»In Dachau gab es alles, was man je über Konzentrationslager gehört hat und niemals hören wollte.«
Lee Miller1
Wir haben inzwischen alle eine Menge gesehen …«, schrieb Martha Gellhorn, »aber nirgendwo hat es etwas gegeben wie dies hier.«2 Das Ausmaß dieses Krieges hatte die Grenzen des normalen Journalismus längst gesprengt – die zahlreichen Städte, die zu riesigen Beinhäusern geworden waren, die Abermillionen Toten, Heimatlosen und Hinterbliebenen. Als sich dann aber die Tore der Konzentrationslager öffneten, sahen sich die Reporter mit einem Material von solcher Abscheulichkeit konfrontiert, dass selbst der Reporterlegende Ed Murrow die Worte fehlten. Als er am 11. April aus Buchenwald berichtete, gestand er: »Ich habe berichtet, was ich sah und hörte, aber nur zum Teil. Für das meiste habe ich einfach keine Worte.«3
Ein Großteil der Pressevertreter hatte von der Existenz der Konzentrationslager gewusst, lange bevor sie befreit wurden. Sigrid Schultz hatte über das geschrieben, was sie über Dachau, das allererste Lager, in Erfahrung bringen konnte, aber die Anwälte und Aktivisten, die hinter den Mauern zu recherchieren versuchten, hatte man zum Schweigen gebracht. Niemand außerhalb des inneren Zirkels der Nazis wusste Genaueres darüber, wie verbreitet die Lager im Reich waren und mit welch mörderischer Finesse sie funktionierten.
Ursprünglich hatten sie zur Verwahrung von hochrangigen politischen Gefangenen, Juden und anderen Arten von »Untermenschen« gedient. Viele Insassen waren wegen ihrer angeblichen Verbrechen hingerichtet worden, viele andere an Hunger und Krankheit gestorben. Doch erst um die Mitte des Jahres 1941, als das Reich sich ausdehnte und Erschießungskommandos der wachsenden Zahl an »menschlichem Ungeziefer« nicht mehr Herr wurden, machten Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich den Vorschlag, gewisse Lager mit entsprechenden Vernichtungsanlagen auszustatten.
Im Oktober 1941 wurden in einem Lager im polnischen Bełżec Gaskammern und Verbrennungsöfen installiert, in denen mehrere hundert Gefangene gleichzeitig getötet werden konnten. Im Folgejahr wurden in Polen und Weißrussland weitere Vernichtungslager errichtet; entweder neu erbaut wie Treblinka oder ausgeweitet wie Auschwitz – die Kammern und Krematorien im Lagerkomplex Birkenau arbeiteten so effizient, dass bis zu 2000 Personen gleichzeitig umgebracht werden konnten, und im Lauf eines Tages bis zu zehnmal so viele. Die Opfer waren hauptsächlich Juden – bis Mitte 1943 waren geschätzte zwei Millionen vergast und verbrannt worden –, doch außer ihnen ermordeten die Nazis auch viele Tausende Bolschewiken, Roma, Widerstandskämpfer und Homosexuelle.
Die mangelnde Bereitschaft der Alliierten, die Lager zu bombardieren oder zumindest ihr Bahn- und Kommunikationsnetz zu zerstören, zählt zu den dunkelsten Kapiteln des Krieges. Es gab genügend nachrichtendienstliche Informationen über deren Existenz, viele davon durch Widerstandsgruppen ins Ausland geschmuggelt; die BBC hatte darüber berichtet, und auf höchster politischer Ebene waren Fragen gestellt worden. Doch Militärstrategen wiesen darauf hin, dass Angriffe auf die Lager mehr Insassen töten als retten würden, in Wahrheit aber waren die Lager nicht ihre Priorität. Laut Iris Carpenter herrschte weitgehend die Überzeugung, die Berichte seien übertrieben oder bildeten allenfalls vereinzelte Exzesse deutscher Brutalität ab. Als Maggie Higgins in Buchenwald eintraf, war sie so entschlossen, nicht auf die »Grausamkeitsmasche« hereinzufallen, dass sie mit bemerkenswerter Kaltschnäuzigkeit auf das Gelände marschierte und die wahren Fakten zu hören verlangte, bis sie schließlich beschämt erkennen musste, worin sie bestanden.
Die im Osten des Reiches vordringenden Russen waren die Ersten, die die Vernichtungslager erreichten. Die Nazis hatten vor ihrem Rückzug die Infrastruktur weitgehend zerstört, dennoch trafen die russischen Soldaten im Januar 1945 in Auschwitz noch 7000 Gefangene an; manche von ihnen konnten gerade noch stammelnd bruchstückhafte, gespenstische Schilderungen dessen geben, was sie durchgemacht hatten. Doch selbst jetzt wurden die Informationen nicht weiterverbreitet; der sowjetischen Presse waren sie gerade mal einen kurzen Absatz wert, denn dem Kreml ging es vor allem um die Leiden der Russen, und die Mehrzahl der Opfer in Auschwitz waren Juden. Unterdessen kam die Wahrheit stückweise bei den Alliierten an. Im November 1944 hatten sie das elsässische Struthof erobert; eigentlich war die dortige primitive Gaskammer Beweis genug für abscheuliche Verbrechen, doch ihr Ausmaß schien begrenzt. Am 4. April 1945 stieß eine Division der 4. Armee auf das kürzlich evakuierte Lager in Ohrdruf bei Gotha, das ganz andere Dimensionen aufwies. Überall lagen verkohlte Leichen, und als die Soldaten eine kleine Gruppe Überlebender befragten, waren deren Schilderungen so haarsträubend, dass drei der Generale – Eisenhower, Patton und Bradley – sich verpflichtet fühlten, Ohrdruf persönlich zu besuchen. Eisenhower gab später seinen erschütterten Kommentar ab: »Es war mir nie möglich, meine Gefühle zu schildern, als ich zum ersten Mal mit den unbestreitbaren Beweisen der Nazibarbarei in Berührung kam. Weder davor noch danach habe ich einen ähnlichen Schock erlitten.«4 Selbst der bekanntermaßen stoische Patton musste sich übergeben. Doch Ohrdruf war nur der Anfang; es stellte sich heraus, dass es nur eines von mehreren Außenlagern des Gesamtkomplexes Buchenwald war.
Sobald Patton begriff, was er da sah, gab er den Befehl, sofort eine Gruppe ausgewählter Journalisten nach Buchenwald fliegen zu lassen, unter ihnen auch Sigrid Schultz, Helen Kirkpatrick und Ed Murrow. Alle berichteten einhellig, wie schockiert und abgestoßen sie von dem waren, was man ihnen zeigte. Die fliehenden Deutschen hatten Abertausende von Leichen zurückgelassen, weil ihnen das Benzin zum Verbrennen ausgegangen war. Als Sigrid die hoch aufgeschichteten, zerbrechlichen grauen Körper sah, dachte sie zunächst, es handle sich um einen Holzstoß. Nicht weniger traumatisierend war der Anblick der 17000 Überlebenden, viele von ihnen nicht mehr als wandelnde Skelette, ausgemergelt, hohläugig und in schmutziger Lagerkleidung. Die Hinfälligsten und Schwächsten hatte man zu den Leichen gepackt, sie konnten oft nur durch ein Zucken der Lider oder ein schwaches Handzeichen auf sich aufmerksam machen.
Obwohl in Buchenwald 56000 Menschen umgekommen waren, wurde es nicht als Vernichtungslager eingestuft, und Insassen, die auch in Auschwitz gewesen waren, bestanden darauf, dass in Buchenwald vergleichsweise »paradiesische« Zustände herrschten. Den angereisten Journalisten kam es indes so vor, als hätten sich die Tore zur Hölle aufgetan. Helen zwang sich zu einem Rundgang über das gesamte Gelände, sie sah die abstoßenden Schlafsäle, den Schießplatz, die Öfen, doch irgendwann verweigerten ihr Gehirn und ihre Sinne die Aufnahme: »Wenn man Tausende und Abertausende Leichen und verkohlte Körper sieht, … verliert man die Perspektive … man kann es einfach nicht mehr ertragen.«5 Sie suchte nach kleinen menschlichen Details, auf die sie sich konzentrieren konnte, und begleitete während der zwei Wochen, die sie sich in Buchenwald aufhielt, das Sanitätsteam der Alliierten bei seinen Versuchen, die Überlebenden so gut es ging wiederherzustellen.
Eine aus ihrem Notizbuch gerissene Seite – das einzige Memento, das sie von ihrem Aufenthalt in Buchenwald behielt – zeigt die Sorgfalt, mit der sie die Infusionen und Vitamine registrierte, die den zerstörten Körpern verabreicht wurden, ebenso das allmählich dorthin zurückkehrende Leben. Bisweilen gestand sie sich ein, dass die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, »ziemlich scheußlich« war, vor allem, als sie ans Bett eines Patienten gerufen wurde, der sich als einer ihrer Professoren herausstellte.6 Er hatte Helen gesehen und versucht, ihren Namen zu flüstern, war jedoch so gezeichnet von seinen Leiden, dass sie in ihm nicht jenen Mann erkannte, bei dem sie in Genf einst Internationale Beziehungen studiert hatte. Am zwölften Tag in Buchenwald wurde ihr Durchhaltevermögen belohnt: Die Todesrate war von täglich hundert auf dreißig gesunken, und in dem Bericht, den sie nach Chicago schickte, schlug sie einen verhalten optimistischen Ton an: »3000 Skelette kehren langsam ins Leben zurück.«7[78]
Sigrid hatte bereits 1938 von Buchenwald erfahren, als sie über das Außenlager Buchfart berichtet hatte, umso schlimmer war es für sie zu sehen, zu welch obszöner Monstrosität es angewachsen war und dass ihre eigene Berichterstattung daran nichts hatte ändern können. Dennoch versuchte sie genau wie Helen, ihren Schmerz durch Aktivität zu betäuben. Man hatte ihr eine Liste von jüdischen Studenten anvertraut, die aus Lagern in Paris deportiert worden waren, und sie hoffte, einige von ihnen ausfindig machen zu können. Ein junger französischer Lagerinsasse, den sie um Hilfe bat, dämpfte allerdings ihren Optimismus. Zwei der Jungen hatte er gekannt, aber die waren bereits gestorben, und falls noch weitere in Buchenwald gewesen waren, so hegte er starke Zweifel, dass sie überlebt hatten. Die Nazis hätten sie geschunden wie Pferde, sagte er. Sie mussten jeden Tag 14 Stunden lang im nahe gelegenen Steinbruch arbeiten, und wer verletzt oder zu schwach war, wurde erschossen.
Sigrid musste ihre Suche also aufgeben, doch der junge Franzose fragte sie, ob sie mit anderen Landsleuten sprechen wolle, die noch gar nicht richtig begriffen hatten, dass sie frei waren. Später schilderte sie ihre mühsame Tour durch die Schlafsäle des Lagers, wo sie Männer auf den hölzernen Lattenrosten von Stockbetten liegen sah, so dicht gedrängt, dass »Blut und alles andere von Etage zu Etage tropfte«. Vorsichtig versuchte sie, ihnen zu erklären, dass ihre Leidenszeit nun zu Ende sei, als eine »erbärmliche, bärtige Gestalt« sich von einem der Roste erhob und ihr »eine tastende Hand« entgegenstreckte. Der Mann sah so abgemagert, so schlimm aus, dass Sigrid Zweifel hatte, ob er das Lager lebend verlassen würde, doch sie nahm seine Hand und erzählte ihm mit aller Fröhlichkeit, die sie aufbringen konnte, von zu Hause – »über die Kastanien, die jetzt in Paris blühten« – und dass bald Flugzeuge kommen würden, um ihn und seine Landsleute zurück nach Frankreich zu bringen. »Belohnt wurde ich mit einem wunderbar friedvollen Lächeln«, schrieb sie, »während er meine Hand losließ und auf seine Pritsche zurücksank.«8
Dieses Lächeln brachte auch ihr ein wenig Frieden, aber sie war hilflos gegen die Wut, die sie packte, als sie über die 2000 deutschen Zivilisten aus dem nahe gelegenen Weimar berichtete, denen General Patton eine Tour durch das KZ verordnet hatte. Andere Anwesende behaupteten zwar, unter den Deutschen seien auch welche gewesen, die Scham und Abscheu zum Ausdruck brachten, Sigrid jedoch bestand darauf, nur Ausflüchte und Leugnen gesehen zu haben. »Sie versuchten wegzuschauen – in die Baumkronen und in den Himmel –, überallhin, nur nicht auf die Toten«, schrieb sie und fügte hinzu, dass eine gut gekleidete Frau, die Lippen vor Ekel verzogen, murmelte: »Das geht uns doch alles nichts an.«9 Wenn Sigrid ihr Urteil durch moralische Verachtung trüben ließ, so war das nur verständlich, hatte sie doch erfahren, dass einige dieser Weimarer Bürger von den Lagern profitiert hatten, zum Beispiel indem sie sich Handwerker unter den Insassen für gelegentliche Arbeiten an ihren Häusern ausliehen. Wagten es diese dann, um eine Scheibe Brot oder ein Glas Milch zu bitten, verrieten sie das den Bewachern.10
»Ihr einziges Verbrechen bestand darin, hungrig zu sein«, schrieb Sigrid. Für sie war diese heimtückische Banalisierung des Bösen eine der befremdlichsten Erfahrungen in Buchenwald. Sie konnte nicht begreifen, wie die gewöhnlichen Bürger Weimars das KZ als Teil ihres Alltagslebens akzeptieren konnten. Genauso wenig verstand sie, wie die Nazis, die es leiteten und deren Arbeit aus Entmenschlichung und Folter bestand, um den Komplex herum Blumenrabatten anlegen und Hasenställe bauen ließen, in denen seidig glänzende, wohlgenährte Angorakaninchen gehalten wurden.[79]
Alle Korrespondenten, die die Lager besuchten, hatten mit dem zu kämpfen, was sie dort sahen, es war eine Art Entweihung ihrer selbst und all dessen, was ihnen lieb und teuer war. Lee Miller war in Buchenwald das Schlimmste erspart geblieben, denn sie traf erst Tage nach der Befreiung dort ein, als die Aufräumungsarbeiten bereits begonnen hatten. Dafür erreichten sie und Dave Scherman Dachau am 29. April nur wenige Stunden nach der Befreiung durch die 42. und 45. Division, als alles noch genauso war, wie die Deutschen es hinterlassen hatten.
Der Gestank war das Erste, was sie wahrnahmen; die faulige Süße von Tod und Verwesung führte sie zu einem vor dem Lagergelände abgestellten Güterzug, vollgestopft mit den Leichen des letzten Todestransports, der in Dachau angekommen war. Als Dave und Lee durch das Lagertor traten, intensivierte sich der Gestank noch, und sie bemerkten die überall aufgeschichteten Leichenhaufen und Hunderte von Todkranken, die in Exkrementen und Erbrochenem lagen.
Eine kleine Gruppe der 33000 von den Nazis zurückgelassenen Insassen war noch kräftig genug, um Lee und Dave Auskunft zu geben, während die beiden über das Gelände geführt wurden, durch entwürdigend überfüllte Schlafsäle, durch die Verhörzimmer und Isolationszellen und die sogenannte »medizinische Abteilung«, wo an Gefangenen getestet worden war, wie lange sie extremen Temperaturen, Sauerstoffmangel und Injektionen mit Streptokokken standhielten.11 Das Ausmaß und die Komplexität der Anlage waren überwältigend: »In Dachau gab es alles, was man je über Konzentrationslager gehört hat und niemals hören wollte«, schrieb Lee an Audrey Withers, war aber trotzdem fest entschlossen, bis ins kleinste Detail darüber zu berichten.
Der französische Militärarzt Jacques Hindermeyer, dem die Aufgabe zufiel, Bildmaterial über Dachau zu sammeln, war ebenso schockiert wie beeindruckt von ihrer Beharrlichkeit: »Lee machte Fotos, die ich niemals hätte machen können«, gab er zu, während sie trotz Gestank und Fliegenschwärmen in einen Güterwagen kletterte, um den angewiderten, ungläubigen Ausdruck zweier rotwangiger amerikanischer Sanitäter einzufangen, die in das ausgezehrte Gesicht eines Leichnams starrten.12 Sie schreckte auch nicht davor zurück, sich über einen kürzlich hingerichteten SS-Wächter zu beugen, den sie in einem nahe gelegenen Kanal treiben sah, oder sich unter eine Gruppe fast verhungerter Insassen zu mischen, um ihren blinden, gierigen Heißhunger bei der Essensverteilung zu dokumentieren. Jeder fotografierte die Leichenhaufen, aber Lee war eine der wenigen, die auch die Gesichter heranzoomte – Gesichter, die kaum mehr waren als Totenschädel, aber dennoch an die Einzelschicksale derer gemahnten, die man wie Müll entsorgt hatte.
Selbst Dave war bestürzt über die ruhige Beharrlichkeit, mit der Lee sich mitten ins Zentrum des Horrors begab. Er kannte sie allerdings gut genug, um zu wissen, dass diese Ruhe trügerisch war, dass sie das Trauma nur verdrängt hatte. Margaret Bourke-White, die kurz darauf in Dachau eintraf, erinnerte sich, wie auch sie versucht hatte, »einen Schleier« über ihre Emotionen zu breiten und sich ausschließlich auf die Kamera in ihren Händen zu konzentrieren. Sie tat dies so konsequent, dass sie erst später beim Anblick der entwickelten Abzüge tatsächlich begriff, was sie da gesehen hatte.13
Martha Gellhorn hingegen brachte solche Distanz nicht auf. Sie wartete ab, bis der erste Presserummel in Dachau vorbei war, bevor sie sich selbst ein Bild machte. Sie hatte unter den Insassen Freunde und persönliche Helden gehabt und wollte sich Zeit lassen, um deren Leid wirklich verstehen zu können. Was sie sah, überstieg ihre schlimmsten Erwartungen: »Uns allen mangelt es an Vorstellungskraft, ich hätte mir so etwas nicht ausdenken können.«14 Obwohl die Aufräumarbeiten bereits begonnen hatten, lagen immer noch Leichenhaufen auf dem Gelände, und viele der Überlebenden wirkten kaum wie menschliche Wesen. Martha sah eine Gruppe Männer, die antriebslos in der Maisonne saßen und ihre Körper nach Läusen absuchten, und sie hätte weder ihr Alter noch ihre Nationalität bestimmen können. »Kein Ausdruck zeigt sich auf einem Gesicht, das nur noch gelbliche, stoppelige Haut über Kochen gespannt ist … alle sehen gleich aus und haben keine Ähnlichkeit mit irgendetwas, das Sie, wenn Sie Glück haben, jemals zu Gesicht bekommen.«15
Ihre eigenen Gefühle schlingerten zwischen Übelkeit, Wut und Schuld. »Es dauerte zwölf Jahre, bis die Tore von Dachau sich endlich öffneten. Wir waren blind und unglaublich langsam«, schrieb sie, und die Buße, die sie sich auferlegte, bestand darin, alles bis ins kleinste Detail zu schildern.16 Sie beschrieb die qualvolle Enge der sogenannten »Strafkiste«, nicht größer als eine Telefonzelle, in der bis zu vier Häftlinge drei Tage und Nächte eingesperrt wurden; sie notierte die Anzahl der Schläge, die ein Gefangener erdulden musste – zwischen 25 und 50 –, nur weil er mit einem Zigarettenstummel erwischt worden war; sie bemerkte die Massen an Hemden, Hosen und Schuhen, die den kürzlich Ermordeten abgenommen worden waren, ordentlich sortiert für den weiteren Gebrauch.
Wie immer ging es Martha dabei um den menschlichen Faktor, die Geschichten, die hinter diesen Zahlen und Fakten sichtbar wurden. Eine der zentralen Figuren in ihrer Dachau-Reportage ist ein polnischer Häftling, mit dem sie auf der Krankenstation des Lagers sprach. Er war so ausgemergelt, dass »sein Kieferknochen durch seine Haut zu schneiden [schien]«, er hatte aber noch Kraft genug, um Martha zu erzählen, dass er mit einem der letzten Todestransporte von Buchenwald gekommen und der einzige Überlebende dieser todgeweihten menschlichen Fracht sei. Man hatte ihn, dehydriert und ausgehungert, unter den Leichen entdeckt. Martha kam es so vor, als hätte dieses verlorene Gespenst von einem Mann es vorgezogen, mit den anderen zu sterben. »Niemand ist übrig. Ich kann nicht anders. Da bin ich jetzt, und ich bin fertig und kann nicht anders. Alle sind tot.« Er weinte, »und das Gesicht, das kein Gesicht war, verzog sich vor Schmerz oder Leid oder Schrecken«.17
»Neben der schrecklichen Wut, die man empfindet, schämt man sich. Man schämt sich für die Menschheit.«18 Sie musste sich zwingen, die Frau mit den »irren Augen« anzusehen, die immer und immer wieder von ihrer Ankunft in Auschwitz erzählte, bei der sie und ihre Schwester unterschiedlichen Schlangen zugewiesen worden waren – sie für einen Arbeitstrupp, ihre Schwester für die Gaskammer. Martha war klar, dass sie selbst diese Tragödien niemals würde vergessen können, doch erst viel später verstand sie, wie grundlegend das Erlebte sie verändert hatte. »In der Rückschau«, schrieb sie, »weiß ich, dass ich danach nie wieder diesen leichten, lebendigen Glauben empfunden habe, den ich zuvor kannte, nicht in das Leben, nicht in unsere Spezies, nicht in unsere Zukunft auf Erden.«19
Als sich am 7. Mai die Nachricht von der Kapitulation der Deutschen verbreitete, konnte Martha Gellhorn darauf nur mit einer unbestimmten, müden Erleichterung reagieren. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt auf der Krankenstation des Lagers und die schien ihr »der passendste Ort in Europa [zu sein], um die Nachricht vom Sieg zu hören«.20
Lee Miller war in einem Pressecamp südlich von München und tippte gerade ihre Reportage über den Adlerhorst in Berchtesgaden, als ein Soldat sie informierte, dass die Alliierten den Krieg gewonnen hatten. Lee murmelte ein abwesendes »Danke«, bevor sie begriff, was sie da eben gehört hatte. »Mist, jetzt muss ich die Einleitung neu schreiben«, schimpfte sie. Dann fragte sie sich, wohin sie als Nächstes reisen sollte.21
Der Krieg in Europa war aber offiziell erst zu Ende, als Amerikaner, Russen und Deutsche ein entsprechendes Dokument unterzeichnet hatten und das nationalsozialistische Deutschland in aller Form aufgelöst war.[80] In der Zwischenzeit machten Lee Miller und Dave Scherman sich nach Paris auf, um rechtzeitig zu den Siegesfeiern vor Ort zu sein. Janet Flanner war bereits dort, und am Nachmittag des 8. Mai, als de Gaulle seine Rundfunkansprache an das französische Volk hielt, beobachtete sie, wie die Franzosen die Straßen zurückeroberten. »Sie strömten auf die Avenuen und Boulevards ihrer Stadt und nahmen sie von Randstein zu Randstein in Besitz«, berichtete sie. »Sie pflasterten die Champs-Élysées mit ihren dicht gedrängten Körpern … Ihr Geplauder und Getrappel übertönte die lauten Kirchenglocken, die für den Frieden läuteten, und sogar die am Invalidendom abgefeuerten Kanonen … Alle wollten nur einfach immer weiter gehen, weiter schreien und weiter die Marseillaise singen.«22
Als um Mitternacht, inmitten eines Feuerwerks, amerikanische Maschinen über die Stadt flogen, waren vor allem die ganz Jungen noch auf der Straße. Janet sah ihr unbefangenes Feiern – »wie sie da zusammen auf den Straßen herumrannten« – als gutes Vorzeichen, eine Hoffnung auf eine bessere, hellere Zukunft. Martha Gellhorn dagegen konnte die allgemeine Freude nicht teilen, sie verbrachte den Tag der Befreiung größtenteils allein und wanderte mit leerem Blick durch die Menschenmassen. Als sie schließlich durch Zufall einen Freund traf und ihn mit ins Scribe nahm, konnte sie nur weinend in seinen Armen liegen, unfähig, über etwas anderes zu sprechen als über Dachau und das »aberwitzige Grauen«, das sie dort gesehen hatte.
Die Konzentrationslager ließen Martha nicht los. Von Paris fuhr sie nach Bergen-Belsen in Norddeutschland, um dabei zu sein, wie Bulldozer die Leichen begruben; anschließend fuhr sie ins Frauenlager nach Ravensbrück, dessen überlebende Insassinnen weit über ihre Jahre hinaus verhärmt und gebeugt wirkten. Diese Frauen hatten »zu lange mit dem Tod gelebt«, schrieb sie, und alles, was sie tun konnte, war, ihre Geschichten anzuhören und dadurch einen winzigen Teil ihres Leids zu teilen.23
Wo immer Martha in Deutschland auch hinkam, sie sah eine durch die Niederlage gebrochene Nation: Städte und Dörfer waren ohne Strom und fließendes Wasser und die Felder ihrer Vegetation beraubt; Männer, Frauen und Kinder bettelten um Essen. Als sie schließlich in Berlin anlangte, bemerkte sie abgemagerte Mädchen, die aus Verzweiflung sich selbst im Tausch gegen Schokolade oder Zigaretten anboten, und die Trostlosigkeit der Älteren, der sogenannten Trümmerfrauen, die für einen Hungerlohn wiederverwendbares Baumaterial aus dem Schutt klaubten. Auch der Schriftsteller George Orwell empfand Entsetzen und Mitleid angesichts solcher Szenen: »Wenn man durch die zerstörten deutschen Städte geht, kommen einem Zweifel am Fortbestand der Zivilisation.«24 Martha fand, nichts davon sei Strafe genug; alle Deutschen sollten leiden und hungern, schrieb sie grimmig, denn nur so könnten sie wenigstens ansatzweise das Leid erfahren, das sie dem Rest der Welt zugefügt hatten.
Sigrid Schultz legte in jenem Sommer ähnlich lange Strecken zurück; sie entwendete Bücher aus den Ruinen von Hitlers Bibliothek im Adlerhorst, feierte das Kriegsende, suchte aber auch nach Anzeichen dafür, dass die Deutschen zu kollektiver Reue fähig waren. Allerdings wollte kaum einer ihrer Gesprächspartner eine Mitschuld an den Verbrechen eingestehen, die ihre Führung begangen hatte. Gleichermaßen schwierig war es, »Mitglieder der Hitlerjugend dazu zu bringen, ihre früheren Überzeugungen zuzugeben«.25 Einer der von Sigrid interviewten Männer war der Bruder eines Kindheitsfreundes, dessen Baufirma in Dachau am Umbau einer Munitionsfabrik zu einem Konzentrationslager beteiligt gewesen war. Sie wollte verstehen, wie dieser offenbar anständige Mensch sich die Hände mit einem solchen Projekt hatte schmutzig machen können, zumal die Nazis 1933 noch nicht fest im Sattel saßen und »keineswegs selbstsicher auftraten«. Karl Storir zuckte nur entschuldigend die Schultern und sagte: »Was hätte ich denn dagegen tun können?«, und wies darauf hin, dass das Lager ohnehin gebaut worden wäre, mit oder ohne seine Beteiligung.26
Diesem zynischen Schulterzucken sollte Sigrid immer wieder begegnen, was sie nur in den Ansichten bestätigte, die sie auf den Seiten von Germany Will Try It Again formuliert hatte: Es handelte sich um Verblendete; eingefleischte, extrem rassistische Nationalisten, die noch über Jahrzehnte anfällig sein würden für einen wiedererstarkten Nationalsozialismus. Abscheu und moralische Resignation hatten sich in Sigrid genauso festgesetzt wie in Martha Gellhorn. Immerhin erlebte Erstere einen kurzen erlösenden Glücksmoment, als sie feststellte, dass ihr guter Freund Johannes Schmitt noch lebte.
Johannes hatte erstaunliches Glück gehabt. Wie von Sigrid befürchtet, war er wegen seiner Tätigkeit als Presseinformant und Widerständler ins Gefängnis gekommen. Man hatte ihn nach Sachsenhausen gebracht, wo die Erschießung politischer Dissidenten an der Tagesordnung war. Doch auf Geheiß zweier mächtiger Männer, die vor dem Krieg seine Patienten gewesen waren, blieb er am Leben. Einer war der Dirigent Wilhelm Furtwängler (dem Sigrid den Status eines »guten Nazis« zugestand), der insistierte, Johannes sei der einzige Arzt, der über die nötigen osteopathischen Fähigkeiten verfüge, um ihn für seine Auftritte fit zu halten. Der andere war Heinrich Himmler.
Der Reichsführer der Schutzstaffel litt ebenfalls an Rückenproblemen und schwor ebenfalls auf Dr. Schmitts heilende Hände. Im Januar 1945 benötigte er dessen Fähigkeiten allerdings für einen Berliner General, der einen schweren Schlaganfall erlitten hatte. Johannes war aus dem KZ freigekommen und in Gmund am Tegernsee unter Hausarrest gestellt worden; dort hielt er sich noch auf, als die Alliierten den Ort einnahmen, und wurde zum neuen Bürgermeister bestellt. Sigrid war überglücklich, ihren alten Freund wiederzusehen, auch deshalb, weil er sich nach wie vor als verlässliche Quelle erwies. Er führte sie zu Himmlers nahe gelegener Villa und zeigte ihr das große Fotoalbum, in dem das geheime Material zum Kaninchenzuchtprogramm dokumentiert war. Vermutlich ist er es auch gewesen, der Sigrid im weiteren Verlauf des Sommers mit Informationen für ihren letzten großen Exklusivbericht versorgte.
Die Story nahm im Juni 1945 Gestalt an, als der Kreml mit der bizarren Behauptung aufwartete, dass Hitler sich nicht in seinem Bunker erschossen habe, sondern ins Ausland geflohen sei und die verkohlten Reste eines »nicht sehr guten Doubles« zurückgelassen hatte. Dies stand in krassem Widerspruch zu den früheren Beteuerungen der Russen, der Führer sei aufgrund seiner Gebissdaten identifiziert worden. Stalin nahm es mit der Wahrheit ebenso wenig genau wie der Feind. Vor die Aufgabe gestellt, Russland und die eroberten Gebiete wieder aufzubauen, hielt er es für politisch opportun, den meistgehassten Mann der Welt auferstehen zu lassen und ihn zum Sündenbock zu machen, auf dass er die Menschen unter dem Banner des Großen Vaterländischen Krieges vereine.
Briten und Amerikaner waren erbost, denn sie wussten, dass Gerüchte über Hitlers wundersame Flucht dem nationalsozialistischen Widerstand in die Hände spielten. Die Weltpresse stürzte sich auf das Thema, doch es war Sigrid Schultz, die die überzeugendste und auf Fakten basierende Widerlegung veröffentlichte. Mithilfe der Reste von ihrem und Johannes’ Netzwerk konnte sie die Zahnarzthelferin Käthe Heusermann ausfindig machen, die bestätigte, dass das Gebiss der in der Nähe des Bunkers gefundenen Leiche genau dieselben Brücken wie das von Hitler aufwies und dass die Russen dies noch im Mai als Beweis für Hitlers Tod akzeptiert hatten.
Nachkriegseuropa wurde zum ideologischen Schlachtfeld, auf dem Briten und Amerikaner versuchten, in den vormals besetzten Gebieten die Demokratie zu etablieren, während die Russen sie als kommunistische Satelliten der Sowjetunion eingliedern wollten. Bei ihren Fahrten durch Österreich und die Tschechoslowakei begegnete Helen Kirkpatrick Flüchtlingen, die verzweifelt der sowjetischen Oberhoheit zu entkommen suchten und dafür sogar riskierten, zu ertrinken oder erschossen zu werden. Natürlich war sie politisch voreingenommen, aber auch wenn die Verhältnisse in den von Alliierten verwalteten Zonen und Flüchtlingslagern schrecklich waren, so sah es in den Lagern der sowjetisch besetzten Zonen angeblich noch viel schlimmer aus. Die Essensrationen waren spartanisch, und bei der Abfertigung der Flüchtlinge kam ein von Vergeltung geleitetes System zur Anwendung; es hieß, ehemalige Zwangsarbeiter, die keine Belege für ihre Sympathie mit dem Kommunismus vorweisen konnten, wurden als Mitläufer des Naziregimes eingestuft und zu jahrelanger Strafarbeit im sowjetischen Gulag verurteilt.
Es gab keinen Plan für den Übergang in den Frieden, und auch Lee Miller kämpfte sich von einem Tag zum nächsten. Wie Dave Scherman vorhergesagt hatte, saß das von Dachau hinterlassene Trauma tief, und kurz nach ihrer Ankunft in Paris setzte die Reaktion ein. Lee wurde von all dem heimgesucht, was sie dort gesehen hatte, und als die Vogue entschied, nicht alle ihre Fotos aus dem KZ zu veröffentlichen (»Es scheint unpassend, sich ausschließlich auf den Horror zu konzentrieren«, jetzt, wo die ganze Welt feiert, erklärte Audrey Withers), hatte Lee das Gefühl, die Toten von Dachau seien ein weiteres Mal verraten worden.27 »Ich bin eingeschlossen von einer Mauer aus Hass«, schrieb sie. Und als Audrey Mitte Mai vorschlug, Lee solle nach Dänemark fahren und über den dortigen Umgang mit dem Frieden berichten, war sie heilfroh, sich zeitweilig von ihren vergifteten Gedanken ablenken zu können.28
Auf der langen Fahrt nach Kopenhagen begegnete sie Kolonnen der Wehrmacht, die heimwärts marschierten, und »arroganten Offizieren in protzigen Karossen«, denen sie nach wie vor nicht ohne Abscheu ins Auge sehen konnte. Doch bei ihrem Eintreffen fand sie die Stadt in einem »Taumel aus Lachen, Spaß und Freiheit«, der ihren Nerven guttat und ihr zumindest ansatzweise den Glauben an die Welt zurückbrachte. Die Dänen hatten, so erfuhr sie, die Jahre der Besatzung mit Würde und Mut bewältigt und sich den Deutschen nach Möglichkeit widersetzt. Geschäftsleute hatten ihre Angestellten vor der Deportation in Arbeitslager bewahrt; Bürger aller Glaubensrichtungen hatten Juden bei der Flucht ins neutrale Schweden geholfen, und selbst die königliche Familie hatte Haltung gezeigt, indem sie aus Solidarität den gelben Judenstern trug. Hier zumindest gab es Menschen, denen Lee uneingeschränkte Bewunderung zollen konnte, und sie feierte sie in poetischen Aufnahmen, die charmantesten, die sie seit Jahren gemacht hatte.
Zugleich gestand sich Lee ein, dass sie immer noch nicht wusste, »wie sie sich entspannen und vom Kriegsmodus in den Friedensmodus schalten sollte«.29 Von Dänemark reiste sie nach London, wo ihr ein überschwänglicher Empfang bereitet wurde. In Downshire Hill erwartete sie eine Filmcrew, um das Wiedersehen mit Roland Penrose zu dokumentieren, und bei der Vogue wurde sie wie eine heimkehrende Berühmtheit gefeiert; man prostete ihr mit Champagner zu, bedeckte sie mit Küssen und bot ihr an, unter selbstgewählten Bedingungen weiter für das Magazin zu arbeiten. Die Ehrungen ließen sie jedoch weitgehend kalt. Die vom Krieg zerrütteten Nerven und eine tiefe Müdigkeit setzten ihr weiterhin zu, und alles, was sie bislang vom Frieden gesehen hatte – das skrupellose Schachern um die Macht in Großbritannien, das Chaos und die Korruption in Europa –, ließ sie befürchten, dass die »eigentliche Würde« der vergangenen fünfeinhalb Jahre des Kampfes dadurch ausgelöscht würde.30
Roland war sich Lees angeschlagener Verfassung durchaus bewusst, hoffte aber, dass sie durch fürsorgliche Pflege wieder zu jener Frau werden könne, in die er sich einst verliebt hatte – die schöne, kreative Spielgefährtin, die mit ihm gegen die bürgerlichen Konventionen angetreten war. Er verstand nicht, dass Lee diese Frau längst hinter sich gelassen und zu vieles über sich und den Zustand der Welt herausgefunden hatte, um einfach in ihr altes Leben zurückkehren zu können. Er begriff nicht, dass seine Fürsorge sie erstickte. »Ich bin nicht dein Aschenputtel«, schrie sie ihm bei einer ihrer immer erbitterter werdenden Auseinandersetzungen ins Gesicht, und in der zweiten Augustwoche entfloh sie nach Paris.
Hier im Hotel Scribe, zusammen mit Dave und dem harten Kern der Kriegsreporter, versuchte sie, mit ihren Albträumen und ihrer Wut fertigzuwerden. »Große Teile der Bevölkerung leiden an demselben Friedensschock wie ich«, schrieb sie in einem ihrer ernsteren Versuche der Selbstanalyse. Es war harte Arbeit: Die Kombination aus Kriegsadrenalin und Nachkriegsdepression hatte ihre innere Uhr verstellt; sie wurde morgens nicht mehr ohne Aufputschmittel und Kaffee wach und konnte abends nicht mehr ohne Alkohol und Schlaftabletten einschlafen. Es gab Tage, an denen sie sich »lethargisch und nutzlos« fühlte und bloß heulend im Bett lag. Dennoch war sie überzeugt, Arbeit sei ihre einzige Therapie und Rettung, und in der dritten Augustwoche überredete sie Audrey Withers zu einer Artikelserie über den Wiederaufbau in den ehemals von den Deutschen besetzten Territorien. Sie plante eine Reise nach Osten, durch Österreich, Ungarn und Rumänien, vielleicht sogar bis nach Russland, und setzte ihre ganze Hoffnung darauf, dass diese Aufgabe sie für die kommenden Monate auf Achse halten und von ihren Ängsten ablenken würde.31
Martha Gellhorn durchlebte unterdessen ebenfalls eine Nachkriegsdepression; sie war von Albträumen geplagt und so aufgekratzt, dass sie sich »innerlich wie geschreddert« fühlte. Die Vergangenheit holte sie in »überraschend auftauchenden Schnipseln« immer wieder ein, und wie schlimm der Krieg auch gewesen war – »verhasst, gefährlich, verrückt« –, er hatte ihr dennoch eine Art von Zuhause geboten. Einen Ort, an dem es, wie sie sagte, »immer etwas Sinnvolles für sie zu tun gab«. Und ihrem Tagebuch vertraute sie an, dass sie »offenbar zu nichts anderem tauge«. Ein kurzer Besuch bei ihrer Mutter überzeugte sie, dass sie sich keinesfalls in Amerika niederlassen würde, ebenso wenig konnte sie sich ein Leben mit Jim Gavin vorstellen. Den Sommer über hatte er ihr lange, leidenschaftliche Briefe geschrieben: »Darling, ich liebe Dich, ich liebe Dich, ich liebe Dich. Jetzt ist es eine gute Liebe. Stabil, verlässlich und solide, etwas, worauf man zählen kann.« Und während er eindeutig auf eine Ehe zusteuerte, erschien ihr ein Leben mit Jim auf einem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt unmöglich. »Wie & wo werde ich jemals wieder normal leben können?«, sorgte sich Martha und hatte große Angst, dass die Selbständigkeit, die ihr immer so wichtig gewesen war, jetzt zum Fluch wurde.32
Clare Hollingworth hatte schon vorausgesehen, dass der Krieg sie entwurzelt hatte und sie sich bei ihrer Heimkehr »wie eine Fremde« fühlen würde. Als sie dann im September ihre Familie traf, war sie immerhin in der Lage, eine überzeugende Fassade aufrechtzuerhalten: »Ich bin eure Tante, also müsst ihr mich mögen«, informierte sie die beiden kleinen Kinder ihrer Schwester und fesselte deren Interesse mit der Kriegsbeute aus ihrem Überseekoffer.33 Richard, den Fünfjährigen, beschenkte sie mit einem Dolch, mehreren Armbanduhren und einem Soldatenkäppi, das angeblich von den Schlachtfeldern Nordafrikas stammte. Obgleich ihre Familie sie herzlich willkommen hieß und die Neuigkeit von ihrer Verlobung erfreut aufnahm, war Clares Besuch nur von kurzer Dauer. Anfang des Jahres 1946 machte sie sich mit Geoffrey Hoare bereits von Neuem auf den Weg, beide waren nach Griechenland abberufen worden, um über den Bürgerkrieg zu berichten.
Reisen, Krisen und Abgabetermine bestimmten Clares Leben. Die Hast, mit der sie dieses Leben wiederaufnahm, war auch ein Zeichen für die Entfremdung von ihrer Familie. Albert, Daisy und Edith hatten den Krieg in vergleichsweiser Sicherheit in Mittelengland ausgesessen und konnten sich schlichtweg nicht vorstellen, was Clare gesehen und getan hatte. Ein Keil aus Unverständnis hatte sich zwischen sie geschoben, genau wie zwischen Roland Penrose und Lee Miller. Und so geschah es auf der ganzen Welt, wo immer Journalisten, Soldaten, Krankenschwestern und Hilfskräfte nach Hause zurückkehrten. Ihre Erfahrungen trennten sie von ihren Familien und Freunden, und vielen fehlten die Worte oder der Wille, sich zu erklären; sie wurden zu dem, was die Historikerin Nancy Caldwell Sorel als die »Nachkriegsbruderschaft der psychisch Dislozierten« bezeichnete.34
Selbst Virginia Cowles war sprachlos, als sie Mitte Mai die Tür ihrer Londoner Wohnung öffnete und den aus dem Krieg zurückgekehrten Aidan Crawley dort vorfand. Der Schock traf sie geradezu körperlich. Aidan war nicht mehr der selbstbewusste, breitschultrige Pilot, von dem sie sich vor sechs Jahren verabschiedet hatte: Die Kleidung schlotterte an seiner ehemals stämmigen Gestalt; sein strahlendes Lächeln war beeinträchtigt durch verfärbte und fehlende Zähne. Doch Virginia kannte sich aus mit dem Krieg. Kaum hatte sie die erste Irritation überwunden, stellte sie die richtigen Fragen und war vorbereitet auf die Antworten, die sie höchstwahrscheinlich bekommen würde. Für Aidan war diese Begegnung eher das ersehnte Heimkommen als das Wiedersehen mit seinen Eltern, so »surreal«, dass keiner etwas zu sagen gewusst hatte. Mit Virginia, so erinnerte er sich, »machten wir [einfach] da weiter, wo wir 1939 aufgehört hatten. Es gab so vieles zu bereden. Sie interessierte sich genauso für meine Erlebnisse wie ich mich für ihre.«35
Aidan war einen Großteil des Krieges in Gefangenenlagern gewesen. Nachdem er in Libyen abgeschossen worden war, hatte er Wochen in einem griechischen Übergangslager verbracht und befürchtet, dieses nicht zu überleben. Der Lagerkommandeur war schießwütig, und die Hitze und die mit Ungeziefer verseuchte Unterkunft waren unerträglich. Anschließend hatte man ihn mehrmals verlegt – zunächst ins Stalag Luft III, das Stammlager der Luftwaffe und eines von sechs deutschen Kriegsgefangenenlagern in Ostdeutschland, dann ins polnische Szubin und wieder zurück ins Stalag Luft III. Während dieser Zeit war es ihm gelungen, einigermaßen gesund und bei Verstand zu bleiben. Zweimal hatte er sich unter dem Zaun durchgegraben; einmal fehlten nur noch 15 Kilometer bis zur Schweizer Grenze. Er hatte das Glück, nicht an der »Großen Ausbruchsaktion« im März 1944 aus Stalag Luft III beteiligt gewesen zu sein, denn auf Hitlers Befehl wurden daraufhin 50 Piloten der Royal Air Force erschossen. Ein weiteres Glück für Aidan war, dass die Häftlinge bei der Auflösung des Lagers durch die sich zurückziehenden Deutschen das, was sie an Kleidung und Proviant noch besaßen, auf behelfsmäßige Schlitten packen und während des erzwungenen Marsches zum nächsten Lager nahe Hannover gegen Lebensmittel eintauschen konnten. Als dann am 2. Mai eine britische Patrouille im Lager auftauchte und verkündete, dass sie nun frei seien, waren alle Männer in ausreichend gutem Zustand, um sofort nach England ausgeflogen zu werden.
Aidan hatte während seiner Gefangenschaft oft an Virginia gedacht, und als er in ihrer Wohnung auftauchte, hatte er seinen Heiratsantrag bereits einstudiert. Sie jedoch, die während der vergangenen vier Jahre ständig mit seinem Tod hatte rechnen müssen, konnte sich trotz ihrer Wiedersehensfreude nicht sofort entschließen, seine Frau zu werden. Sie erbat sich zwei Wochen Bedenkzeit und bemerkte scherzhaft, dass er auf jeden Fall seine Zähne richten lassen müsse, bevor er sie zum Traualter führte. Aidan zog sich taktvoll zu Freunden nach Schottland zurück, wo er seine Kampagne für die bevorstehenden Wahlen vorbereitete. Noch bevor die 14 Tage um waren, meldete sich Virginia und nahm seinen Antrag an. Am 26. Juli wurde Aidan zum Labour-Abgeordneten für North Buckinghamshire gewählt, und vier Tage später wurden die beiden von Aidans Vater, Reverend Stafford Crawley, getraut.
Für Virginia hatte die Zukunft bereits feste, hoffnungsvolle Gestalt angenommen, als der Krieg im Pazifik sein katastrophales Ende nahm. Am 6. und 9. August warfen die Amerikaner Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki ab, töteten 120000 Menschen und verdammten Tausende weitere zu einem qualvoll langsamen Tod durch Verstrahlung. Angesichts der Barbarei der japanischen Bodentruppen und der mörderischen Skrupellosigkeit der Kamikaze-Piloten hatten die US-Generale darin den einzigen Weg zur Beendigung der Feindseligkeiten gesehen. Obwohl die Wirkung der neuen Technologie weltweit Bestürzung hervorrief und Helen Kirkpatrick deren Einsatz für moralisch unvertretbar hielt, war die Welt viel zu übersättigt mit Katastrophenmeldungen, als dass die Mehrheit sich noch darum gekümmert hätte. Lee Miller gestand Roland Penrose in einem Brief aus Paris, dieses letzte Kapitel des Krieges sei völlig surreal für sie: »Wir feierten den VJ-Day [Sieg-über-Japan-Tag] gleich mehrmals, bis wir schließlich aufhörten und beschlossen, uns die Atombombe nur eingebildet und die Kapitulation der Japsen nur geträumt zu haben.«36
Bevor die Bomben Hiroshima und Nagasaki dem Erdboden gleichmachten, hatte sich Iris Carpenter als eine von wenigen Korrespondentinnen um eine Akkreditierung im pazifischen Raum bemüht. Diese entfernteste Konfliktregion war Frauen gegenüber nie besonders offen gewesen, und die meisten waren den Kampfhandlungen nicht näher gekommen als bis aufs Deck eines Lazarettschiffs. Wie überall gab es aber auch hier Ausnahmen, die sich besonderem Mut oder einem glücklichen Zufall verdankten: Der Fotografin Dickey Chapelle, die sich im Frühjahr 1945 den US-Marines angeschlossen hatte, war es gelungen, die amphibische Landung auf Okinawa zu dokumentieren, und Patricia Lockridge, eine Journalistin, die für den Woman’s Home Companion arbeitete, konnte einen amerikanischen Marineoffizier überreden, sie über die Schlacht um Iwojima berichten zu lassen.
Doch während einige aus dem europäischen Pressekorps ihre mühsam erworbenen Kontakte nutzten, um sich in den Pazifikkrieg zu schmuggeln, fielen, noch bevor die Akkreditierung vollzogen war, die Bomben, und sie konnten lediglich über die Prozesse berichten, bei denen die Nazis und ihre hochrangigen Kollaborateure zur Rechenschaft gezogen wurden. Ende Juli hielt Helen Kirkpatrick sich in Paris auf und saß in dem dunklen, überfüllten öffentlich zugänglichen Gerichtssaal des Palais de Justice, um den Prozess gegen Marschall Pétain zu verfolgen, der wegen seiner Verbrechen als Regierungschef des Vichy-Regimes angeklagt war. Sie hatte ihn direkt im Blick und bemerkte die sture Arroganz, mit der er sich »verächtlich und unbeteiligt« im Saal umsah, »mit kleinen, kalten und harten Augen« und einem nur »leichten Zittern der Hand, [das] seine 89 Jahre verriet«.37 Pétain war nie von seiner Meinung abgewichen, dass er durch die Kollaboration mit Nazideutschland Frankreich vor der Vernichtung bewahrt habe. Er war so überzeugt von seiner patriotischen Rechtschaffenheit, dass er es nicht für nötig hielt, etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen. Helen bemerkte jedoch, dass das Gericht gegen ihn eingenommen war, denn Verbrechen wie die Beteiligung an der Niederschlagung des französischen Widerstands, die Deportation von Männern und Frauen in Arbeitslager und die Ergreifung von 75000 französischen Juden waren so verachtenswert, dass sie nicht vergeben werden konnten.
Pétain wurde zum Tode verurteilt, doch General de Gaulle ließ das Urteil in Anerkennung von Pétains Verdiensten im Ersten Weltkrieg in lebenslange Haft umwandeln. Bei den nationalsozialistischen Führern hingegen konnte man, als sie im November 1945 in Nürnberg vor Gericht standen, keine solche Gnade walten lassen. Die Prozesse wurden auf der ganzen Welt mitverfolgt, und als Helen am ersten Verhandlungstag dort erschien, war sie eine von 250 Korrespondentinnen und Korrespondenten, die um Unterkunft und um Zugang zum Gericht konkurrierten.[81]
Wie immer wurden die Frauen benachteiligt, klagte Helen. Während die Männer in einem Zuckerbäckerschloss untergebracht waren, wurden die Journalistinnen, Stenografinnen, Stenotypistinnen und Sachbearbeiterinnen in einem Austragshaus auf dem Gelände einquartiert. Sie schliefen auf Feldbetten in provisorischen Schlafsälen, muffig vom Geruch zu vieler Körper und ungewaschener Wäsche, und teilten sich eine einzige Toilette, die absurderweise mit zwei Urinalen ausgestattet war. Als Helen sich über den erbärmlichen Zustand der Unterkunft beschwerte, ermahnte man sie, nicht so zickig zu sein. Insgesamt behielt sie die ersten Tage in Nürnberg jedoch in guter Erinnerung. Es gab gesellige Abende in der Pressebar, wo man sich nach langer Zeit endlich einmal wiedersah, und anschließend sorgte Janet Flanner mit absurden Spielchen im Schlafsaal für Heiterkeit, z.B. mit der Frage, mit welchem der Naziführer eine am ehesten ins Bett ginge, wenn man sie dazu zwänge.
Die Prozesse zogen sich monatelang hin, und die Berichterstattung wurde allmählich zur Last. Helen hielt sich zwar nicht die ganze Zeit in Nürnberg auf – im Pariser Büro wurde sie ebenfalls gebraucht –, aber die durchweg grausigen Beweise der Staatsanwaltschaft, und das andauernde Leugnen der Angeklagten machten sie fertig. Sie lenkte sich ab, indem sie die Körpersprache der Angeklagten studierte, die auf der einen Seite des mit dunklem Holz getäfelten Saales saßen und den Verlauf der Verhandlungen ihrer Gesinnungsgenossen genau verfolgten. »Ihr Leben stand auf dem Spiel, und sie wussten es«, schrieb sie. Am meisten faszinierte sie Hermann Göring, der sich selbst offensichtlich als Star seiner Partei betrachtete.38
Sechs Monate Haft hatten den arroganten und wohlbeleibten Reichsmarschall zu einem Schatten seiner selbst werden lassen, und der Entzug von seinem jahrelangen Heroinkonsum ließ ihn zittern wie einen alten Mann.[82] Doch selbst ohne seine Entourage, die Medaillen, die Haarfärbemittel und Kosmetika, mit denen er seine Macht inszeniert hatte, war Görings Ego ungebrochen. In seinen Aussagen vor Gericht prahlte er theatralisch mit dem Einfluss, den er in der Partei gehabt hatte, und gestand keinerlei Schuld ein. Sein Narzissmus, seine Ignoranz gegenüber der Wahrheit und das Leugnen der eigenen Verbrechen waren frappierend. Als man ihn zur Bombardierung von Guernica befragte, antwortete er mit nonchalantem Bedauern: »Ja, das war schade, aber wir konnten nirgendwo anders unsere Maschinen ausprobieren.«
Martha Gellhorn war ebenfalls in Nürnberg und wollte vor allem an den Verhandlungen teilnehmen, in denen Göring zu Spanien befragt wurde. Abgestoßen von seinen unmenschlichen Aussagen versuchte sie herauszufinden, ob das Böse in der Seele eines Mannes auch an seinem Gesicht abzulesen sei. Im Fall Görings kam sie zu einem positiven Ergebnis – er hatte »womöglich den hässlichsten Mund, den ich je gesehen hatte«. Bei den anderen Nazis auf der Anklagebank, fiel es ihr nicht so leicht, Rückschlüsse auf den Charakter zu ziehen. Rudolf Heß wirkte »wie ein verschrobener, wissbegieriger Vogel«, von Papen »erschreckend schwach«, und Hans Fritzsche mit seinem »sensiblen Fuchsgesicht« hatte die romantische Ausstrahlung »eines zweitrangigen Poeten, der seine Geliebte umgebracht hat«.39
Gesichter hatten Martha schon immer fasziniert. Zu ihrem Krieg gehörten die schwarzäugigen Kinder Barcelonas, die frostige Stärke der Finnen und die von einem prominenten Kinn unterstrichene Selbstzufriedenheit eines Chamberlain, aber genauso die zum Gerippe abgemagerten Häftlinge von Dachau, die gar keine Gesichter mehr hatten. Es irritierte sie, dass so wenige der angeklagten Nazis wie die Monster aussahen, die sie waren, eine Erkenntnis, die für ihre wachsende Frustration stand. Ganz gleich wie bohrend die Fragen, wie krass die Aussagen, es schien unmöglich, diese Männer zu brechen. Und während Helen Kirkpatrick Entspannung in der Gesellschaft von Freunden suchte, lief Martha sich ihre Wut von der Seele, indem sie in der zweistündigen Mittagspause das Zentrum von Nürnberg durchstreifte und nebenbei Passanten über ihre Meinung zu den Prozessen befragte.
Ein paar wenige schienen froh darüber zu sein, dass der Führungsstab der Nazis zur Rechenschaft gezogen wurde, und bekundeten eine gewisse Scham angesichts ihrer Verbrechen, doch die Mehrzahl hielt die Anschuldigungen gegen Göring und die anderen für übertrieben. Ein junger Soldat versicherte Martha, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Häftlinge »fett und braungebrannt« und bei bester Gesundheit aus den Konzentrationslagern heimgekehrt seien; und obgleich er einräumte, dass es unrecht sei, so viele Juden umzubringen, war er überzeugt, sie seien bloß Parasiten des Reichs gewesen, die keiner redlichen Arbeit nachgingen und »auf hinterhältige Weise« Geld verliehen.40 Die abstoßende Dummheit solcher Ansichten war für Martha, hätte sie ihn denn nötig gehabt, Beweis genug für die Schuldhaftigkeit jenes Regimes, dem dieser junge Mann so blindlings anhing. Und selbst als die Prozesse im folgenden Jahr mit elf Todesurteilen endeten, sah Martha sich eines endgültigen Abschlusses, einer endgültigen Gerechtigkeit beraubt. Göring, privilegiert bis zum Schluss, schluckte in der Nacht vor seiner Hinrichtung eine Zyankalikapsel, und die übelsten der nationalsozialistischen Führer – Goebbels, Himmler, Heydrich, Bormann und Hitler selbst – waren bereits tot, bevor man sie auf die Anklagebank bringen konnte.
Ein ähnlich wütender, niedergeschlagener Zynismus befiel Martha, als sie zu Beginn des Jahres 1947 über den Ausgang der Pariser Friedenskonferenz berichtete. Die Versprechen, die auf der Konferenz abgegeben wurden, waren richtungsweisend; die neu gegründeten Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfonds und die Weltgesundheitsorganisation sollten eine dauerhafte Freundschaft zwischen den Mitgliedsländern schmieden und für eine neue Weltordnung der Zusammenarbeit und des Fortschritts stehen. Dennoch enthielten die Nachkriegsvereinbarungen, die zwischen den alliierten Siegermächten und den besiegten Achsenmächten ausgehandelt wurden, aus Marthas Sicht die gleichen Geburtsfehler, die bereits den Versailler Vertrag vor kaum mehr als einem Vierteljahrhundert hatten scheitern lassen.[83] »Keine Kompromisse – nur Misstrauen und Furcht – noch mehr Zynismus als 1919 – und niemand kümmert sich um die Menschenrechte«, schrieb sie in ihr Notizheft. »Mehr die Vorbereitung eines neuen Krieges als ein Friedensschluss.«41
Helen Kirkpatrick sah das in ihren Berichten aus Paris ähnlich. Nicht nur waren die verhandelnden Länder entlang der bekannten, atavistischen Linien von Nationalismus, Ideologie und Gier geteilt, ihre Diskussionen befassten sich erneut mit jenen Themen, über die sie einst aus Genf berichtet hatte, als der Völkerbund zu implodieren begann. »Je mehr ich [über Paris] schrieb, desto mehr dachte ich: Das hatten wir doch schon mal. Ich weiß genau, wer was sagen wird. Das ist kalter Kaffee. Ich habe genug davon.«42
Helen würde nie bestreiten, dass der Krieg notwendig gewesen und mit Idealismus und Ruhm geführt worden war. Sie war überzeugt, dass sie und ihre Kolleginnen und Kollegen auf der richtigen Seite der Geschichte standen, während sie in den vergangenen sechs Jahren über Kriegsgeschehen und Politik berichteten. Doch 25 Millionen Soldaten waren hingeschlachtet, 55 Millionen Zivilisten getötet worden, die Wirtschaften vieler Länder waren zusammengebrochen, Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, und der Gedanke, dass man aus einem solchen Gemetzel keine Lehren gezogen hatte, war unerträglich. Helen kam es so vor, als wäre sie einen Großteil ihres Erwachsenenlebens vom Krieg besessen gewesen – über seine Gräuel nachgrübelnd, seine Unausweichlichkeit vorhersagend und dann seine Herausforderungen Tag für Tag meisternd. Der Krieg hatte sie geprägt, aber auch eingeengt und beschädigt. Und jetzt war er zu Ende, und sie musste sie sich nicht nur Gedanken machen, welche Zukunft der Welt bevorstand, sondern – ebenso wie Martha Gellhorn, Sigrid Schultz, Clare Hollingworth, Virginia Cowles und Lee Miller – auch darüber, welchen Platz sie in dieser Zukunft einnehmen wollte.