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E
s war Feierabend, jedenfalls nach der Zahl von Dalfan-Mitarbeitern zu urteilen, die ihre Sachen zusammenpackten und zu den Ausgängen strebten.
Jack blieb vor Lians Büro stehen und klopfte an die Tür. Sie schaute von ihrer Tastatur auf, auf der Nase eine Lesebrille in keckem Neon-Orange.
»Ist heute Abend etwas geplant? Für uns drei, meine ich.«
»Ich habe mir gedacht, Sie wollen vielleicht etwas Zeit für sich haben. Wenn Sie einen Ausflug in die Stadt machen wollen, kann ich Ihnen ein paar Locations empfehlen.«
Autsch!
Jack schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, wir fahren ins Haus und versuchen, etwas Schlaf nachzuholen. Dann bis morgen.«
»Guten Abend.« Lian senkte den Blick wieder auf die Tastatur.
Jack holte Paul in seinem Büro ab und fuhr mit ihm ins Gästehaus zurück.
»Schon Pläne fürs Abendessen?«, fragte Paul im Wagen.
»Ich habe ein paar Steaks im Kühlschrank gesehen. Ich dachte, die könnte ich für uns in die Pfanne hauen. Und dazu vielleicht ein paar Zwiebeln und Kartoffeln.«
»Und ich kann einen Salat machen.«
»Klingt doch ganz brauchbar. Wie wollen Sie Ihres gebraten?«
»Schwenken Sie es kurz über der Pfanne, bevor Sie es auf meinen Teller werfen.«
»Also blutig.«
E
ine halbe Stunde später schnitt Paul in sein Steak und sah zu, wie der blutrote Saft zwischen die Bratkartoffeln und Zwiebeln lief, die er auf seinen Teller gehäuft hatte – so wie er es liebte. Er nahm den ersten Bissen, herzhaft und pfeffrig.
»Haben Sie jemals eine Kuh geschlachtet, Jack?«
»Nein, aber viele gegessen. Wie ist Ihr Steak?«
»Perfekt. Sollten Sie jemals beschließen, Hendley Associates zu verlassen und ein Steakhaus aufzumachen, werde ich Ihr erster Gast sein.«
»Danke. Ich bin kein Spitzenkoch, aber an einem Weber-Grill werde ich zum Tier.«
»Ich für mein Teil ziehe einen Kamado-Grill vor.«
»Sie meinen das große grüne Ei?«
»Ja. Schließt das Aroma ein wie ein Smoker. Alles bleibt saftig.«
Jack beschloss, sich heute mal gehen zu lassen und bei einem Glas Bushmills zu entspannen – was nicht hieß, dass er bei Dalfan unter großem Stress gestanden hätte. Tatsächlich hatte er einen richtig spannenden Tag gehabt. Er stand noch ganz unter dem Eindruck der VR-Demonstration. Wenn Amerika jetzt schon ein Problem mit Stubenhockern hatte, mochte er sich nicht vorstellen, was werden sollte, wenn Teenager vor VR-Spielkonsolen kleben blieben.
»Wie war die Vorführung heute?«, fragte Paul.
»Lustig, ich habe gerade daran gedacht. Verdammt cool. Sie müssen unbedingt mal mit rauf in den ersten Stock und es selbst ausprobieren.«
»Ich bin kein großer Gamer.«
»Ich auch nicht. Aber das muss man gesehen haben, sonst glaubt man es nicht. Und wie war Ihr Tag? Etwas Interessantes entdeckt?«
»Nicht viel. Ich konnte endlich ein paar Dalfan-Datensätze, die ich gebraucht habe, herunterladen und meine Screening-Software drüberlaufen lassen. Noch ist nicht viel dabei herausgekommen bis auf …« Paul hatte sich auch ein Glas von dem irischen Whiskey gegönnt, den Jack trank.
»Bis auf was?«
»Na ja, ich erhebe ungern falsche Anschuldigungen, aber ich bin auf eine Datei gestoßen, die mir Rätsel aufgibt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe mir die Forderungen und Verbindlichkeiten zu einer Produktlinie angesehen, die Dalfan an eine Firma in Shanghai verkauft, und eine Verhältnisanalyse durchgeführt – Sie wissen schon, Höchst- und Mindestpreise innerhalb definierter Zeiträume. Je näher das Verhältnis bei eins liegt, desto zufriedener bin ich.«
»Wieso?«
»Wenn das Verhältnis zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Preis, der für einen Artikel bezahlt wurde, ungefähr eins beträgt, bedeutet das, dass der für einen Artikel bezahlte Preis insgesamt relativ stabil ist. Aber wenn der für einen Artikel bezahlte Höchstpreis plötzlich in die Höhe schießt – oder der Mindestpreis in den Keller rauscht –, dann ist das in der Regel ein ziemlich sicheres Zeichen für Betrug. Hier stört mich, dass sich das Preisverhältnis in den letzten sechs Monaten nahezu vervierfacht hat. Und dass die verkauften Stückzahlen nicht recht dazu passen.«
Jack trank noch einen Schluck Bushmills. »Von was für einem Produkt sprechen wir?«
»Von Mobiltelefonen.« Paul aß noch ein Stück Steak.
»Moment mal. Dalfan verkauft Mobiltelefone nach China?«
»Den Rechnungen zufolge obendrein Wegwerfhandys.« Paul kaute noch beim Sprechen.
»Das ist so, als würde man den Saudis Sand verkaufen.«
»Wie ich schon sagte, ziemlich rätselhaft.«
»Wo stellt Dalfan sie her?«
»Hier in Singapur. Sie lagern sie in einem separaten Lagerhaus auf der Westseite der Insel und versenden sie von dort.«
Jack ging im Kopf die Liste der Dalfan-Anlagen durch, die Feng ihm gezeigt hatte. An ein separates Lagerhaus erinnerte er sich nicht. »Vielleicht sollte ich das morgen mal überprüfen.«
»Nur wenn Sie wollen. Wie gesagt, die Sache ist merkwürdig, aber halb so wild gemessen an der finanziellen Gesamtlage. Wahrscheinlich nur ein Erfassungsfehler.«
»Wir werden gut dafür bezahlt, dass wir unserer Sorgfaltspflicht nachkommen, deshalb sollte ich mir die Sache ansehen. Oder Sie nehmen sich noch mal die Bücher vor.« Jack stach mit der Gabel in seinen Salat.
Paul sah dem jüngeren Kollegen beim Essen zu. In den letzten Tagen hatte er Jack Ryan etwas näher kennengelernt. Er machte den Eindruck eines anständigen und gescheiten Menschen, keine Frage. Am liebsten hätte er ihn gebeten, ihm bei der Durchführung des Auftrags für Rhodes zu helfen, zumal jetzt, wo er in einer Sackgasse steckte, aber ihm war klar, dass er das nicht durfte – und nicht nur, weil Rhodes es ihm verboten hatte. Paul versuchte, den jungen Analysten zu schützen. Wenn er ihn in die Sache mit hineinzog und etwas schiefging, konnte das für ihn, den Präsidentensohn, böse Folgen haben.
Auf der anderen Seite war er sich nicht sicher, ob er Jack vertrauen konnte. Jack war zwar angenehm im Umgang, doch offensichtlich hatte er letzte Nacht eine Schlägerei gehabt und wollte nicht darüber reden. Wenn er nur in Notwehr gehandelt hatte, warum es dann verheimlichen? Vielleicht war die ganze Freundlichkeit nur Fassade.
Nein, er musste die Sache ohne Jack durchziehen, doch er war sich auch darüber im Klaren, dass er es allein nicht schaffen würde.
Er goss sich noch einen Whiskey ein und trank ihn in einem Zug.
N
ach dem Essen beluden Jack und Paul die Spülmaschine, räumten auf und gingen zu Bett. Paul gähnte, was das Zeug hielt, und Jack wollte seine Churchill-Biografie zu Ende lesen.
Doch bevor sich Jack die Zähne putzte und schlafen legte, griff er zu seinem iPhone und öffnete die App Photo Trap. Photo Trap listete die Fotos auf, die er am Morgen gemacht hatte, und er lud das erste hoch – das vom Kleiderschrank. Das Programm forderte ihn auf, sich für Foto 2 bereit zu machen. Er trat vor den Kleiderschrank und tippte auf die »Ready«-Anzeige. Die Kamerafunktion des iPhones lud ein mattes, halbtransparentes Bild des Schranks hoch, sodass er seine neue, aktuelle Vergleichsaufnahme mit dem Original zur Deckung bringen konnte, indem er den Rand der Schranktür, ein blaues Oxford-Hemd und ein paar andere Merkpunkte so ausrichtete, dass die Fotos exakt übereinstimmten. Die App Photo Trap wartete zudem mit Richtungspfeilen auf, die anzeigten, in welche Richtung Jack die Kamera drehen oder neigen musste, um das erste und das zweite Bild zur Deckung zu bringen. Als der Richtungsmesser alle Pfeile ausgegraut hatte, machte er das Foto, dann schaltete er manuell zwischen den beiden Aufnahmen hin und her und suchte nach Abweichungen, so gering sie auch sein mochten.
Er wiederholte das Ganze mit den Fotos, die er von der Schublade und im Badezimmer gemacht hatte. Nachdem er mehrmals zwischen den Fotos hin und her geblättert hatte, stand für ihn fest, dass jemand in seinem Zimmer gewesen war und etwas gesucht hatte. Und wenn er sein Zimmer durchsucht hatte, hatte er wahrscheinlich auch das übrige Haus durchsucht.
Jack hatte einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte und was er gesucht hatte. Er überlegte, ob er Paul davon erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Der Buchhalter wirkte so schon fahrig genug und hätte ohnehin nichts tun können. Jack durchsuchte sein Zimmer gründlich nach Wanzen und Kameras, fand aber keine.
Mit einem Mal fühlte er sich ziemlich ungeschützt.
V
öllig erschöpft ging Paul nach oben in sein Zimmer und nahm eine Dusche. Im Unterschied zu den meisten Amerikanern duschte er lieber abends und befreite sich vom Schmutz des Tages, bevor er ins Bett schlüpfte. Diese Gewohnheit hatte er von Carmen übernommen.
Unter dem heißen, dampfenden Wasser musste er wieder an das Problem mit der Dalfan-Verschlüsselung denken. Er hatte sich den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, und wenn er ehrlich war, half auch der Whiskey nicht weiter. Unter der Dusche bekam er wieder einen klaren Kopf. Aber den Alkohol hatte er heute Abend gebraucht. Wieder einmal hatte ihn Trauer überkommen, so ungebeten wie die Pest. Und die einzige Möglichkeit, sich aus ihrem Griff zu lösen und Tränen zu verhindern, war der Alkohol. Besser betäubt als verzweifelt. So konnte er wenigstens arbeiten.
Paul hatte sich eine Art Plan überlegt, wusste aber nicht, wie er ihn in die Tat umsetzen sollte. Dann fiel ihm plötzlich jemand ein, der es könnte.
Gavin Biery, der IT-Direktor von Hendley Associates, war zwar ein Klugscheißer, wie er im Buche stand, aber auch, wie Paul zähneknirschend zugab, verdammt gut in seinem Job.
Paul trocknete sich ab und fügte dabei die letzten Teile zusammen. Gavin musste ihm eine Software schreiben, mit der sich der Verschlüsselungscode auf dem Dalfan-USB
-Stick, den er jetzt hatte, abgreifen ließ. Gavins Software musste so beschaffen sein, dass der Code erfasst wurde, wenn Paul den Dalfan-Stick in seinen Privatlaptop steckte. Anschließend würde er den abgegriffenen Code auf den CIA
-Stick ziehen. Dann konnte er das Programm vom Stick direkt auf den Dalfan-Computer laden.
Aber das alles war nur möglich, wenn Gavin ihm diese Software schrieb, und zwar schnell. Bis spätestens in drei Tagen.
Leider wusste Paul auch, dass Gavin in dem dynamischen Finanzunternehmen gewöhnlich mit IT-Anfragen überhäuft wurde. Er musste sich etwas einfallen lassen, das Gavin dazu brachte, alles andere stehen und liegen zu lassen und dieses Programm für ihn zu schreiben, und zwar möglichst in den kommenden vierundzwanzig Stunden. Aber er kannte Gavin und wusste, dass die Chance, ihn dazu zu bewegen, so kurzfristig für ihn in die Bresche zu springen, sehr gering war.
Paul brauchte eine überzeugende Geschichte, ohne seine Mission für Rhodes preiszugeben. Aber wie sollte die aussehen? Er zog einen Pyjama an, dann öffnete er den Browser seines Laptops und tippte die vertrauliche Internetadresse von Hendley Associates ein. Er klickte das Mitarbeiterportal an, loggte sich mit seinem Passwort ein und durchsuchte das Firmenverzeichnis, bis er Bierys gesicherten Nachrichten-Link fand.
Er schrieb eine kurze Nachricht, von der er hoffte, dass sie Gavin nicht nur neugierig machte, sondern auch dazu bewog, unverzüglich zu antworten, damit er ihm alles erklären konnte. In der Dalfan-Zentrale würde er nicht mit ihm sprechen können, da Handys dort verboten waren, deshalb würde er regelmäßig im Webportal von Hendley Associates nachsehen müssen. Er musste eine Möglichkeit finden, mit Gavin zu sprechen, statt ihm nur Nachrichten zu schicken. Sprechen war viel besser.
Am Telefon log es sich leichter.