scheitern.« Er glaubte, den Sieg so noch erringen zu können. Gruppen Englisch sprechender Deutscher waren damit beauftragt, die Kommunikation zwischen den Alliierten zu stören, und Spione spürten Schwachstellen in deren Front auf. Diese Schwachstelle waren die Ardennen, 11000 Quadratkilometer dicht bewaldetes Hügelland, das sich an den Grenzen Frankreichs, Belgiens und der Niederlande erstreckte und für dessen Verteidigung das SHAEF nur dreieinhalb Panzerdivisionen eingesetzt hatte. Am Morgen des 16. Dezember fielen Welle um Welle deutscher Bomben und Fallschirmspringer vom Himmel, während am Boden Panzer, Lastwagen und Infanterie aus den Wäldern brachen und die völlig unvorbereiteten Alliierten zu einem überstürzten Rückzug zwangen.[68] 

Innerhalb weniger Tage waren vier der fünf Armeen eingekreist, und kürzlich eroberte Gebiete fielen an die Deutschen zurück. Wegen der Geschwindigkeit und des Ausmaßes der deutschen Offensive wurde die Ardennenschlacht im englischen Sprachraum »Battle of the Bulge« (Schlacht der Ausbuchtung) genannt, doch wie so oft in diesem Krieg verbarg die flapsige Bezeichnung eine umso grimmigere Realität. Während eines einzigen Monats wurden 80000 Mann der alliierten Truppen getötet oder gefangen genommen, riesige Mengen an Benzin und Waffen erbeutet und große Landstriche in Belgien und dem nordöstlichen Frankreich zurückerobert. Ausgerechnet in diesem besonders kritischen Moment des Krieges gestattete man den Frauen erstmals gleichberechtigten Zugang zu den Kampfgebieten. Am 18. Dezember stand Lee Carson auf einem vorgeschobenen Gefechtsstand an der belgisch-luxemburgischen Grenze, von wo sie eine vorrückende Phalanx von Tiger-Panzern beobachtete und berichtete, dass feindliche Flugzeuge »vom rosig gestreiften Winterhimmel Ströme heißen Bleis auf uns herabregnen ließen«.4 Am selben Tag fuhr Iris Carpenter in einem Militärjeep eine kurvenreiche Straße entlang, wo es, wie ihr Fahrer meinte, »nur so von Fallschirmspringern wimmeln könnte«.5 Einen Monat zuvor hätte man die beiden Frauen für eine solche Nähe zu den Kampfhandlungen noch vor Gericht gestellt; jetzt berichteten sie mit vollem Wissen ihres zuständigen PROs als offizielle, ausgewiesene Mitglieder des U.S. First Army Press Corps.

Nachdem das SHEAF in der Frage der Kriegsberichterstatterinnen eine widerwillige Kehrtwende vollzogen hatte, blieb theoretisch nur noch eine Klausel bestehen, die Frauen den Zugang zu den vordersten Frontabschnitten verwehrte. Doch die Formulierungen blieben vage; die Unterscheidung zwischen »hinten« und »vorn« lag ganz im Ermessen des zuständigen Offiziers, und die Frauen erkannten sehr bald, was das jeweils Vorteilhafteste für sie war. Als Iris Carpenter und Lee Carson der 1. US-Armee zugeteilt wurden, war ihnen durchaus bewusst, dass Oberst Andrews, ihr Pressekommandeur, hatte verlauten lassen, jede Frau unter seiner Zuständigkeit werde genauso behandelt wie ihre männlichen Kollegen. Sie könnten sich die Orte, »an die ihr journalistischer Instinkt sie treibt – genau wie die Männer – selbst aussuchen, und wenn sie dabei eine gute Story landen und ihren männlichen Kollegen die Hosen ausziehen, dann soll mir das recht sein«.6

Insgeheim aber bat Andrews Lee und Iris, sich keiner Gefahr auszusetzen: »Ihr nützt eurer Zeitung verdammt wenig, wenn ihr verletzt seid, und ich bekomme dann ein Riesenproblem.«7 Doch als die Ardennenoffensive rund um die fünf Armeen der Alliierten erst mal entbrannt war, konnte niemand mehr genau sagen, wo die Gefahr lauerte. Und als deutsche Bomber Andrews’ Pressecamp angriffen, das sie irrtümlich für eine militärische Anlage hielten, kam der Oberst selbst ums Leben.8

Während sich die Kampfhandlungen ausdehnten und die Redakteure mehr Journalisten aus Paris anforderten, wurden auch immer mehr Frauen geschickt. Ende Dezember ließ Helen Kirkpatrick ihr Büro in der Obhut einer Stellvertreterin zurück und fuhr ins Elsass, wo die 44. Infanteriedivision der Amerikaner versuchte, das Vorrücken der Deutschen Richtung Osten aufzuhalten. Schneestürme fegten von den Bergen herab, und wegen der eisigen Temperaturen waren die Schlafsäcke steif vor Kälte, Teile der Ausrüstung versagten, und Männer erfroren in den Unterständen. Helen stellte mit Entsetzen fest, wie schlecht die Division auf den Winter vorbereitet war; die meisten Soldaten trugen noch ihre Sommeruniform und mussten dünne weiße Umhänge, die von den örtlichen Frauen genäht wurden, als winterliche Tarnkleidung benutzen. Ihrer Meinung nach kam diese Inkompetenz einem Kriegsverbrechen gleich, und sie schickte einen wütend formulierten Bericht an General Hodges, den Kommandeur der 1. US-Armee, um ihn über die Lage aufzuklären.

Helen machte sich hinsichtlich der amerikanischen Soldaten keine Illusionen, sie fand, zu viele von ihnen seien mit mangelnder Ausbildung und Disziplin in diesen Krieg geschickt worden. Und sie sorgte sich um ihr Wohlbefinden. Eines Morgens trank sie Kaffee mit einigen Männern aus der 44. Infanteriedivision und hörte ihren Kriegsgeschichten und Erinnerungen an die Heimat zu. Als sie Wochen später erfuhr, dass viele von ihnen in der Schlacht von Metz umgekommen waren, schrieb sie den Familien Beileidsbriefe. Eine der Witwen antwortete mit tränenreicher Dankbarkeit: »Ihr Brief hat mir das Bild gegeben, nach dem ich mich so gesehnt hatte. Die Normalität des Kaffeekochens nach einer Horrornacht macht mir Leonards Erfahrungen dort so viel realer.«9 Helen selbst gemahnte der Brief schmerzlich daran, wie weit der Krieg sich mittlerweile ausgedehnt hatte und dass er inzwischen von den Schlachtfeldern Europas bis in die Häuser und Familien der amerikanischen Soldaten vorgedrungen war.

Jede Woche starben Tausende von Leonards, und für die Frauen, die nun zunehmend auch von der Front berichteten, war es nicht leicht, Zeuginnen dieses Gemetzels zu werden. Ende Dezember bewegten sich Dot Avery und Catherine Coyne mit einer amerikanischen Division auf die belgische Stadt Bastogne zu. Weil Weihnachtszeit war, hatten die Soldaten ihre Helme mit Misteln und Ilex geschmückt und laut Catherine »hatte sich der Konvoi in eine riesige, fantastische, lärmende Parade verwandelt«. Doch in Bastogne angekommen, traf die lautstarke Festlichkeit auf »Trümmer und Verwüstung«. Die 10. Panzerdivision hatte sich heldenhaft gegen die deutschen Angriffe verteidigt, aber der Preis war grausam hoch. Dot und Catherine hörten von Männern, die man schreiend aus ihren brennenden Panzern geborgen hatte, und von einem improvisierten Lazarett der Alliierten, das feindliche Bomben dem Erdboden gleichgemacht hatten. Hier gab es keinen Ruhm, nur Blut und Schmerz. Und als auch Martha Gellhorn über die Verteidigung von Bastogne berichtete, hob sie hervor, dass hinter dem Aufrechnen militärischer Verluste und Gewinne das Leid von ganz realen Menschen steckte. »Dies ging nicht schnell und nicht einfach; und vollbracht wurde es nicht von anonymen Größen wie Armeen, Divisionen und Regimentern. Es wurde von Männern vollbracht, von jedem einzelnen – von euren Männern.«10

Obwohl man die Deutschen zum Rückzug gezwungen hatte, gab es Gerüchte von neuerlichen Angriffen. Als Martha Soldaten interviewte, die außerhalb von Bastogne stationiert waren, stellte sie fest, »wie klein« so ein kriegsentscheidender Moment oftmals war. »Zuletzt kann er auf zehn unrasierte, hagere junge Männer aus ganz Amerika, zusammenschrumpfen, die auf einer entscheidenden Straße stationiert sind und auf das Anrollen der deutschen Panzer warten.«11

Für die befreiten Zivilisten in Frankreich und Belgien war die Ardennenoffensive nicht minder katastrophal. In Bastogne sahen Dot und Catherine, wie still weinende Familien aus den Trümmern ihrer zerstörten Häuser gebuddelt wurden; in Spa bat eine verzweifelte jüdische Mutter sie, ihr Baby in Sicherheit zu bringen; in Straßburg, wo die deutschen Truppen kurz vor dem Sieg standen, beobachteten sie, wie die Bevölkerung hektisch die erst kürzlich gehissten französischen und amerikanischen Fahnen einholte; und Lee Miller, die wenig später eintraf, fand in der zerwühlten, gefrorenen französischen Landschaft und den zerstörten Dörfern voll obdachloser Menschen nichts, was auch nur entfernt ihrer euphorischen Kriegserfahrung in Saint-Malo glich. »Überall der Gestank des Todes, von Leichen und von explodierten Granaten«, schrieb sie, und ihre Fotos zeigen das gleiche hoffnungslose Elend: eine Gruppe verzweifelter Nonnen, die auf der Suche nach ihrem Priester durch die Trümmer irren; eine Puppe auf einem Haufen Schutt, die Arme in einer makabren Geste der Unterwerfung erhoben.12 Die Soldaten, die im Elsass kämpften, wirkten außerdem viel jünger und verletzlicher als Lees Helden von den 83ern, und sie hatten, die Gesichter »grau und gelb vor Angst«, auch sehr viel mehr Opfer zu verzeichnen – von den marschierenden Verletzten, die »sich stumm und wie Schlafwandler oder Betrunkene bewegten, bis zu dem schwerstverwundeten Leutnant, der bei einem Graben zusammengebrochen war und mit schauerlicher Ruhe seinen Tod erwartete«.13

Ein Ereignis, über das Lee nicht in der Vogue berichtete, war ihr Besuch in einem abgelegenen Lager der Nazis, das die Alliierten im vergangenen November entdeckt hatten. Struthof war inzwischen in Unterkünfte für internierte deutsche Zivilisten umgewandelt worden, doch Spuren der einstigen Grausamkeiten waren noch immer sichtbar. Lee gefror das Blut in den Adern, als man ihr beim Rundgang durch Struthof die ordentlich aufgereihten Gefäße mit der Asche der Toten zeigte, die kleine, improvisierte Gaskammer mit den primitiven Pumpvorrichtungen und die Fleischerhaken, mit denen man die Opfer fixiert hatte. Dass sie schon bald erfahren sollte, dass in Lagern wie Dachau und Auschwitz noch unvorstellbarere Gräueltaten erfolgt waren, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht.

Auf ihrer Tour durch das Elsass hatte Lee ihren eigenen Jeep und einen militärischen Begleiter – einen jungen, leicht zu beeindruckenden Franzosen, der seine hübsche Fracht nur zu gern chauffierte, wohin sie wollte. Martha Gellhorn unterdessen reiste weiterhin allein und spontan, denn sie war überzeugt, dass die Unabhängigkeit vom Pressekorps die beste Voraussetzung für ihre Integrität war und ihr Zugang zu Geschichten bot, an die andere nicht herankamen. Doch Ende Dezember gab es einen Punkt, an dem Martha diese Eigenständigkeit fast das Leben gekostet hätte. Sie war auf dem Weg nach Sissonne, einem kleinen Dorf unweit von Reims, wo die 82. US-Luftlandedivision soeben einen langen, grausamen Kampf zur Befreiung einer eingeschlossenen amerikanischen Einheit ausgefochten hatte. Dort entdeckte sie ein verlassenes Haus, in dem sie ihren Schlafsack ausrollte, und sie brachte einige wohlwollende junge Feldwebel dazu, sie auf die nächtlichen Streifgänge mitzunehmen. Eines Abends patrouillierten sie gerade in einem Sperrgebiet, als ein Militärpolizist sie entdeckte, und da Martha weder eine Akkreditierung noch einen anderen Dienstausweis vorzeigen konnte, wurde sie dem Divisionskommandeur zum Verhör vorgeführt.

Fatalistisch wie sie war, bereitete Martha sich auf das Schlimmste vor. Sollte Major General James Gavin sich als Frauenhasser oder Prinzipienreiter erweisen, musste sie mit Inhaftierung, wenn nicht gar mit Ausweisung rechnen, und würde niemals die abschließenden Kapitel dieses Krieges schreiben können. Doch als sie Gavin unter die Augen trat, erkannte sie, dass er keineswegs der »mit Orden behängte« Machtmensch war, den sie befürchtet hatte. Seine Stimme klang humorvoll, und das breite, offene Gesicht hatte einen lebhaften, intelligenten Ausdruck. Als er nach einer Erklärung für ihre Anwesenheit in Sissonne fragte, schien ihn die Geschichte ihres Einzelgängertums nachgerade zu amüsieren. Offensichtlich beeindruckt, wie weit sie ohne Akkreditierung gekommen war, lobte er ihre Initiative und scherzte, dass sie eine hervorragende Guerillakämpferin abgeben würde.

Spätestens als Martha merkte, dass der Major General sie nicht nur bewunderte, sondern auch attraktiv fand, wusste sie, dass sie sicher war. Die Blicke, die über sie hinwegglitten, waren »aufgeladen« wie eine Liebkosung, und sie spürte, wie sie rot wurde. Aber jetzt war nicht die Zeit für Flirts, und kaum hatte Gavin sie entlassen, war die Begegnung auch schon wieder vergessen.

Sie fuhr nach Luxemburg, machte einen Abstecher nach Bastogne, und kehrte an einem schneereichen Neujahrstag nach Luxemburg zurück, wo sie vor Vergnügen kreischende Kinder Schlitten fahren sah, während amerikanische Jagdflugzeuge am Himmel kreisten. Im Januar begab sie sich dann in den Süden an die französisch-spanische Grenze und besuchte ein provisorisches Flüchtlingslager, in dem eine halbe Million geschlagene Loyalisten Unterschlupf gefunden hatte. Die Spanier bekamen dort nicht mehr zu essen als eine »Suppe zum Verhungern«, schrieb Martha, doch sie gaben ihren Kampf gegen den Faschismus oder ihren »alles übersteigenden Glauben« an ihre Sache nicht auf. Und mit dem Gedanken an diese Loyalisten bestieg sie eine der amerikanischen Schwarzen Witwen, eine Northrop P-61, die auf der Jagd nach deutschen Flugzeugen nächtliche Einsätze flog.14

Martha hatte Flugangst. Sie erinnerte sich noch gut an ihre »zappelnden Glieder« und ihren »nervös entrückten« Geisteszustand, als sie vor vier Jahren China überflogen hatte. Jetzt, mit einer schlechtsitzenden Sauerstoffmaske vor dem Gesicht und dem Dröhnen der Motoren in den Knochen, wartete sie einfach nur auf den Tod. In fast 7000 Metern Höhe waren die Kälte und der Druck extrem: »Es fühlte sich an, als würde mein Magen flach gegen die Wirbelsäule gepresst, als würde ich ersticken«, schrieb sie.15 Doch verglichen mit dem Gefühl, als die Schwarze Witwe durch feindliches Flakfeuer schlingerte und sich einen Luftkampf mit deutschen Maschinen lieferte, waren solche Ängste bedeutungslos. Schließlich befand sie sich direkt über dem gegnerischen Jagdflugzeug, genau in dessen Schussfeld. Obwohl sich Martha während des ganzen Fluges dem Tod so nahe gefühlt hatte, wollte sie diese Erfahrung nicht missen. Als sie hoch über Deutschland hinwegflog, sah sie an der Westfront Artilleriefeuer aufblitzen und die Spur einer Bombe mit Raketenantrieb, die aus einem Feuerball aufstieg. Hitlers Reich kämpfte mit letzter Kraft ums Überleben.

Dieses Erlebnis sollte zum Wendepunkt von Marthas Kriegserfahrung werden. Die Ardennenoffensive war schließlich doch noch erfolgreich, und nicht nur die Alliierten waren wieder im Vormarsch, auch Martha hatte ihre privilegierte Position bei Collier’s zurückerobert. Ernest hatte sich nach einem Streit um Spesenabrechnungen von dem Magazin getrennt. Doch bei Martha forderten die Monate des einsamen Reisens ihren Tribut. Sie konnte sich kaum erinnern, wann ihr das letzte Mal richtig warm gewesen war; der Winter war in diesem Jahr besonders streng, und mangels Kohle wurden Gebäude selbst in Paris oft nur für zwei Stunden am Tag geheizt. Und bei jeder zeitweiligen Rückkehr ins Lincoln musste sie über ihren geschwollenen Frostbeulen Handschuhe tragen, um ihren Bericht in die Maschine tippen zu können. Noch zermürbender als die Kälte war die unbarmherzige Härte dieses Krieges. Ende Januar schrieb Martha einen Brief an Collier’s und gestand, sie wisse nicht, ob sie »einfach nur todmüde oder total verzweifelt war«, und sie sei sich nicht sicher, wie lange sie noch durchhalten werde.16

Ihr langjähriger und vertrauter Redakteur Charles Colebaugh war im vorigen Jahr gestorben, und Martha war außer sich, als sein Nachfolger ihren vertraulichen Brief einfach veröffentlichte, noch dazu mit einem glamourösen Porträtfoto, das sie überhaupt nicht mochte. Trotzdem musste sie Henry La Cossitt dankbar sein, denn er schlug vor, sie solle für eine gewisse Zeit nach London zurückkehren und darüber berichten, wie die Stadt und ihre Bewohner das fünfte Kriegsjahr und den Beschuss durch Hitlers neue, noch tödlichere Vernichtungswaffe aushielten. Martha war an diesem Auftrag zwar nicht sonderlich interessiert – alles, was es darüber zu sagen gab, hatte sie bereits bei ihrem letzten Besuch berichtet –, dennoch freute sie sich über eine Auszeit und die Gelegenheit, Ginny Cowles zu treffen.

Virginia war nun endgültig hors de combat [außer Gefecht]: ihre rätselhafte Krankheit, ihre Kampfmüdigkeit und die Arbeit für die Botschaft hatten sie in London festgehalten, außerdem wollte sie mehr Zeit mit ihrer Schwester Mary verbringen, die sich jetzt ebenfalls in der britischen Hauptstadt aufhielt und für den amerikanischen Geheimdienst tätig war. Auch wenn Ginny nicht länger direkt über den Krieg berichtete, war sie doch Marthas engste »Kriegskameradin« – die Person, mit der sie ihre schlimmen Erlebnisse teilen und sich ins Lachen flüchten konnte. Ginny machte Martha auch bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wie ihr Leben nach dem Krieg aussehen sollte. Als die beiden Frauen beratschlagten, wie sie einander am besten unterstützen könnten, kamen sie auf die Idee, gemeinsam ein Theaterstück zu schreiben – eine Komödie über zwei Kriegsberichterstatterinnen, die sich in ein Pressecamp in Italien zurückgezogen hatten. Sie verbrachten einige ausgelassene Tage damit, eine Karikatur der jeweils anderen in die Maschine zu tippen und sich gemeinsam männliche Protagonisten auszudenken, wobei sie auf all die großspurigen Journalisten und widerlichen PROs zurückgriffen, mit denen sie sich hatten herumschlagen müssen. Martha hatte so viel Spaß mit Ginny, dass sie beschloss, sich nach dem Krieg ebenfalls in London niederzulassen, und suchte sich, entschlussfreudig wie sie war, sofort eine »heruntergekommene kleine Villa« am South Eaton Place, die sie zu einem Schleuderpreis erstand.17

Der Aufenthalt in London war erholsam, wenngleich überschattet von einer letzten Begegnung mit Hemingway. Er hatte eingewilligt, das Scheidungsverfahren einzuleiten, sobald er aus Kuba zurück war, vor allem, weil er Mary Welsh heiraten wollte. Er hatte sich zwar vorgenommen, rational zu bleiben, besaß aber immer noch die Macht, Martha einzuschüchtern. »Ein Mann muss schon ein außerordentliches Genie sein, um eine so hassenswerte Persönlichkeit wettzumachen«, schrieb sie ihrer Mutter, und voll Reue, ihn überhaupt geheiratet zu haben, gelobte sie, seinen Namen nie wieder hören zu wollen.18

Als sie Anfang März in ihr Zimmer im Lincoln zurückkehrte, war sie dünnhäutig und verletzlich. Sie fand dort eine Botschaft von James Gavin vor, der sich mit seinen Männern in Rouen vom Winterfeldzug erholte und die Zeit genutzt hatte, um sie ausfindig zu machen. Es sei sein dritter Versuch, schrieb er, und er wolle sie so gern sehen, dass er eine Maschine schicken werde, die sie zu seiner Kaserne fliegen könne. Alles in Martha sträubte sich gegen diese Dreistigkeit – sie gab ihr das Gefühl, »ein Paket« zu sein, das zur Abholung bereitstand.19 Das hinderte sie jedoch nicht daran, auf das Angebot einzugehen. Sie sehnte sich nach männlicher Gesellschaft, außerdem hatte sie Interessantes über Gavin gehört, der angeblich nicht nur der inspirierteste, sondern auch der inspirierendste Kommandeur der amerikanischen Armee war. »Jumpin’ Jim«, wie seine Männer ihn nannten, oder »Slim Jim«, wie er bei Presseleuten hieß, unternahm tatsächlich Einsatzsprünge zusammen mit seinen Fallschirmjägern. Er war nichts weniger als ein Held, und so einen brauchte Martha in diesem Stadium des Krieges besonders dringend.

Ihr erstes Treffen in der schäbigen Kaserne von Rouen verlief nicht gerade ermutigend. Martha fühlte sich in Gavins Bett »geschubst« und hatte Grund zu der Annahme, dass sie keineswegs die Erste war. Doch ihr Unbehagen wich, als sie sich hinsetzten und redeten. Jim sprach mit rührender Leidenschaft über seinen Glauben an den Krieg und sein Engagement für die ihm unterstellten Männer. »Ich war verrückt nach ihm als Soldat«, gestand Martha. Und als sie dann schließlich mit ihm schlief, bekannte sie mit dem ihr eigenen ironischen Humor, dass es »auf der Basis gegenseitiger Hochachtung« geschah.20

Am Ende ihres Aufenthalts in Rouen war Martha auch verrückt nach Jim als Mann. Als ihre Mutter Edna Gellhorn von der Affäre erfuhr, bemerkte diese spitzzüngig, dass sie durchaus in ein wohlbekanntes Muster passte. Als Martha ihre Leidenschaft für Frankreich entdeckte, schrieb Edna, habe sie sich in Bertrand, »den perfekten Franzosen«, verliebt; als sie an ihren Fähigkeiten als Romanautorin feilte, habe sie sich Ernest, »dem besten Schriftsteller seiner Generation«, zugewandt. Und nun, mitten im Krieg, tat sie sich erwartungsgemäß mit Jim Gavin zusammen, der als »tapferster [Kämpfer] überhaupt« galt.21

Dabei ließ Edna unerwähnt, dass ihr eigener Ehemann höchstwahrscheinlich dazu beigetragen hatte, dieses Muster zu etablieren – der Übervater mit den hohen und anspruchsvollen Standards, denen Martha stets nachgeeifert, gegen die sie später aber auch rebelliert hatte. Martha würde Jim bald wieder verlassen, doch im Frühling 1945 war er ihr die rettende Stütze, Inspiration und Freude, die sie so nötig brauchte.

Ihre Begegnungen waren flüchtig – eingetaktet zwischen Kampfeinsätzen und Berichtspflicht – und gestalteten sich nicht immer einfach. Bei einer dieser Zusammenkünfte erfuhr Martha, dass Jim seinen Männern einen taktischen Einsatz befohlen hatte, um den Beschuss einer im Feuer stehenden alliierten Einheit auf sich umzulenken. Er tat dies im vollen Bewusstsein der damit verbundenen Risiken und Opfer, für ihn eine notwendige Kalkulation: die Summe der geretteten Leben aufgerechnet gegen jene, die man womöglich verloren hätte. Martha hingegen konnte diese Logik nicht akzeptieren. Sie hatte gute Freunde bei den 82ern und war entsetzt, dass Jim sie wissentlich dieser Gefahr aussetzte. Wie jedes Mal, wenn in ihr die Gefühle hochkochten, ging sie zum Angriff über; sie stürmte in sein Büro und beschuldigte ihn, ein »Massaker« angeordnet zu haben. Seine Reaktion schockierte sie. Mit einer stählernen Härte in der Stimme, wie Martha sie bei ihm noch nie gehört hatte, forderte er sie auf, sein Büro zu verlassen und seine taktischen Entscheidungen nie wieder in Zweifel zu ziehen. Später entschuldigte sie sich und gab zu, dass sie Jims Verantwortlichkeiten weder einschätzen noch beurteilen könne. Doch der Vorfall war ihr eine Lehre; sie begriff, in welch unterschiedlichen Welten sie lebten und welche Schwierigkeiten auf sie zukämen, sollten sie nach dem Krieg zusammenbleiben.22

Umso gieriger lebten sie den Augenblick. Waren sie getrennt, dann schrieben sie sich lange Briefe, und Martha schickte Fotos als Dekoration für Jims Büro. Waren sie zusammen, wetteiferten sie in Spielen wie Gin Rummy, und Martha konnte zu ihrer großen Erleichterung auch den gemeinsamen Sex genießen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Zugang zu einer Welt, die für andere selbstverständlich war, eine Welt, in der Sex keine lästige Pflicht war, sondern etwas, das »so wild und verrückt und heftig [war] wie der Krieg«.23 Vielleicht lag es daran, dass Jim sich im Umgang mit ihrem Körper als geschickter erwies; vielleicht vertraute sie ihm mehr als ihren früheren Liebhabern; aber vielleicht war es auch die zunehmende Intensität des Krieges, die Martha in die Sphären schriller, beglückender, funkelnder Freude katapultierte.

Liebe und Sex stellten sich für jede Frau anders dar, und wenn beides auf Martha in diesem Stadium des Krieges heilsam wirkte, so bedeutete es für andere eher eine gefährliche Komplikation. Schwangerschaft war das offensichtlichste Risiko, denn obwohl die alliierten Soldaten mit Kondomen ausgestattet waren, konnte so ein Gummi leicht reißen oder altern, und keine der Korrespondentinnen wollte mitten im Kampfgebiet schwanger werden. Nicht weniger hinderlich konnten Liebeskummer und Trennungsschmerz sein. Zurück in Berlin, hatte sich Sigrid Schultz emotional verletzlich gemacht, indem sie sich in Peter Ilcus verliebte; die erzwungene Trennung und die Ungewissheit, ob Peter überlebt hatte, erschwerten ihr das Leben im Krieg. Für Virginia Cowles und Aidan Crawley war es die Angst vor einer Potenzierung ihres Leids, die sie zu Beginn des Krieges vor der Ehe zurückschrecken ließ, und ähnliche Befürchtungen hatten auch Helen Kirkpatrick vorsichtig werden lassen. Um ihre Arbeit gut machen zu können, musste sie ihre Gefühle im Griff haben und ihre Affären unverbindlich halten. Der Fall von Margaret Bourke-White bestätigte sie in ihrer Zurückhaltung. Margaret war 1943 dem Charme eines amerikanischen Offiziers der Spionageabwehr erlegen.

Major Jerry Parpurt hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, und als die beiden durch ihre jeweiligen Kriegspflichten getrennt wurden, führten sie ihre Affäre mittels militärischer Luftpost weiter. Doch im Juni 1944 blieben Jerrys Briefe plötzlich aus, und nach bangen Wochen der Ungewissheit erfuhr Margaret, dass er verwundet und im Zuge der Operation Overlord gefangen genommen worden war. Panisch schickte sie ihm eine kurze, dringliche Botschaft: »Ich liebe Dich, ich werde Dich heiraten!«[69]  Doch die Alliierten hatten das Lager bombardiert, in dem Jerry einsaß, und Margaret würde nie erfahren, ob er ihre Worte gelesen hatte.

Als wäre Margarets Verlust nicht Warnung genug, hatte Helen selbst eine Begegnung mit ihrem einstigen Ehemann, die ihr zu denken gab. Im Dezember 1944 war sie unterwegs nach Straßburg und unterbrach die Reise in Vittel, wo sie in der ruhigen Offiziersmesse eines Hauptquartiers der Alliierten gerade zu Mittag aß, als sie einen so kräftigen Schlag auf den Rücken bekam, dass sie »fast in die Suppe fiel«.24 Es war Vic Polachek, jetzt in Offiziersuniform, den Helen bald als den aggressiven Draufgänger wiedererkannte, den sie einst geheiratet hatte. Am nächsten Morgen bestand er darauf, sie nach Straßburg zu fahren, unter anderem, weil er ihr einen Beobachtungsposten zeigen wollte, der Ausblick auf ein lebhaftes Kampfgeschehen versprach. Zögernd willigte Helen ein, aber als sie von den Deutschen gesichtet wurden und Granaten in ihre Richtung flogen, wollte sie ihr Leben lieber nicht sinnlos aufs Spiel setzen und bat ihn, weiterzufahren. Er jedoch schien darin nur einen Test für starke Nerven zu sehen und beruhigte Helen mit ausladender Geste: »Aber Herzchen, jetzt dreh doch nicht gleich durch!«

»Ich bin nicht dein Herzchen, und ich drehe auch nicht durch«, gab Helen zurück. Die Erinnerung daran, wie falsch es gewesen war, ihn zu heiraten, verursachte ihr Gänsehaut, und im Bewusstsein dieser falschen Wahl wollte sie sich keinesfalls ein weiteres Mal durch einen Mann verletzbar machen. Doch vier oder fünf Monate später, als der Krieg in Europa offenbar langsam dem Ende zuging, traf sie einen Offizier namens Nigel und für ein kurzes Intermezzo schien sie bis über beide Ohren verliebt zu sein. Helen selbst hat über diese Affäre nie geschrieben. Auf die Frage, warum sie niemals ihre Memoiren veröffentlicht habe, sagte sie stets: »Ich hasse dieses Personalpronomen.« Es gibt keine Angaben darüber, wo und wie sie Nigel kennenlernte.25 Doch die Tiefe ihrer Beziehung wird deutlich in dem einzigen leidenschaftlichen Brief, der von Nigel erhalten ist. »Liebling, ich bin nicht gut darin, meine Gefühle aufs Papier zu bringen – oder sie auszusprechen, ich stammle dann nur noch zusammenhangloses Zeug. Aber ich kann sagen, dass sich nichts geändert hat, außer vielleicht, dass diese wunderbare und überraschende Sache stärker und stärker wird … o Gott, ich wünschte, Du wärest hier. Ich liebe Dich.«

Nigels Name und Ausdrucksweise deuten darauf hin, dass er Engländer war; über seine militärische Situation enthüllt sein Brief enttäuschend wenig; wir erfahren lediglich, dass er von einem Stützpunkt »östlich von Brest-Litowsk« abgeschickt wurde und Nigels Einheit bald nach Berlin verlegt werden sollte. Offenbar hoffte er auf eine gemeinsame Zukunft mit Helen; er versprach, sie in Paris zu treffen, sobald dies »menschenmöglich« sei, und wollte eines Tages »die ganze Zeit« mit ihr zusammen sein. Diese Zukunft stellte sich jedoch niemals ein. Möglicherweise wurde er an noch aktive Kriegsschauplätze im Fernen Osten versetzt, aber es ist auch denkbar, dass Helen sich zurückzog. Sie war so sehr daran gewöhnt, ihr eigenes Leben und ihre Karriere zu organisieren und unabhängig zu sein, dass sie sich eine dauerhafte Beziehung nicht mehr vorstellen konnte – und tatsächlich hat sie erst ein zweites Mal geheiratet, als sie schon fünfundvierzig und längst keine Journalistin mehr war.

Obgleich Intimitäten im Krieg vielen zu riskant erschienen, war Martha längst nicht die Einzige, die sich darauf einließ. Lee Carson, Iris’ Freundin und Kollegin in der 1. US-Armee, bekannte »ziemlich offen«, dass sie Sex dazu benutzte, um »den täglichen Horror des Krieges zu vergessen«.26 Kühn, großzügig und entspannt bot sie den Männern, die sie mochte, ihren kurvenreichen Körper an, ließ aber genauso selbstsicher jene abblitzen, die sie nicht mochte. In diesem Stadium des Krieges hegte eine Minderheit der männlichen Journalisten die Befürchtung, ihre Kolleginnen könnten die neu erstrittene Nähe zur Truppe ausnutzen und sich durch Flirts bessere Informationen verschaffen. Ein verärgerter Berichterstatter, der gesehen hatte, wie Lee mit ein paar GIs in den Ruinen von Aachen einen flotten Jitterbug hinlegte, ätzte: »Wie kann man es mit einer Dame aufnehmen? Da hüpft sie mit diesen Typen herum … und auf diese Weise kommt sie zu ihrer Story.«27 Doch seine Polemik war verfehlt. Lee tanzte, weil es ihr Spaß machte, weil Flirten ihre zweite Natur war und weil einige der jungen Männer am nächsten Tag schon tot sein konnten.

Auch für Lee Miller scheint Sex eine Methode des Trostes und der Entspannung gewesen zu sein. Ganz am Ende des Krieges tat sie sich mit Dave Scherman zusammen, aber es gab auch Phasen, in denen sie sich sehr allein und schutzlos fühlte angesichts der Dinge, über die sie berichten musste. »Mein Blick war so starr und mein Mund so steif, dass ich kaum ein Lächeln zustande brachte«, erinnerte sie sich später. Und während Außenstehende, die Lee unterwegs begegneten, sie so charismatisch fanden wie immer – draufgängerisch, lustig, erfinderisch und auf schmuddelige Weise schön in ihrem Khaki-Outfit –, so verdankte sich diese Strahlkraft vor allem künstlichen Stimulanzien und männlicher Gesellschaft.28 Jahre später gestand ein Offizier der 83er, dass er einer von mehreren in der Division gewesen sei, der mit Lee das Bett teilte, und im Gegensatz zu ihren flatterhaften Affären in Friedenszeiten scheint diese Promiskuität an der Front von reinem Überlebenswillen motiviert gewesen zu sein.[70]  In einer so kaputten, brutalisierten Welt waren das Gewicht und die Wärme eines anderen Körpers die naheliegendste Form des Trostes, die Lee kannte, und wie so vielen anderen mag es ihr als ein simpler Akt der Nächstenliebe erschienen sein, diesen Trost auch jenen Männern zu gewähren, die ihr Leben an der Front riskierten.

Für Clare Hollingworth nahm der Krieg eine überraschend romantische Wendung. Während der letzten fünf Jahre hatte sie sich frei und ungebunden gefühlt, sie genoss den Sex, wo er sich bot, und wies jedes emotionale Engagement mit dem sarkastischen Hinweis von sich, dass »ein guter Gin & Tonic einem mehr Vergnügen bereitet als jeder Mann«.29 Doch Mitte des Jahres 1943 traf sie Geoffrey Hoare, den neu entsandten Times-Korrespondenten in Kairo. »Er war groß, blond und schlank«, schrieb sie, »bewies Geschmack bei der Wahl seiner tropischen Kleidung und, bei weitem wichtiger, kannte sich bestens mit Ägypten und seiner Politik aus.«30 Außerdem war er ein gewiefter Frauenheld, der, obgleich mit der rothaarigen Journalistin Morley Lister verheiratet, einen Narren an der beharrlich ungepflegten Clare gefressen zu haben schien, in deren gegeltem Haar sich bereits erste weiße Strähnen zeigten. Clare ihrerseits hatte offenbar keine Bedenken wegen der Affäre. Sie war zu der Erkenntnis gelangt, dass Untreue in Kriegszeiten entschuldbar oder zumindest moralisch gerechtfertigt sei. Sie verschwendete daher kaum einen Gedanken an Morley Lister, zumal sie sie zu jenem Typ von Journalistin zählte, die ihre Locken und ihre Weiblichkeit gezielt zur Förderung ihrer Karriere einsetzte.

Doch im Lauf der Monate erkannte Clare, dass sie in Geoffrey ihren Partner und Mann fürs Leben gefunden hatte. Als Journalist teilte er ihre Leidenschaft für Reisen und Schlagzeilen, als Sozialist die Hoffnungen auf eine rationale Zukunft, und als Liebhaber war er abwechslungsreicher und geschickter als alle Männer, die sie kannte. Es kam zu längeren Trennungen, wenn Clare Kairo verlassen und über politische Entwicklungen im Nahen Osten berichten oder sich über den Guerilla-Widerstand auf dem Balkan und in Griechenland informieren musste. Im Herbst 1944 waren sie und Geoffrey jedoch zufällig beide in Athen stationiert, von wo die Deutschen sich zurückzogen, weil sie in Westeuropa wichtigere Schlachten zu schlagen hatten, und wo sich die Kommunisten und Royalisten nun um die Vorherrschaft in dem jüngst befreiten Land stritten.

Die gemeinsam in Griechenland verbrachten sechs Monate besiegelten ihre Beziehung. Weit weg von der Kairoer Gerüchteküche konnten sie endlich offen zusammenleben, merkten aber auch, wie gut sie als professionelles Team zusammenarbeiteten. Viele der Reportagen, die sie aus Athen schickten, waren von ihr recherchiert und von ihm stilistisch aufpoliert. Im Frühjahr 1945 gingen sie nach Kreta, um über die Kapitulation der letzten verbliebenen deutschen Truppen zu berichten, für Clare eine der glücklichsten Zeiten ihres Lebens. Das Paar fuhr auf der Insel herum »wie die Lords« und sorgte dafür, dass auch die letzte, hartnäckig Widerstand leistende deutsche Einheit vom Sieg der Alliierten erfuhr. Ausgerechnet hier, inmitten des mediterranen Idylls und in ihrer ganz persönlichen Kriegserfahrung, machte Geoffrey ihr einen Heiratsantrag.31

Während der letzten Monate des Konflikts war Clare so mit Griechenland und Geoffrey beschäftigt, dass sie gar nicht ins eigentliche Zentrum der Ereignisse zurückwollte. Sie hatte im Februar und März den Vormarsch der alliierten Truppen über den Rhein mitverfolgt, während die Russen Deutschland von Osten her bedrohten, und ihr war klar, dass das Ende kurz bevorstand. Hatte Clare zu Kriegsbeginn alles darangesetzt, die Vorgänge genauestens zu schildern, so überließ sie es nun den anderen, die abschließenden Kapitel zu schreiben. Sie beschränkte sich darauf zu lesen, was sie über den triumphalen Einzug der alliierten Konvois ins Kernland des Reichs zu berichten hatten, während eine zerbombte Stadt nach der anderen eingenommen wurde. Und sie hörte nur aus zweiter Hand von den gemischten Gefühlen ihrer Kollegen, als sie das erste Mal auf feindlichem Boden standen. Es war schon irritierend genug, sich in Deutschland aufzuhalten, noch verstörender aber waren die Begegnungen mit seinen Bewohnern: Männer und Frauen, die sie fürchten und hassen gelernt hatten und die nun die schwächsten aller Gegner zu sein schienen – sie hatten nicht nur ihre Häuser und ihr Auskommen verloren, sondern auch ihren Nationalstolz.