13
Dulles International Airport,
Washington, D.C.
G
erry Hendley hatte freundlicherweise einen Wagen bestellt, der sie zu Hause abholte und zum Flughafen brachte. Dort angekommen, hatten sie noch jede Menge Zeit bis zum Abflug ihrer Nachtmaschine nach London.
Jack ging im Terminal voraus. Er zog nur einen einzigen Rollkoffer hinter sich her, der praktische Packwürfel mit seinen säuberlich zusammengelegten und gestapelten Kleidungsstücken enthielt. Er reiste gern mit leichtem Gepäck und ging davon aus, dass das Hotel, in dem sie wohnen würden, einen Wäscheservice anbot, sodass er nicht viel mitzunehmen brauchte. Zudem hatte ihm Hendley, da der Auftrag strikt auf der weißen Seite angesiedelt war, ausdrücklich untersagt, sein Satellitentelefon oder sonstiges Geheimdienstgerät mitzunehmen. Er würde es nicht brauchen, und es gab keinen Grund, beim Passieren der diversen Zoll- und Sicherheitskontrollen unterwegs Aufsehen zu erregen. Auch wurden keine Arrangements getroffen, damit er sich in Singapur mit Waffen versehen konnte.
Hinter ihm schob Paul einen Gepäckwagen vor sich her, der einen übervollen Kleidersack, einen gelben Hartschalenkoffer, der schon bessere Tage gesehen hatte, einen voluminösen Nylonseesack und seine Laptoptasche beförderte.
S
ie gingen zum Abfertigungsschalter von Virgin Atlantic Airways, wo ihre Bordkarten warteten, und gaben ihr Gepäck auf.
Pauls Handgepäck bestand aus dem Nylonseesack, der gerade so die Grenzen für Größe und Gewicht einhielt, und dem Laptop, der an seiner Schulter baumelte. Er trug denselben grauen Anzug, den er schon am Morgen angehabt hatte.
Jacks Handgepäck bestand aus einer handgefertigten Schultertasche aus Leder für seinen Kindle, sein iPhone und sein iPad. Zu Hause hatte er noch einmal geduscht und sich umgezogen. Auf langen Flügen wie diesem bevorzugte er normalerweise bequeme, sportliche Kleidung, da er jedoch Hendley Associates repräsentierte, hatte er sich für ein etwas seriöseres, aber legeres Business-Outfit entschieden. Vor ihnen lag ein siebenstündiger Flug von Washington nach London, wo sie am Morgen landen und in eine andere Maschine umsteigen würden, die noch einmal dreizehn Stunden bis Singapur benötigte.
In Flugstunden gerechnet war das weniger als ein Tag, doch wegen der Zeitverschiebung landeten sie zwei Kalendertage nach dem Start vom Dulles International. Für Jack hieß das unruhige, von gelegentlichen Schlafanfällen unterbrochene Stunden geballter Langeweile, an deren Ende sich unvermeidlich ein Jetlag einstellte.
Echt toll.
Wenigstens waren die Warteschlangen vor den Sicherheitskontrollen zu dieser späten Stunde kurz, sodass sie schnell abgefertigt wurden und wenig später bei Terminal A anlangten. Der Flug war voll, aber zum Glück nicht überbucht, und sie gingen kurz nach den Erste-Klasse-Passagieren an Bord. Hendley hatte erklärt, er könne die luxuriöse, firmeneigene Gulfstream G550 für den Hinflug nicht zur Verfügung stellen, geschweige denn zehn Tage auf einem Rollfeld parken und auf den Rückflug warten lassen. Folglich hatten sie einen kommerziellen Flug nehmen müssen, und Rhodes’ Assistentin hatte bei der Buchung in letzter Minute keine Plätze mehr in der First oder der Upper Class bekommen.
Jack fiel auf, dass Paul beim Gang durch die First-Class-Kabine, dann durch den Upper-Class-Bereich und schließlich zu ihren Plätzen in der Premium Economy Class stark hinkte. Er erbot sich, ihm den schweren Seesack abzunehmen, doch Paul lehnte höflich ab. »Fenster oder Gang?«, fragte er, als sie jetzt an ihrer Reihe ankamen.
»Egal«, antwortete Jack. »Was Ihnen lieber ist.«
»Mir ist es auch egal.«
»Für Ihr Bein ist es vielleicht besser, wenn Sie es ausstrecken können. Da würde sich der Gang anbieten.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Natürlich nicht.« Jack verstaute seine Schultertasche im Gepäckfach und rutschte auf den Fensterplatz, während Paul den schweren Seesack auf seinen leeren Sitz wuchtete und den Reißverschluss öffnete, ein kleines Daunenkissen und ein aufblasbares Nackenkissen herauszog, dann den Sack wieder schloss und in das Gepäckfach warf. Ein paar ungeduldige Passagiere in der Schlange hinter ihm schnaubten, bis Paul mit einem Seufzer der Erleichterung in seinen Sitz sank.
Sie schnallten sich an, und Paul stopfte sich das kleine Kissen hinter den unteren Rücken. Er bemerkte, dass Jack ihm dabei zusah. »Bandscheibenschaden zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel.«
»Muss unangenehm sein.«
»Langes Sitzen macht Probleme.«
»Ich werde selbst schon zappelig«, sagte Jack. Nur noch 20 Stunden und 59 Minuten,
dachte er.
»Ich muss Ihnen noch sagen, dass ich das Fliegen nicht besonders gut vertrage«, gestand Paul.
»Flugangst?«
»Übelkeit. Na ja, und Flugangst.«
»Mein Vater fliegt auch äußerst ungern.«
Jack verkniff es sich, die Augen zu verdrehen. Das wird ein sehr langer Flug.
»Ich habe mir von zu Hause Dimenhydrinat mitgebracht.« Paul schüttelte eine Pillendose. »Das Verfallsdatum ist überschritten, müsste aber noch wirken.« Er reckte den Hals. »Vielleicht kann mir die Stewardess ein Glas Wasser bringen.«
»Sie wird Ihnen bestimmt gern eins bringen.« Jack drückte den Rufknopf, und Augenblicke später erschien eine gutaussehende Frau mittleren Alters mit zwei Gläsern Champagner auf einem Tablett und reichte jedem von ihnen eines.
»Willkommen an Bord, Gentlemen. Mein Name ist Sally. Kann ich Ihnen noch etwas bringen?«
Jack hob sein Glas. »Womit haben wir das verdient?«
»Auf diese Weise wollen wir Ihnen dafür danken, dass Sie Premium Economy fliegen.«
Jack bewunderte den Schampus in seiner Hand. Plötzlich kamen ihm die breiten Ledersitze noch etwas bequemer vor. »Könnten Sie, wenn es Ihre Zeit erlaubt, meinem Freund eine Flasche Wasser bringen? Er muss seine Medizin nehmen.«
»Aber ja, sobald alle ihre Plätze eingenommen haben.«
»Danke.«
Paul seufzte vor Erleichterung. »Ich hätte sie im Terminal nehmen sollen, aber ich hatte Angst, wir kommen zu spät.«
»Macht doch nichts.«
Jack stieß mit Paul an.
»Cheers.«
»Cheers.« Pauls Glas zitterte leicht, als er daran nippte.
Fünf Minuten später erschien die Flugbegleiterin wieder mit einer Flasche Wasser, und Paul schluckte zwei Dimenhydrinat – wegen des Verfallsdatums sicherheitshalber eine mehr. Eine Viertelstunde später raste die Maschine kreischend die Startbahn entlang und stieg dann in den Abendhimmel. Pauls Hände umkrallten die Armlehnen, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Ein paar Minuten später hatten sie Reiseflughöhe erreicht, und Paul entspannte sich.
»Macht Ihnen das Fliegen nichts aus?« Paul war blass und schweißnass im Gesicht.
Jack hätte am liebsten geantwortet, dass er lieber aus Flugzeugen springe, als darin zu sitzen, vorzugsweise in Form von HALO
- und HAHO
-Fallschirmsprüngen. »Sie wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall zu sterben, größer ist als bei einem Flugzeugabsturz?«
»Ich bin auch kein großer Fan von Autounfällen.«
»Was macht Ihr Magen? Ist Ihnen flau?«
Paul horchte in sich hinein. »Ich spüre keine Turbulenzen. Ich glaube, es geht mir einigermaßen.«
»Schön. Bald gibt es Abendessen.«
Paul blickte auf seine Uhr. »Es ist fast sieben. Ich hätte gern einen heißen Kamillentee.«
»Wieso? Ist Ihnen doch schlecht?«
»Ich trinke um sieben immer eine Tasse Tee. Reine Gewohnheit.«
Ein paar Minuten später erschien die Flugbegleiterin mit ihrem Servierwagen, und Paul bestellte seinen Kamillentee. Sie entschuldigte sich und sagte, dass sie diese Teesorte nicht habe, und so nahm Paul nur eine Tasse heißes Wasser und holte einen Gleitverschlussbeutel aus seinem Seesack, der mit Teebeuteln vollgestopft war. »Ich habe ein paar eingepackt für den Fall, dass es im Hotel keine gibt«, erklärte er. Jack begnügte sich mit einer Flasche Wasser.
Als der Getränkewagen fort war, beschloss Jack, eine Pinkelpause zu machen. Eine Entschuldigung murmelnd stieg er über Paul hinweg und schlug den Weg zu den Toiletten im hinteren Teil der Maschine ein, weil die First-Class-Kabine mit einem Vorhang abgeteilt war. Er musste eine Weile warten, bis eine frei wurde. Er schlüpfte in das beengte Kabuff und verrichtete sein Geschäft vornübergebeugt, da seine große Gestalt schlecht in die eckige Geometrie des telefonzellengroßen Klos passte. Er spülte, wusch sich die Hände und fiel förmlich durch die Falttür zurück in den Gang.
Die Deckenleuchten in der Kabine waren aus, und lila Akzentbeleuchtung erhellte das abgedunkelte Innere dezent. Bei seiner Reihe angekommen, sah Jack, dass Paul tief und fest schief, mit offenem Mund und leicht schnarchend, den Hals in sein aufblasbares Nackenkissen geklemmt. Die Tabletten hatten ihn geschafft. Jack war ein wenig enttäuscht. Er hatte Hendleys Rat beherzigt und den Vorsatz gefasst, sich Mühe zu geben und Paul Brown näher kennenzulernen. Er war zwar schrecklich schüchtern, machte aber einen ganz netten Eindruck. Er würde auf dieser Reise noch genug Zeit haben, mehr über den Mann herauszufinden.
Jack öffnete das Gepäckfach und nahm seinen Kindle heraus, dann über- und umkletterte er den bulligen Rechnungsprüfer so vorsichtig wie möglich, um ihn nicht zu wecken. Schließlich ließ er sich in seinen Sitz sinken. Mit etwas Glück konnte er vielleicht die Churchill-Biografie zu Ende lesen, die er neulich angefangen hatte. Doch er hatte erst ein paar Seiten gelesen, da erregte die Flugbegleiterin seine Aufmerksamkeit. Sie kam den Gang herunter in ihre Richtung, in der Hand ein Tablett und einen silberhaarigen Flugkapitän im Schlepp. Gleich darauf blieb sie neben Paul stehen.
»Das ist Mr. Brown, Captain«, flüsterte sie.
Ein paar Passagiere um sie herum warfen flüchtige Blicke in ihre Richtung.
Jack fragte sich, in welchen Schwierigkeiten sein Partner steckte. Es war gegen die Vorschriften, dass der Pilot während des Flugs sein Cockpit verließ. Irgendwas stimmte nicht. Er stieß Paul leicht an. »He, Kollege, wachen Sie auf.«
»Was …?« Paul schreckte aus dem Schlaf hoch.
»Paul Brown«, flüsterte der Captain. »Ich glaube es nicht.«
Paul blinzelte heftig. Kniff die Augen zusammen. Und strahlte über das ganze Gesicht. »David Miller. Was machst du denn hier?«
»Angeblich fliegen. Aber auf den Autopiloten aufpassen trifft es eher.« Der groß gewachsene Pilot streckte ihm die Hand hin. Paul schlug ein. »Ich habe deinen Namen auf der Passagierliste gelesen und wollte mich nur vergewissern. Freut mich, dass du mit mir fliegst. Was führt dich her?«
Paul war noch nicht ganz da. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Geschäftsreise. Oh, Entschuldigung, das ist mein Partner, Jack Ryan. Jack, das ist David Miller. Ein alter Freund.«
Jack reichte ihm die Hand. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Captain.«
»Ganz meinerseits.« Ein fester, ruhiger Händedruck. Doch der Captain war offensichtlich nicht an einer Unterhaltung mit Jack interessiert. Er wandte sich wieder Paul zu. »Kümmert sich Sally gut um dich?«
Jack sah den Respekt in Millers Augen. Oder war es mehr?
Paul lächelte. »Sie ist wundervoll gewesen.«
Die Flugbegleiterin strahlte. »Vielen Dank, Mr. Brown. Es war mir ein Vergnügen. In einer halben Stunde servieren wir das normale Essen, aber wenn ich Ihnen vorher etwas bringen kann …«
»O nein, danke. Ich möchte nichts.«
Jack versuchte, seine Verwirrung zu verbergen. Sie behandelte ihn wie eine Berühmtheit.
Was zum Teufel ging hier vor?
Der Captain beugte sich vor und senkte die Stimme noch mehr. Jack konnte kaum verstehen, was er sagte. »Hör mal, Paul, ich habe gerade mit Sally nachgesehen. In der First Class hat es in letzter Minute eine Stornierung gegeben. Du kannst den Platz gerne haben.«
»Ich? Nein, ich könnte nicht …«
Captain Miller grinste. »Ich bestehe darauf. Um der alten Zeiten willen.«
Paul wandte sich an Jack, den Hals immer noch in das aufblasbare Kissen geklemmt. »Was ist mit Ihnen, Jack? Wie wäre es, wenn Sie ihn nehmen?«
Das klang himmlisch in Jacks Ohren. Heiße Gesichtstücher, Mixgetränke, Steaks. »Sie müssen ihn nehmen. Für Ihren Rücken und Ihr Knie wäre die First Class eine Wohltat, dort können Sie sich ausstrecken.«
»Würde es Ihnen auch wirklich nichts ausmachen?«
»Mir fehlt hier nichts. Ich werde sowieso nur lesen.«
Paul rieb sich das Knie. »Na ja, vielleicht haben Sie recht.«
»Gut«, sagte Captain Miller. »Sally wird dir mit deinen Sachen helfen. Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Jack. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.«
Captain Miller drehte sich um und eilte in Richtung Cockpit davon, während Sally Paul dabei half, seine Sachen zusammenzuraffen. Den schweren Seesack ließ er sie aber nicht tragen.
»Wir sehen uns in London, Jack. Ich hoffe, Sie können gut schlafen.«
»Danke. Ihnen viel Vergnügen.«
Jack sah zu, wie Paul hinter der Flugbegleiterin den Gang entlang in die erste Klasse humpelte. Ein paar Passagiere lehnten sich heraus und beobachteten neidisch, wie der korpulente Rechnungsprüfer hinter dem First-Class-Vorhang verschwand, wo ihn das Reisenirwana – und eine Privatsuite für 20 000 Dollar – erwartete.
Zehn Minuten später las Jack wieder in seinem Kindle, als Sally mit einem kleinen Tablett und einem großen roten Cocktail wieder erschien, der mit Ananasstücken garniert war. Lächelnd reichte sie ihn Jack. »Mit den besten Wünschen von Mr. Brown.«
Jack nahm ihn mit Freuden. »Was ist das für einer?«
Sally lächelte. »Ein Singapore Sling, natürlich.«
Natürlich,
dachte Jack und nahm einen Schluck. Er schmeckte Gin, Brandy, Cointreau, Bénédictine und Ananassaft heraus.
»Schmeckt er Ihnen?«, fragte Sally.
»Mein neuer Lieblingscocktail. Richten Sie Paul bitte meinen Dank aus.«
»Das werde ich. Wohl bekomm’s.« Sie wandte sich ab und kehrte in die First Class zurück.
Jack erhob sein Glas zu einem gespielten Toast. »Sie sind in Ordnung, Paul Brown.« Und mit einem Mal erinnerte er sich wieder daran, wie gern er reiste und dass er schon immer mal nach Singapur wollte. Hendley hatte recht. Vielleicht wurde das doch noch ein toller Kurzurlaub.
Aber eines würde er immer noch gerne wissen. Paul Brown, wer zum Teufel sind Sie?