11
H
endley goss sich einen Kaffee ein, doch die Pflaumenplunder waren schon alle, sodass er widerwillig nach einem Blaubeer-Muffin griff. Jack nahm sich einen Müsliriegel und einen Beutel Jocko White Tea, neuerdings sein bevorzugtes, coffeinhaltiges Getränk. Hendley führte ihn an einen Tisch in der hinteren Ecke, weit weg von den anderen Gästen.
Kostenloses Frühstück und Mittagessen gehörten zu den Sonderzulagen der Mitarbeiter von Hendley Associates. Ebenso wie 80-Stunden-Wochen. Die Branche war umkämpft, und irgendwo auf der Welt wurde immer gearbeitet. Wer in der Firma aß, verbrachte weniger Zeit außerhalb der Firma. Die Einrichtung einer Kantine war für die Firma eine kostspielige, aber notwendige Investition gewesen.
»Ding und John haben mir einen detaillierten Bericht über den Rettungseinsatz gestern zukommen lassen«, sagte Hendley. »Sie und das Team haben hervorragende Arbeit geleistet. Ich hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen das persönlich zu sagen.«
»John hat uns gesagt, dass wir ein paar Tage freinehmen sollen. Ich habe tief und fest geschlafen, als Sie heute Morgen angerufen haben.«
Hendley grinste verschwörerisch. »Ist wohl spät geworden, wie?«
»Ich habe eine neue Churchill-Biografie angefangen, die ich mir kürzlich gekauft habe. Und ich habe mir die komplette erste Staffel von Stranger Things
angeschaut.«
»Was für eine Vergeudung der Jugend«, scherzte Hendley. »Aber im Ernst: Ist alles in Ordnung? Das war ein gefährlicher Einsatz.«
»Ja, alles in Ordnung. Muss noch ein paar Dinge verarbeiten. Und freue mich schon auf den nächsten.«
»Bei der Rettungsaktion war Glück dabei. Ich habe deswegen ein schlechtes Gewissen, um ehrlich zu sein. Die Sache hätte auch schiefgehen können.«
»Es war ein Glück, dass wir genau diese Art von Einsatz geübt hatten. Das hat sich ausgezahlt.«
»Ich weiß. Aber wenn ihr nicht schon in der Gegend gewesen wärt, hätte man euch nicht gerufen. John und ich haben gestern darüber gesprochen. Wir werden versuchen, solche Einsätze in Zukunft zu meiden. Da kommen zu viele Variablen und Unbekannte zusammen.«
»Wenn wir nicht eingegriffen hätten, wären die übrigen Geiseln umgebracht worden. Es war das Risiko wert.«
»Jetzt, wo ich weiß, wie es ausgegangen ist, kann ich zustimmen. Aber unter den gegebenen Umständen hätten wir die Geiseln und
das Team verlieren können. Ich weiß nicht, was ich Ihrem Vater hätte sagen sollen, wenn Ihnen oder einem von den anderen etwas zugestoßen wäre.«
»Sie hätten ihm gesagt, dass wir unser Bestes gegeben haben. Mehr würde er nicht hören wollen.«
»Da haben Sie recht.« Doch plötzlich verdüsterte sich Hendleys Stimmung. Er war noch immer nicht über den Tod von Doms Bruder Brian Caruso und von Sam Driscoll hinweg. Der Campus hatte mit den beiden in den letzten Jahren zwei gute Männer verloren. Sie übten einen riskanten Beruf aus, keine Frage, und alle Mitarbeiter des Campus nahmen dieses Risiko für ihr Land bereitwillig auf sich. Doch Hendley verstand es als seine Pflicht, jede Anstrengung zu unternehmen, um die Risiken so gering wie nur möglich zu halten. Vorausplanung und Informationsbeschaffung waren der Schlüssel bei diesem Bemühen, doch bei der Befreiungsaktion hatte man aus Zeitmangel beides grob vernachlässigt.
»Erzählen Sie mir von der Sache mit Rhodes. Was geht da wirklich vor?«, fragte Jack.
»Sie wissen so viel wie ich. Er hat gestern am späten Abend angerufen und mir sein Anliegen vorgetragen. Wir beide kennen uns schon ziemlich lange. Das klingt nach einem einfachen Auftrag für Sie beide, und Singapur wird Ihnen gefallen.«
»Es ist nur so, dass ich schon eine ganze Weile nicht mehr auf der weißen Seite gearbeitet habe.«
»Umso mehr möchte ich, dass Sie den Job übernehmen. Ihre Analystentätigkeit für Hendley Associates verschafft Ihnen eine fantastische Tarnung. Außerdem müssen Sie in Übung bleiben.«
»Die Arbeit für den Campus gefällt mir aber besser.«
»Das glaube ich gern. Eine Maschinenpistole abzufeuern muss um einiges aufregender sein, als Form-10-K-Berichte und all die anderen Papiere der Börsenaufsicht zu lesen. Aber vergessen Sie nicht, mein Lieber, die Analystentätigkeit gehört immer noch zu Ihrem Aufgabenbereich.« Er trank noch einen Schluck Kaffee.
Jack stutzte. Es sah Gerry nicht ähnlich, dass er den Chef raushängen ließ. »Worum geht es hier wirklich?«
»Bitte?«
»Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie mich aus irgendeinem anderen Grund, den Sie mir verschweigen, in Singapur haben wollen.«
Jack fragte sich, ob er dauerhaft dort stationiert werden sollte. Mittlerweile wurde darüber gelacht, aber letztes Jahr war Gerry ganz und gar nicht davon angetan gewesen, dass er auf einer vor Carpenter Point ankernden Jacht von Jack mit Markierungsmunition beschossen worden war. Bei der Übung hatte Jack allzu schnell den Abzug betätigt. Und auf der Nordseeplattform hatte er nicht schnell genug abgedrückt.
Hendley setzte sich aufrecht hin. »Offen gesagt, Sie sind einer meiner bester Analysten, deshalb möchte ich, dass Sie den Auftrag für Rhodes übernehmen. So einfach ist das. Sie kennen ihn so gut wie ich. Er ist nicht nur Marin Aerospace verbunden. Er hat überall in der Stadt Beziehungen. Wenn wir ihm so kurzfristig einen Dienst erweisen, wird er uns das nicht vergessen. Das wird uns eine Menge Aufträge einbringen, so langweilig sie manchmal auch sein mögen. Aber diese langweilige Arbeit ist es, die den Campus finanziert und funktionsfähig hält.«
Jack musterte Gerry, sah seinen entschlossenen Blick. Er war mehr sein Freund und Förderer als sein Boss. Jack konnte bei ihm zwischen den Zeilen lesen. »Und weiter?«
Gerry sah Jack fest in die Augen, dann verzog er das Gesicht zu einem Grinsen. »Na ja, eine Sache wäre da noch.«
Auch Jack grinste, verkniff sich aber jede Häme. Es kam nicht oft vor, dass jemand Gerry Hendley zwang, Farbe zu bekennen. »Ja?«
Der ehemalige Senator legte Jack väterlich die Hand auf den muskulösen Unterarm. »Mir gefällt einfach die Vorstellung, dass Sie in Singapur sind. Wahrscheinlich ist es die sicherste Stadt auf der Welt – auf jeden Fall die sauberste. Das wird eine Art bezahlter Urlaub. Nutzen Sie die Gelegenheit, sich auszuruhen, einen Teil der Welt zu sehen, den Sie noch nicht kennen.«
»Ich wusste es. Sie machen sich Sorgen um mich.«
»Sorgen? Warum sollte ich mir Sorgen machen?«
»Hat Ding etwas zu Ihnen gesagt?«
»Ja, allerdings. Er hat gesagt, dass Sie auf dieser Ölplattform einen guten Job gemacht haben und dass der Fehler, der Ihnen unterlaufen ist, jedem hätte passieren können.«
»Und das ist alles?«
»Ist da noch etwas, von dem Sie glauben, dass ich es wissen sollte?«
Jack wusste, dass sich hinter dem Südstaatlercharme des Ex-Senators ein untrügliches Gespür für Schwäche und das Verhandlungsgeschick eines Fischhändlers verbargen. Er musste vorsichtig vorgehen.
»Wir sollen nächste Woche in Colorado mit der neuen Trainingseinheit beginnen. Das darf ich nicht verpassen.«
»John hat mir versichert, dass Sie nichts Wichtiges verpassen werden. Er wird Sie instruieren, wenn Sie zurückkommen.«
»Ich möchte das Team nicht hängenlassen. Wenn ich in Singapur bin und die anderen zu einem Einsatz gerufen werden, bin ich nicht für sie da.« Jack nippte an seinem Tee. »Oder ist das der Punkt?«
»Hören Sie, Sie interpretieren viel zu viel in die Sache hinein. Es ist ein Auftrag, und ich brauche Sie dafür. Das ist alles. Wenn ich Sie nicht im Campus haben wollte, wären Sie draußen, oder?«
»Ja, sicher.« Jack hatte schon einmal seinen Platz im Team verloren und fürchtete, er könnte ihn erneut verlieren. Er konnte nur hoffen, dass dieser Auftrag auf der weißen Seite nicht der erste sanfte Schubs aus der Campus-Tür war.
Hendley biss noch ein Stück von seinem Blaubeer-Muffin ab. »Ich weiß ja, dass der Analystenjob in Singapur nicht der große Aufreger ist. Eine Schießerei ist da sicher etwas ganz anderes.«
»Es ist nicht nur das. Es geht darum, dass ich meine Rolle im Team ausfülle.«
»In welchem Team? Sie arbeiten für Hendley Associates und den Campus. Wir sind alle ein großes Team. Sie haben auf beiden Seiten des Unternehmens unterschiedliche Rollen zu spielen, denn Sie haben mehr als nur ein Talent. Was Sie tun, kann nicht jeder im Campus.«
»Danke.«
»Aber ich habe den Eindruck, dass Sie den größeren Zusammenhang nicht sehen. Kennen Sie den alten Spruch ›Weil ein Nagel fehlte …‹«
Jack erinnerte sich vage. Er hatte ihn einmal an der St. Matthew’s Academy zitiert. »›Weil ein Nagel fehlte, ging das Hufeisen verloren, weil das Hufeisen fehlte, ging das Pferd verloren, und weil das Pferd fehlte, ging der Reiter verloren.‹«
Hendley hielt einen Finger in die Höhe. »Genau! ›Und weil der Reiter fehlte, ging die Schlacht verloren, und weil die Schlacht verloren ging, ging das Königreich verloren.‹ Manchmal muss man in der Schlacht das Schwert schwingen, aber manchmal muss man nur den Stall ausmisten – was ich auf der Farm weiß Gott oft genug getan habe. Aber alle Rollen sind wichtig, wir müssen alle spielen. Und für mich ist es wichtig, dass Sie diese Rolle für Rhodes spielen, Jack.«
Jack hatte immer noch das Gefühl, dass ihm Hendley etwas verschwieg. Er wollte ihn nicht enttäuschen, aber er wollte auch nicht die Außenagenten des Campus im Stich lassen. Er war hin- und hergerissen.
»Jack, Sie wissen, dass Sie sich hier jedermanns Respekt verdient haben, speziell im Campus. Sie sind immer zur Stelle, ganz gleich was von Ihnen verlangt wird. Ich bitte Sie zu verstehen, dass auch das Ihr Job ist.«
Hendley stand auf und ließ dabei seinen Stuhl über die Fliesen scharren. »Nehmen Sie sich eine Stunde. Denken Sie darüber nach und teilen Sir mir dann Ihre Entscheidung mit.«
»Ich brauche die Stunde nicht, Gerry. Ich werde es natürlich tun.«
Hendley strahlte. »Wunderbar. Glauben Sie mir, es wird Ihnen mehr Spaß machen, als Sie ahnen. Und es ist für Sie eine gute Gelegenheit, Paul näher kennenzulernen. Er ist manchmal ein harter Brocken, aber ein guter Mann.«
Eher ein Weichei mit harter Schale,
dachte Jack. Aber Gerry Hendley gab solche Hinweise nie leichthin.
Hendley drehte sich um und bemerkte jemanden am anderen Ende des Raums. Einen Augenblick später stand er an dem betreffenden Tisch, scherzte und schüttelte Hände, als kandidierte er für das Amt des County Commissioner.
Jack bekam ein mulmiges Gefühl. Lieber würde er aus dem Flugzeug springen, als auf dem Flug neben einem Mann zu sitzen, dessen Vorstellung von einem schönen Abend wahrscheinlich darin bestand, auf dem Kabelkanal des Hotels untertitelte Wiederholungen von Rauchende Colts
anzuschauen. Und kaum reizvoller fand er die Vorstellung, die nächsten zehn Tage in einer Stadt zu verbringen, die so stockkonservativ war, dass sie das Kaugummikauen verbot.
Aber wie sein Vater immer sagte: Wenigstens musste er nicht zum Scheißeschaufeln nach Louisiana.