10
E in energisches Klopfen ließ alle aufhorchen. Die Tür schwang auf, und Jack stand in der Öffnung. Er wirkte gehetzt.
»Entschuldigung, dass ich zu spät komme. Zwei Blocks von hier gab es einen Unfall.«
»Jack, schön, Sie zu sehen«, sagte Rhodes. Er und Hendley standen auf, um ihn zu begrüßen. Nach kurzem Kampf hatte sich auch Paul aus dem Sessel gewuchtet.
Rhodes musterte Jacks Gesicht. »Der Schnurrbart gefällt mir, Jack. Aber da ist noch etwas an Ihnen, ich komme nur nicht dahinter, was.«
Nach der Geiselbefreiung hatte sich Jack den Vollbart abrasiert und nur einen dichten, aber gepflegten Oberlippenbart stehen lassen. Außerdem hatte er sich die langen Haare gestutzt und den Scheitel auf die andere Seite verlegt.
Er hatte sogar etwas Make-up aufgetragen, um die Reste des blauen Auges zu kaschieren. Als Sohn des US-Präsidenten änderte er von Zeit zu Zeit gern sein Aussehen, um in der Öffentlichkeit nicht erkannt zu werden.
»Sie sehen aus wie der junge Burt Reynolds«, befand Hendley.
»Wer ist Burt Reynolds?«, fragte Jack.
»Der Jugendschwarm meiner Frau«, antwortete Hendley. »Das war vor Ihrer Zeit. Sagen Sie, kennen Sie eigentlich Paul Brown?«
Jack streckte lächelnd die Hand aus. »Wirtschaftsprüfung, richtig?«
Pauls unerwartet kräftiger Händedruck gefiel ihm.
»Es überrascht mich, dass Sie sich an mich erinnern. Wir arbeiten an entgegengesetzten Enden des Gebäudes und in unterschiedlichen Etagen.«
»Sie leisten hervorragende Arbeit«, sagte Jack. In Wahrheit kannte er den Mann kaum. Er hatte ihn ein paar Mal auf Weihnachtsfeiern und bei Personalversammlungen gesehen. Allerdings genoss Brown einen ausgezeichneten Ruf.
»Sie aber auch«, erwiderte Paul. »Was man so hört.«
Im ersten Moment stutzte Jack. Weder Paul noch Rhodes wussten vom Campus, der sogenannten »schwarzen Seite« von Hendley Associates, zuständig für verdeckte Operationen. Um solche Operationen zu finanzieren, hatten Hendley und Jack Ryan, Senior, auch die »weiße Seite« der Firma gegründet, die der Öffentlichkeit unter dem Namen Hendley Associates bekannt war und im Bereich Private Equity Management agierte. Die Firma war im Lauf der Jahre exponentiell gewachsen, sowohl was die Belegschaft als auch das von ihr verwaltete Vermögen anging. Tatsächlich hatte Jack auf der weißen Seite der Firma als erstklassiger Finanzanalyst angefangen, bevor er als Außenagent zum Campus stieß – ohne Wissen und Erlaubnis seines Vaters.
»Wir haben nie zusammengearbeitet, oder?«, fragte Jack.
»Nein, aber Sie haben vor ein paar Jahren mit Kevin Hedrick an einem Projekt gearbeitet, mit dem ich vertraut bin. Er sagt, Sie hätten einen messerscharfen Verstand.«
»Kevin hatte die Federführung. Ihm verdanke ich, dass ich dabei so gut aussah.«
»Jetzt hab ich’s«, rief Rhodes wie ein Matheschüler, der eine Aufgabe gelöst hat. »Sie haben ordentlich Muskeln zugelegt, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe. Sie gehen wohl ziemlich oft ins Fitnessstudio, was?«
»Sie sehen auch ziemlich gut aus, Senator«, sagte Jack in dem Bemühen, von sich abzulenken. Tatsächlich hatte er dank einem neuen Trainingsprogramm in letzter Zeit weitere fünf Pfund Muskeln aufgebaut, womit sich der Zuwachs seit dem College auf fünfzehn Pfund erhöhte.
»Ich mache hauptsächlich Pilates und Yoga«, sagte Rhodes. »Und Whole30.«
In den folgenden Minuten tauschten Jack und Rhodes ein paar private Geschichten aus, wobei sie Hendley in die freundschaftliche Unterhaltung miteinbezogen. Rhodes war im Weißen Haus und sogar in der Privatresidenz des Präsidenten ein häufiger Gast gewesen. In Ryans erster Amtszeit hatte er sich unermüdlich für dessen Verteidigungsprogramm eingesetzt und sich dadurch Hendleys und Ryans Dankbarkeit und Loyalität verdient.
Paul Brown fiel auf, wie ungezwungen und vertraut die drei Männer miteinander umgingen. Gute alte Bekannte, wie ihm schien. Zwei ehemalige Senatoren und ein Präsidentensohn. Paul kam sich wie ein Fremdkörper vor. Er war nur der Sohn eines Streifenpolizisten und auf der Milchfarm seines Großvaters aufgewachsen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken kommen lassen, Jack?«, fragte Hendley.
»Nein, danke.«
Dann nahmen alle Platz. Rhodes setzte Jack darüber ins Bild, was er Paul bereits mitgeteilt hatte, und fuhr dann dort fort, wo er stehen geblieben war.
»Langer Rede kurzer Sinn, meine Herren: Wir brauchen eine unabhängige Fremdfirma, die nach dem Grundsatz von Treu und Glauben eine Prüfung ihrer Vermögenswerte durchführt, und am Ende werden beide ein Papier unterzeichnen, in dem Ihre Befunde zusammengefasst sind. Nichts übermäßig Schwieriges oder Kompliziertes. Auf diese Weise können sich beide Parteien vergewissern, dass wir einen angemessenen Preis ausgehandelt haben.«
»Zweifelt denn eine der Parteien daran?«
Rhodes zuckte mit den Schultern. »Wir haben das Doppelte des aktuellen Börsenkurses geboten. Wenn sie so gut sind, wie wir glauben, lohnt sich das allemal. Aber wenn noch einmal zwei Leute den Preis unter die Lupe nehmen, wird das ein paar Gemüter beruhigen, auch meines.«
Rhodes lehnte sich vor. »Und wie jeder in der Branche weiß, genießt Hendley Associates auf dem Gebiet einen glänzenden Ruf, und niemand …« Er deutete mit dem Finger auf Paul. »… ist in forensischer Buchprüfung besser als Paul Brown. Glauben Sie mir. Ich habe ihn bei der Arbeit erlebt.«
Jack runzelte die Stirn. Er hatte Rhodes nie zuvor bei Hendley Associates gesehen und fragte sich, wann Paul und Rhodes zusammengearbeitet hatten – und warum.
»Paul«, fuhr Rhodes fort, »ich möchte dich darum bitten, dir ihre Bücher anzusehen – selbstverständlich ist das alles jetzt digital. Wühl darin herum, vergewissere dich, dass es mit dem Laden steil bergauf geht.«
»Haben Sie denn einen Verdacht?«, fragte Hendley.
»Nein, überhaupt nicht. Dalfan Technologies ist ein altes und seriöses Unternehmen auf dem ehrlichsten Markt und in der robustesten Wirtschaft Asiens. Aber Enron hat seinerzeit auch jeder für ein leuchtendes Vorbild gehalten. Unter den derzeitigen Marktbedingungen können Unternehmen wie unseres nur dadurch ihren Marktanteil vergrößern und wachsen, dass sie kleinere, schneller wachsende Firmen wie Dalfan erwerben.«
»Aber Ihr Vorstand will für das Privileg nicht zu viel bezahlen oder die Katze im Sack kaufen«, sagte Hendley.
»Ganz recht. Eine Prüfung durch eine Drittpartei schützt die Interessen aller Beteiligten.« Rhodes blickte zu Jack. »Ich kenne Gerry seit zwanzig Jahren und habe ihn beglückwünscht, als er sich dazu entschloss, in die Privatwirtschaft zu wechseln und diese großartige Firma aufzubauen.« Er wandte sich wieder Hendley zu. »War ich nicht Ihr größter Unterstützer? Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie Erfolg haben würden?«
Hendley lächelte. »Schuldig in beiden Punkten. Und ich bin Ihnen für die Unterstützung in all den Jahren wirklich dankbar.«
Rhodes wandte sich wieder Jack und Paul zu. »An welche Firma hätte ich mich also wenden sollen, wenn nicht an Hendley Associates?«
Hendley bemerkte die Unschlüssigkeit in ihren Gesichtern.
»Es ist eine große Ehre, dass der Senator sich an uns gewandt hat, und ich würde den Auftrag sehr gern annehmen. Auch das Honorar ist äußerst großzügig. Allerdings hat er drei Bedingungen an den Auftrag geknüpft. Und die ersten beiden betreffen Sie beide, meine Herren.«
Jack und Paul tauschten einen verwirrten Blick.
Rhodes lächelte. »Ich habe ausdrücklich dich verlangt, Paul, weil ich deine Arbeit kenne und weiß, dass du dich auf Diskretion verstehst. Ich wüsste niemanden auf der Welt, dem ich diese Angelegenheit lieber anvertrauen würde als dir.« Er machte eine Kunstpause. »Das kann ich dir versichern.«
Die kleine Ansprache erschien Jack ein wenig übertrieben, doch ein Blick in Pauls Gesicht verriet ihm, dass sie die gewünschte Wirkung hatte.
Rhodes wandte sich an Jack. »Sie habe ich nicht verlangt, Jack. Ich habe Gerry nur nach seinem besten Finanzanalysten gefragt, und er hat ohne Zögern Ihren Namen genannt – was mich nicht überrascht hat. Sie sind ein kluger Kopf, genau wie Ihr Vater. Und angesichts unserer gemeinsamen Vorgeschichte würde ich mich umso mehr freuen, Sie mit Paul an Bord zu haben.«
»Sehr freundlich von Ihnen, Senator.«
»Und wenn ich Sie nicht beide bekomme, na ja, dann geht für mich gar nichts. Klingt verrückt, ich weiß, aber so überzeugt bin ich nun mal von unserem kleinen Team.«
»Da hören Sie’s«, sagte Hendley. »Ohne Sie beide kriegen wir den Auftrag nicht.«
Jack und Paul tauschten einen unverbindlichen Blick. Jeder las in den Augen des anderen genau dasselbe. Keiner wollte den Job, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Doch eine Ablehnung hätte für sie beide unausweichliche Folgen. Gerry Hendley wäre bitter enttäuscht. Jack sah ihm an, dass er den Auftrag unbedingt wollte.
Rhodes verstand diesen stummen Austausch als Kapitulation und Zeichen des Sieges.
»Paul, wenn du bereit bist, den Auftrag zu übernehmen, wirst du die forensische Buchprüfung durchführen. Ich möchte, dass du dein Radarhirn in Betrieb nimmst und den Nebel durchdringst. Ich glaube zwar wirklich nicht, dass du etwas finden wirst, und ich könnte mir kein besseres Ergebnis wünschen.« Rhodes macht eine Pause. »Aber versteh mich nicht falsch. Wenn etwas nicht stimmt, wenn etwas faul ist, möchte ich es wissen. Ich habe meiner Firma gegenüber eine treuhänderische Verpflichtung und zähle darauf, dass du mir hilfst, sie zu erfüllen.«
»Selbstverständlich«, sagte Paul. »Aber den Job könnte jeder qualifizierte Buch- und Rechnungsprüfer übernehmen.«
Rhodes deutete auf Jack. »Jack, wenn Sie mitmachen, erwarte ich von Ihnen eher Auskünfte qualitativer Natur. Ich möchte, dass Sie sich umsehen, sich ein Bild von den Leuten machen, die Sie dort kennenlernen, von den Arbeitsbedingungen, der Atmosphäre in dem Laden – ja sogar in der Stadt. Ist es eine Umgebung, in der Sie gerne arbeiten würden? Sind die Leute zufrieden, produktiv? Wie steht es bei Dalfan mit der Qualitätskontrolle? Mit der Sicherheit? Und Sie sollten sich die Zeit nehmen, sich mit Paul zu beraten. Wenn er ein oder zwei fragwürdige Akten ausgräbt, dann hoffe ich, Sie legen sich ins Zeug und gehen der Sache nach, schauen unter die Motorhaube und treten gegen die Reifen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich denke schon.«
»Die Leute dort werden eine Show abziehen und sich von ihrer besten Seite zeigen«, sagte Hendley. »Das ist ja normal. Halten Sie einfach die Augen und Ohren offen und versuchen Sie, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.«
Rhodes fügte hinzu: »Da drüben ist äußerste Zurückhaltung gefragt. Wenn sich herumspricht, was ihr da tut, könnte das den Deal in Gefahr bringen.«
Jack und Paul nickten.
»Fragen?«, erkundigte sich Rhodes.
»Was war die dritte Bedingung für den Job?«, fragte Jack.
»Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Sie müssten noch heute Abend nach Singapur fliegen. Wir stehen unter Zeitdruck, und der Flug dauert einundzwanzig Stunden.«
Paul Brown machte große Augen. Jack zog die Stirn kraus.
Rhodes spürte, dass die Sache noch nicht in trockenen Tüchern war. Er wandte sich an Hendley: »Gerry, ich würde gern mit Paul unter vier Augen sprechen. Hätten Sie etwas dagegen?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich wollte mir sowieso einen Kaffee holen und mit Jack eine andere Angelegenheit besprechen. Eine halbe Stunde?«
»Das sollte genügen.«
»Rufen Sie mich an, wenn es länger dauert«, sagte Hendley. Die vier Männer standen auf. »Kommen Sie, Jack. In der Kantine gibt es heute Morgen Pflaumenplunder.«
Jack stöhnte leise und folgte ihm durch die Tür.
Gerry Hendley würde gleich etwas auf den Tisch bringen, aber mit Sicherheit keinen Pflaumenplunder.