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A
m nächsten Morgen nahm Jack rasch eine Dusche und putzte sich die Zähne. Dann zog er Chinos und ein blaues Oxford-Hemd an, dazu seine geliebten Stadtwanderschuhe – superbequem und gerade noch schick genug für die lockere Geschäftsatmosphäre bei Dalfan. Außerdem waren sie wasserdicht, und laut Vorhersage war heute erneut mit Gewitterschauern zu rechnen.
Er hatte Paul versprochen, dass er in zwanzig Minuten unten sein würde, und seine Uhr verriet ihm, dass bereits zweiundzwanzig verstrichen waren. Doch eine Sache musste er noch tun, bevor er zur Tür hinauskonnte.
Er zückte sein iPhone und startete die App Photo Trap – die beste Investition von neunundneunzig Cent, die er je getätigt hatte –, dann ging er nacheinander zum Schrank, zu den Kleiderschubladen und zum Waschbecken im Badezimmer. Bei jedem Stopp drückte er auf die Schaltfläche +, um Datum und Uhrzeit der ersten Aufnahme festzuhalten. Heute Abend würde er wiederkommen, an denselben Stellen Zweitaufnahmen machen und diese dann mit den ersten vergleichen, und zwar mithilfe der manuellen Flip-Funktion der App, die es ihm ermöglichte, zwischen den Fotos hin- und herzuspringen und festzustellen, ob irgendein Gegenstand bewegt worden war.
Im Campus war das eine Routinemaßnahme, die bei Einsätzen dazu diente, die persönliche Sicherheit zu gewährleisten – Hotelzimmer im Ausland waren berüchtigte Bespitzelungsfallen für Gäste, besonders für solche aus dem Westen. Doch über elektronische Geräte hinaus war es nicht ungewöhnlich, dass Security-Leute des Hotels – oder, schlimmer noch, staatliche Sicherheitskräfte – heimlich in ein Hotelzimmer eindrangen und es nach Schmuggelware durchsuchten.
Natürlich war Jack nicht im Campus-Auftrag unterwegs, doch von Gewohnheiten wie dieser, die ihm Ding und die anderen antrainiert hatten, konnte er nur schwer lassen. Dreißig Sekunden Mehraufwand sorgten dafür, dass er von Dings mäkelnder Stimme und Gewissensbissen, die ihm sonst keine Ruhe gelassen hätten, verschont blieb. Außerdem hatte ihm Clark eingeschärft, er solle immer auf sein Bauchgefühl hören, und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er wachsam bleiben müsse.
Um festzustellen, ob jemand eingebrochen war und die Wohnung durchsucht hatte, hatte man bis vor Kurzem noch einen Fussel auf einen Schubladenrand gelegt oder den Schieber am Reißverschluss eines Gepäckstücks in eine ganz bestimmte Position gebracht, doch erfahrene Profis kannten diese Tricks, denn sie benutzten sie selbst und wussten, wie man sie erkennen und umgehen konnte. Das Tolle an der App Photo Trap war, dass alles auf Fotos gebannt wurde, und wenn etwas nur ganz leicht verrückt wurde, wusste Jack hinterher, dass jemand in seinem Zimmer gewesen war und was er angefasst hatte.
Nicht dass er etwas zu verbergen gehabt hätte. Doch der Gedanke war ihm zuwider, dass jemand herumgeschnüffelt hatte und er nichts davon wusste.
Er überlegte, ob er Paul zu derselben Maßnahme raten sollte, doch er wollte ihm keinen Anlass zu dem Verdacht geben, er sei möglicherweise etwas anderes als Finanzanalyst bei Hendley Associates. Finanzleute auf Dienstreise ergriffen keine OPSEC
-Maßnahmen. Je weniger Paul über ihn wusste, desto besser.
P
aul und Jack trennten sich nach ihrer Ankunft im Dalfan-Gebäude. Paul wurde von Bai abgeholt und verschwand mit ihm in seinem Büro.
Jack wartete auf Lian, die einen Augenblick später auftauchte, sichtlich nicht in Bestform. Sie grüßte ihn förmlich und begleitete ihn in den zweiten Stock zu seiner Verabredung mit Dr. Singh.
Im Fahrstuhl nach oben sagte sie kein Wort. Jack auch nicht.
Dr. Singh nahm sie bei der Sicherheitskontrolle in Empfang und führte sie in sein Büro. Er war größer als Jack, aber schmaler, sah gut aus und trug einen Vollbart. Sein Turban war strahlend weiß und tadellos gewickelt. Seine dunklen, lächelnden Augen rahmte eine modisch eckige Brille mit transparentem Acetat-Rahmen.
»Kennen Sie unser Programm Steady Stare, Mr. Ryan?«
»Nur was ich in Ihren Unterlagen darüber gelesen habe. Es handelt sich um ein vierundzwanzigstündiges, drohnenbasiertes Überwachungsprogramm für zivile Anwendungen.«
»Das ist korrekt. Aber wenn man es so ausdrückt, klingt es ziemlich langweilig, habe ich recht? Ich möchte Ihnen heute zeigen, wie wir alles zusammenfügen und was dabei unterm Strich tatsächlich für unsere Kunden und für Dalfan herauskommt.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
»Schön. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Die Steady-Stare-Etage war in zwei Hauptbereiche unterteilt, genau wie das Stockwerk darunter. Der vordere Teil bestand aus Büros und Computerarbeitsplätzen.
»Hier entwickeln wir unsere eigene Software für GPS
-Navigation, Autopiloten, Bildkorrelation und so weiter«, erklärte Singh.
»Was ist daran eigenentwickelt?«, fragte Jack. »Viele Leute entwickeln Software dieser Art.«
Singh blickte zu Lian. Sie nickte.
»Die von uns geschriebene KI-Software«, antwortete Singh, »und die Art und Weise, wie wir sie auf alle anderen Software- und Hardwarekomponenten anwenden, machen Steady Stare zu einem einzigartigen Produkt.«
»Künstliche Intelligenz? Daran arbeiten doch auch Google und die anderen Big Player aus dem Silicon Valley. Sie haben starke Konkurrenz.«
»Wir sind davon überzeugt, dass wir uns behaupten können.«
Er führte Jack und Lian zu einer rechnergestützten Design-Station. »Das ist eine unserer Hardware-Design-Plattformen. Wir entwickeln und bauen mithilfe von CAD
unsere eigenen Geräte – optische Geräte, Sensoren, Kommunikationstechnik und die Steady-Stare-Drohne selbst.«
»Und alle diese Komponenten fertigen Sie hier in Singapur?«, fragte Jack.
»Die eigenentwickelten«, antwortete Singh. »Wir verwenden auch viel Standardtechnik. Einen Teil davon beziehen wir aus vertrauenswürdigen Quellen.«
»Die sind heutzutage schwer zu finden.«
»Seltener als die seltensten Seltenen Erden«, bekräftigte Lian. »Aber wir haben unsere Quellen.«
Singh machte Jack mit einigen seiner Programmierer und Konstrukteure bekannt. Sie waren alle noch jung und sprachen wie jeder in Singapur fließend Englisch, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft und Muttersprache.
Jack fragte sie nach den Besonderheiten der Projekte, an denen sie arbeiteten, und sie antworteten in technischem Fachjargon und deuteten auf die CAD
-Grafiken oder Codezeilen auf ihren Bildschirmen. Er konnte zwar ihren Gedankengängen folgen, besaß jedoch nicht die nötigen Engineering- oder Programmierkenntnisse, um tiefer zu bohren. Aber es war offensichtlich, dass sie sich auskannten. Er dankte ihnen und drängte weiter.
Dr. Singh führte ihn in den anderen Bereich der Etage. Er war, wieder genau wie im Stockwerk darunter, durch eine Wand aus Sicherheitsglas abgeteilt, nur hing diesmal auf der anderen Seite ein schwarzer Vorhang. Singh erläuterte, dass seine Konstrukteure und Programmierer keinen Zugang zum Kontrollraum benötigten und dass manches, was da drin vorgehe, absolut tabu sei. »Aus Gründen des Datenschutzes«, wie er erklärte, als sie durch den Vorhang schlüpften.
Der Kontrollraum war dunkel und wie eine kleine Einsatzzentrale eingerichtet, mit Computerarbeitsplätzen und Kontrollmonitoren, an denen Techniker saßen, die auf ihre Bildschirme starrten und in Headsets sprachen.
Fast die gesamte hintere Wand des Raums nahm ein Videobildschirm ein, auf dem, wie es schien, ein Livebild von Singapur aus der Vogelperspektive zu sehen war. Es sah aus wie eine Satellitenansicht. Die Leitstation vor dem Bildschirm war unbesetzt. Singh führte sie hin.
»Dieser Raum ist das Herz des Steady-Stare-Projekts«, erläuterte er. »Unsere Drohnen bleiben zwölf Stunden am Stück auf Position, und wir nehmen jeden Tag zwei in Betrieb, sodass wir volle vierundzwanzig Stunden abdecken.«
»Wie werden die Drohnen mit Strom versorgt?«
»Durch Solarzellen.«
»Sie können zwölf Stunden mit Sonnenenergie fliegen?«
»Das unbemannte Solarflugzeug von Google kann theoretisch fünf Jahre lang ununterbrochen herumfliegen, ohne zu landen. Es bietet natürlich eine viel größere Plattform. Unser kleines Fluggerät fliegt mit unseren eigenen Photovoltaik- und Lithium-Batteriespeichersystemen – ein weiteres Beispiel für den Wert, den wir diesem Projekt beimessen. Außerdem befinden sich eine Pufferbatterie und ein kleiner Benzinmotor für Notfälle an Bord.«
»Der Gedanke dahinter ist also, dass diese Drohnen vierundzwanzig Stunden lang über der Stadt kreisen und Videoüberwachungsbilder liefern.«
»Ganz genau.«
»Wie bewerkstelligen Sie das in der Monsunzeit?«
»Das ist sicherlich eine Herausforderung. Wir starten die Fluggeräte mit aufgeladener Batterie, doch selbst an bewölkten Tagen ist die Sonneneinstrahlung noch beträchtlich.«
Jack runzelte die Stirn. »Was macht Ihr Luftbeobachtungssystem besonders nützlich oder einzigartig, speziell für die zivile Nutzung?«
Singh räusperte sich und richtete den Blick auf Lian.
»Luftbeobachtung hat viele Vorteile«, sagte Lian. »Und wir bieten ein hochleistungsfähiges, kostengünstiges Fluggerät an, mit dem man sie durchführen kann.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie viele Hundert kostengünstige, hochleistungsfähige Drohnen bereits entwickelt wurden oder noch entwickelt werden?«
»Das wissen wir«, antwortete Lian.
»Dann wissen Sie auch, dass in diesem Geschäft kein Geld zu verdienen ist.«
»Wir sind nicht auf den Kopf gefallen.« Lian lächelte.
Jack deutete auf den Videomonitor. »Was also kann Ihr System, was mich glauben machen könnte, dass sich damit Geld verdienen ließe?«
Lian verschränkte nachdenklich die Arme, offensichtlich hin- und hergerissen. Schließlich nickte sie in Singhs Richtung. »Fahren Sie fort.«
Singh lächelte erleichtert. »Glauben Sie an Zeitreisen, Mr. Ryan?«