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A
mador wies auf die anderen Besonderheiten des handgeschmiedeten Karambits hin, dann legte er es vorsichtig in den Lederbeutel zurück und zog zwei stumpf gemachte Exemplare hervor – Trainingsmesser. Er kehrte zu Jack zurück und steckte im Gehen eines in die Tasche.
»Sie haben Kampfkünste trainiert?«, fragte Amador.
Jack nickte. »Jiu-Jitsu, Karate, Judo. Und dank Dom sogar ein bisschen Krav Maga.«
»Gut. Dann kennen Sie die grundlegenden Block- und Schlagtechniken mit den Händen und Unterarmen.«
»Natürlich.«
»Und die fortgeschritteneren Techniken, bei denen man das Handgelenk verdreht, Druck auf Nervenpunkte ausübt und so weiter? Wie im Aikido?«
»Auch, aber da habe ich noch viel Luft nach oben. Deswegen bin ich hier.«
»Gut! Ich auch. Vielleicht können Sie mir das eine oder andere beibringen.« Amador lachte. Und ebenso plötzlich erstarb sein Lächeln wieder, und seine Augen verengten sich.
Jack verstand den Hinweis. Er straffte sich und bedachte den Lehrer mit einer Verbeugung, die Amador mit einer leichteren Verbeugung vor dem Schüler erwiderte.
»Lassen Sie uns mit einem ganz einfachen Stoß beginnen.« Amador hob das Karambit mit der Rechten hoch über den Kopf. »Einem Stoß, der bei Straßenschlägern oder Kriminellen gebräuchlich ist.« Er trat langsam auf Jack zu und führte die Klinge im Zeitlupentempo nach unten. Jack hob seinen viel kräftigeren linken Unterarm rechtwinklig zur Stoßrichtung. Amadors Arm berührte den Jacks, und beide Arme verharrten reglos in dieser Position.
Amador blickte zu Martinez und Dom. »Seht ihr? Jack ist gut ausgebildet. Er hat gewusst, wie man diesen einfachen Stoß abwehrt.« Er drehte sich wieder zu Jack hin, der viel größer war als er. »Was tun Sie als Nächstes? Was haben Sie im Training gelernt?«
Den rechten Arm des anderen weiter mit seinem linken blockierend, schlug Jack eine Zeitlupenrechte auf Amadors Bauch, bis der Kontakt da war.
»Gut! Wie aus dem Lehrbuch.« Amador löste sich und trat einen Schritt zurück. »Jetzt wollen wir uns ansehen, was ein Gegner mit etwas mehr Geschick tun könnte.«
Amador trat erneut vor, hob wieder den rechten Arm in die Höhe und stieß langsam zu. Jack wiederholte den Block. Doch als sich ihre Arme berührten, drehte Amador das Handgelenk und winkelte den Ellbogen an. Die stumpfe Klinge des Übungsmessers drückte sich in Jacks Arm. Schneller als ein Wimpernschlag biss die Klinge tiefer, als Amador den Arm weiter drehte und nach unten zog. Der Druck war immens, und die Hebelwirkung auf Jacks Arm warf ihn beinahe zu Boden. Amador löste sich von ihm, bevor Jack das Gleichgewicht verlor.
»Wäre das Messer scharf, wäre Ihr Arm jetzt natürlich bis auf den Knochen aufgeschlitzt. An einen Gegenschlag würden Sie gar nicht erst denken. In Ihrem Kopf würde es schreien – ›der Arm wird mir abgeschnitten‹.« Wieder lachte Amador.
Jack war beeindruckt. Dort, wo die Klinge ihn berührt hatte, rieb er sich den Unterarm. Dom und Martinez nickten anerkennend.
»Sie sind doch nicht verletzt, oder?«, fragte Amador aufrichtig besorgt.
»Nein, überhaupt nicht. Nur … überrascht.«
Amador grinste. »Gut. Machen wir noch einen Versuch. Mit demselben Stoß von mir. Aber vorher eine Frage. Was wird einem gewöhnlich beigebracht: Was soll man als Erstes tun, wenn man selbst unbewaffnet ist und von einem Mann mit einem Messer angegriffen wird?«
»Das Messer angreifen«, antwortete Jack. »Den Mann entwaffnen.«
»Richtig. Wenn ich also diesmal meinen plumpen Angriff ausführe, möchte ich, dass Sie mich mit einer Hand am Handgelenk packen und mir mit der anderen das Messer entreißen, so wie Sie es gelernt haben.«
Amador stach wieder im Zeitlupentempo von oben nach Jacks Kopf. Jack konterte, indem er Amadors schmales Handgelenk mit der Linken packte, dann mit der Rechten nach Amadors Hand griff und versuchte, sich des Messers zu bemächtigen.
»Stopp«, sagte Amador.
Jack erstarrte. Amador drehte den Kopf zu den anderen, die auf der Matte saßen.
»Seht ihr, wie mich Jack am Handgelenk gepackt hat? Ein sehr fester Griff! Eine gute Aktion, nicht wahr? Doch aufgepasst.« Amador drehte einfach nur das umschlossene Handgelenk, und die Hand und die gebogene Klinge kamen in Kontakt mit Jacks Handgelenk. »Eine echte Klinge durchtrennt sofort Muskeln und Sehnen seiner Linken, bevor seine Rechte das Messer ergreifen kann. Außerdem wird ihn der Schmerz veranlassen, die linke Hand wegzuziehen, wenn er kann, und seine rechte Hand wird unwillkürlich nach der verletzten fassen. Das erlaubt mir, den Angriff fortzusetzen.«
»Autsch«, sagte Jack. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie das Blut aus der Wunde spritzte, die seine Hand bewegungsunfähig gemacht und vielleicht sogar vom Handgelenk abgetrennt hätte.
»Machen wir weiter«, sagte Amador. Der Kali-Meister sammelte sich, dann schnellte er wie ein Skater auf den größeren Gegner zu, wobei seine nackten, braunen Füße kaum die Matte berührten und seine Schwielen darüber hinwegkratzten wie eine Feile über Schmirgelpapier. Dann begann wieder der Todestanz in Zeitlupe.
In den folgenden zwanzig Minuten demonstrierte Amador die Stärken von Kali-Messerkampftechniken und die tückische Effizienz eines Karambits gegen einen trainierten Kämpfer wie Jack. Sämtliche Abwehrmaßnahmen Jacks wurden mühelos mit einer leichten Drehung der Klinge gekontert. Auch Tritte wurden abgewehrt und mit Schnitten über Füße, Knöchel und Schenkel gekontert. Zudem teilte Amador mit der freien Hand und den Füßen Schläge und Tritte aus. Bei jeder Abfolge von Schlag und Gegenschlag hielten er und Jack mittendrin inne und stellten die unauffälligen, aber wirkungsvollen Techniken heraus, die Amador anwendete.
»Jetzt lassen Sie uns die Rollen tauschen, Jack«, sagte Amador. »Sie greifen mich an, und ich verteidige mich.«
»Bekomme ich das Messer?«, fragte Jack hoffnungsvoll.
»Sie brauchen kein Messer. Sie sind viel größer und stärker als ich. Ich bin nur ein alter Mann.« Amador lachte. »Fangen Sie an!«
Jack rückte vor, schlug im Zeitlupentempo linke und rechte Geraden auf den fast einen Kopf kleineren Amador. Wie bei anderen Kampfkunstdemonstrationen, denen Jack beigewohnt hatte, benutzte Amador eine Vielfalt von Techniken, um den schweren Schlägen auszuweichen oder sie mit der freien Hand abzulenken. Nur ging er augenblicklich zum Gegenangriff über und brachte Jack mit der klauenförmigen Klinge Schnittwunden an den Handrücken, Handgelenken, Unterarmen und Bizepsen bei. Sie pausierten nun nicht mehr jedes Mal, um auf den Kontaktpunkt hinzuweisen, sondern hielten die fließende Bewegung ihrer Angriffe und Gegenangriffe aufrecht.
Jack erhöhte das Tempo seiner Attacken und erweiterte sie um gerade und kreisförmig ausgeführte Fußstöße. Amador hielt dagegen, Schlag um Schlag, Tritt um Tritt, tänzelte um den größeren Gegner herum und versetzte ihm schwere Messerstöße in den Unterleib und die Oberschenkelinnenseiten, in Bauch und Gesicht. Hinzu kamen schmerzhafte Hiebe mit dem Griffende des Messers, bei denen der Stahlring wie ein Schlagring eingesetzt wurde: gegen Weichteile, Knorpelgewebe und Nasenbein, Kehlkopf und Augen.
»Man hat das Gefühl, gegen einen Velociraptor zu boxen«, sagte Jack voller Bewunderung für Amadors flüssige Bewegungen und sein Geschick im Umgang mit der gefährlichen Kralle in seiner Hand.
Als der letzte tödliche Hieb erfolgt war – die innere Schneide der sichelförmigen Klinge erwischte Jack unter dem linken Ohr und zerfetzte mit der Spitze seine Halsschlagader –, endete der Schattenkampf. Mit einem freundlichen Lächeln und einer Verbeugung gestand Jack seine Niederlage ein.
»Fragen?«, erkundigte sich Amador.
»Mir ist aufgefallen«, sagte Dom, »dass Ihre Messertechniken oft auf Ihre Kampftechnik mit der offenen Hand abgestimmt waren. Es war schwer, die beiden voneinander zu unterscheiden.«
»Gut beobachtet. Das kommt daher, dass alle Kampftechniken mit der offenen Hand aus dem Kampf mit Klingenwaffen abgeleitet sind. Schwerter und Messer wurden im Gefecht immer vorgezogen. Was aber, wenn ein Mann sein Schwert oder seine Lanze im Kampf verliert?« Amador hielt eine Hand hoch. »Er lernt, damit zu kämpfen. Aber damit kein Irrtum aufkommt: Der Kampf mit der bloßen Hand unterscheidet sich vom Messerkampf. Sie hängen miteinander zusammen, aber sie unterscheiden sich.«
»Weitere Fragen?«, sagte Martinez.
Jack dachte an die Messerattacke auf der Ölplattform, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Er räusperte sich und wählte sorgfältig seine Worte. »Meister, mir scheint, dass wir jahrelang üben müssten, um diese Kampftechnik zu beherrschen. Ich nehme an, dass Kali wie alle Kampfkünste viele rituelle Formen und festgelegte Bewegungen hat. Wie setzt man die in einem realen Messerkampf um? Die meisten Messerangriffe sind kurz und explosiv und nicht wie das, was wir eben getan haben.«
»Eine ausgezeichnete Frage. Zunächst einmal würde ich sagen, dass das Erlernen der Kampfkunst Kali zahlreiche Vorteile bietet, die über das Kämpfen hinausgehen. Aber ich bin mir sicher, dass Sie das bereits wissen. Um Ihre Frage also direkt zu beantworten: Das Erlernen der, wie Sie es nennen, ›rituellen Formen und festgelegten Bewegungen‹ trainiert Ihren Geist und Körper darauf, mit dem Messer und dem Rhythmus eines, wie Sie sagen, ›realen‹ Messerkampfs klarzukommen.«
»Wie das?«, fragte Dom.
»Es gibt drei Grundbewegungen bei einem Messerangriff«, antwortete Amador, hielt das Messer hoch und demonstrierte jede Bewegung, während er weitersprach.
»Den Stoß von oben, den geraden Stich und den diagonalen Schnitt. Fertig! Ein ungeübter Kämpfer wird in aller Regel auf eine dieser Angriffsformen setzen. Die fortgeschrittensten Kämpfer benutzen eine Kombination von allen dreien. Beim Kali lernt man alle drei und wie man sie zu einer vernichtenden Kombination vereint.«
Amador trat einen Schritt näher an Jack heran. »Aber ich bin nicht hier, um Ihnen Kali beizubringen oder seine Vorteile anzupreisen. Bruiser hat mich gebeten, Ihnen im Messerkampf zu helfen. Was ich Ihnen heute zu zeigen versucht habe, war nicht die Technik des Kämpfens, sondern das Wesen des Messerkampfes selbst.«
»Das Grundprinzip, das wir beherrschen müssen?«, fragte Jack.
»Ja.«
»Und das wäre?«
Amador hielt das Karambit hoch. »Hier finden wir es nicht.« Er tippte sich mit der stumpfen Übungsklinge an die Schläfe. »Der Verstand ist das Messer, mein Sohn. Die Klinge ist nur die Erweiterung Ihres Willens. Wenn ein Mann Sie mit einem Messer angreift, greift er Sie mit seinem Verstand an. Sie müssen zunächst einmal den Verstand des Messerkämpfers verstehen. Vergessen Sie das Messer. Das Messer ist nichts. Es ist der Kämpfer, der zählt. Sie besiegen den Kämpfer, nicht das Messer.«
Jack rieb sich das bärtige Gesicht und versuchte, Amadors Worte zu verarbeiten.
»Aber es gibt doch Messerkampftechniken«, sagte Dom. »Und bestimmte Techniken der Verteidigung.«
»Ja, durchaus. Aber vergessen Sie niemals, dass Sie sich gegen einen Messerangriff, wenn Sie keine andere Waffe haben, am besten damit verteidigen.« Amador hob einen seiner nackten braunen Füße hoch. »Beachten Sie meine ausgefeilte Technik.« Er setzte den Fuß wieder ab, fuhr herum und entfernte sich mehrere kurze Schritte. Lachend rief er über die Schulter: »Immer wegrennen, wenn Sie können!«
Die drei anderen stimmten in sein Lachen ein. Amador trat vor die beiden knienden Männer und blickte auf sie hinab. »Aber ganz im Ernst. Wenn Sie mit einem Messer angegriffen werden und selbst unbewaffnet sind, flüchten Sie, wenn irgend möglich. Ein Messer ist sehr gefährlich. Damit ist nicht zu spaßen. Verstanden?«
Die beiden nickten.
Amador streckte ihnen die Hände hin. Martinez und Dom hielten vorsichtig die rasierklingenscharfen Karambits hoch, und Amador nahm sie ihnen ab.
»Sie haben gesehen, wie wirkungsvoll eine einzelne Klinge beim Angriff und auch bei der Verteidigung ist«, sagte der zierliche philippinische Meister. »Können Sie sich vorstellen, was zwei Klingen in den Händen von jemand anrichten können, der damit umzugehen versteht?«
Jack rief sich die Katas in Erinnerung, die er in den letzten Jahren gesehen hatte. Vor seinem geistigen Auge teilte er Schläge und Tritte gegen den kleinen Filipino aus und sah dann, wie die beiden Karambit-Messer in den Händen des Meisters scherenartig seine Arme und Beine zerschnitten oder in sein ungeschütztes Fleisch fuhren, wenn er angriff. Jack spürte förmlich, wie ihm gleichzeitig die beiden Oberschenkel, dann die beiden Handgelenke aufgeschlitzt wurden und gleich darauf zwei spitze Klauen die Augen auskratzten. Er erschauderte.
»Spielt es denn eine Rolle, ob wir gegen einen Gegner kämpfen, der zwei Messer benutzt?«, fragte Jack. »Oder gehen wir genauso vor wie bei jemand, der nur eines hat?«
Amadors Lächeln verblasste. »Ich will Ihnen sagen, was mich mein Meister gelehrt hat, als ich anfing, den Messerkampf zu erlernen, und ihm genau dieselbe Frage stellte.«
Amador reichte Jack die beiden tödlichen Karambits und legte ihm eine starke Hand auf die breite Schulter. »›Wann immer du einem wahren Meister der zwei Klingen gegenüberstehst‹, sagte er zu mir, ›bete zu Gott, dass er bereit ist, dich im Himmel aufzunehmen, denn in diesem Augenblick wirst du mit Sicherheit sterben.‹« Amador beugte sich näher zu Jack vor. »Mit anderen Worten, mein Freund: Renn, was das Zeug hält!«
Martinez brüllte vor Lachen. Dom ebenfalls. Und als schließlich auch Amador loswieherte, gestattete sich Jack ein Grinsen.
Martinez stand auf. »Gehen wir einen Happen frühstücken. Von der vielen Messerstecherei habe ich richtig Kohldampf gekriegt. Anschließend kommen wir wieder her, und Meister Inosanto zeigt uns noch ein paar Übungen.«
»Einverstanden«, sagte Amador. »Ich habe richtigen Heißhunger auf Pancakes!«
Dom stand auf und ergriff seine Schuhe, doch Jack starrte nur auf die beiden Messer in seiner Hand, spürte ihr Gewicht und befürchtete das Schlimmste.