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J
ack bemerkte auf einer Baustelle einen fast vollen Müllcontainer und humpelte zu ihm hinüber. Er kletterte auf den Container und fand, was er suchte – einen Lumpen und einen leeren Karton. Mit dem Lumpen wischte er sich das Blut von der Hand, warf ihn in den Karton, klappte den Deckel zu und schob ihn unter eine Gipsplatte. Dann ging er ans andere Ende des Containers, steckte den Engländer in ein Stück PVC-Rohr, stopfte Dämmmaterial darauf und vergrub das Ganze zusammen mit dem Dalfan-Katalog im Müll. Normalerweise hätte er die Beweise, die ihm eine lebenslange Gefängnisstrafe – oder Schlimmeres – einbringen konnten, vernichtet, doch die Zeit wurde knapp, und seine Optionen waren begrenzt.
Er wandte sich von dem Container ab, überquerte die Straße und checkte seine Uber-App. Laut App sollte der blaue Punkt, der sich in seine Richtung bewegte, in drei Minuten bei ihm sein. Er sah noch einmal an sich hinunter und vergewisserte sich, dass er weder Blutspritzer noch sonst etwas Verdächtiges an sich hatte, das darauf hinwies, dass er ein Stück die Straße runter in einem Lagerhaus vier Männer getötet hatte. Es war schon schlimm genug, dass er wie ein halb ertrunkener Obdachloser aussah, noch dazu wie ein Serienkiller, das wäre des Guten zu viel.
Der äußerliche Check erinnerte ihn daran, dass er heute Nacht verdammt viel Glück gehabt hatte. Bis auf die wunde Stelle am Arm, wo der Baseballschläger ihn gestreift hatte, war er relativ unversehrt. Die vielen Hundert Stunden strapaziösen, zermürbenden Kampftrainings, in denen ihn Clark und Ding gedrillt hatten, waren zum Tragen gekommen, sobald er die Angst ausgeblendet und dem Kampf freien Lauf gelassen hatte. Tatsächlich war es das Kampftraining, das ihn befähigte, alles andere auszublenden.
Wie Clark immer sagte: Das Spiel wird auf dem Trainingsplatz gewonnen, bevor es überhaupt beginnt.
Der Kampf selbst war brutal und kurz gewesen wie die meisten Kämpfe – und nicht wie im Film, wo der Held ein Dutzend Faustschläge ins Gesicht bekommt und einfach weitermacht. Im wirklichen Leben hätte Rocky nach seinem großen Kampf im Koma gelegen und nie bis zum Nachfolgefilm durchgehalten, geschweige denn bis zu einem weiteren Kampf.
Aber Glück gehörte ebenfalls dazu. All das Training und die Vorbereitungen konnten einen nicht vor den tausend Dingen schützen, die bei so etwas Unübersichtlichem wie einem Nahkampf passieren konnten. Ein wilder Schwinger, ein rutschiger Ölfleck, ein Baseballschläger, der eine Sekunde früher niedersaust. Alles Mögliche hätte schiefgehen können. In echten Kämpfen tat es das gewöhnlich auch, aber heute Nacht war alles gut für ihn gelaufen. Beim nächsten Mal hatte er vielleicht nicht so viel Glück.
Und ein nächstes Mal würde es mit Sicherheit geben. Denn das war das Leben, für das er sich entschieden hatte. Pflicht, Ehre, Vaterland.
Komme, was da wolle.
D
ie Scheibenwischer des Kias waren den Regenmassen nicht gewachsen. Daniel Lim, der Uber-Fahrer – ein langhaariger Student der Logistik, wie er Jack erzählte, mit Brillengläsern so dick wie die Windschutzscheibe –, fluchte über die verschwommenen roten Lichter vor ihnen. Ein Stau, zum Donnerwetter.
»Diese dämlichen Autofahrer! Wegen so ein bisschen Regen!« Er drückte auf die Hupe.
Das Plärren durchfuhr Jack wie ein elektrischer Schlag. Die Tylenol-Tabletten, die er geschluckt hatte, hatten seine Kopfschmerzen gelindert, aber nicht beseitigt. Er musste den Jungen dazu bringen, dass er sich beruhigte.
»Ich habe am Abend im Radio gehört, dass sich über der Javasee ein Zyklon zusammengebraut hat. Regnet es deshalb so?«
»Zyklon der Kategorie 1, sehr niedriges Niveau«, antwortete Daniel. »Kein Problem für uns! Lah
. Bloß ein Unwetter. Mit viel Regen.«
»Und der Regen ist der Grund für den vielen Verkehr?«
»Möglich. Haben wohl Angst. Wenn das Unwetter zu schlimm wird, gibt es Probleme. Viele Überschwemmungen.« Er schob die Brille auf die Nase zurück und drückte fluchend wieder auf die Hupe.
Jack wusste, dass Uber-Fahrer nach Strecke bezahlt wurden, nicht für die Zeit, die sie im Auto saßen, wie ein regulärer Taxifahrer. Das war einer der Gründe, warum sich der Fahrdienst so großer Beliebtheit erfreute.
»Hören Sie, Daniel. Ich weiß, dass wir lange bis zu meiner Wohnung brauchen. Ich bezahle Ihnen das Doppelte für Ihre Mühe. Also machen Sie sich keinen Kopf, okay?«
Der Fahrer drehte sich um, ein breites Lächeln auf den dicken Lippen. »Okay! Danke! Das hilft mir sehr.« Er bedachte Jack wieder mit einem prüfenden Blick. »Sind Sie sicher, dass Sie okay sind?«
Jack konnte nur ahnen, wie er aussah, klitschnass, unrasiert und leicht verbeult. Er deutete auf die Windschutzscheibe. »Sie sollten besser auf die Straße schauen.«
»Ja, Sie haben recht.«
Die folgenden Minuten ging es nur im Schneckentempo voran. Jack nutzte die Zeit, um Gavin eine verschlüsselte Textnachricht zu schicken, zusammen mit den Fotos und Fingerabdrücken der Männer, die er vorhin getötet hatte.
Weiter vorn sah Jack flackernde Signallichter von Streifenwagen am Straßenrand. Die rechte Fahrspur war gesperrt. Rote Warnleuchten blinkten. Zwischen zwei Bewegungen der Wischerblätter konnte Jack zwei Autos ausmachen, die ineinandergekracht waren. Die anderen Fahrer versuchten, sich links einzuordnen, auch Daniel.
»Die Dummköpfe haben ihre Autos zu Schrott gefahren! Lah.
«
»Besteht die Gefahr, dass der Zyklon Singapur erreicht?«, fragte Jack.
»Uns hier? Ausgeschlossen. So weit kann ein Zyklon nicht kommen. Wir sind am Äquator. Hier gibt es keine Corioliskraft. Die bewirkt, dass die Winde einen wirbelnden Trichter bilden. Zwischen dem fünften Grad südlicher und nördlicher Breite können keine Taifune und Zyklone entstehen. Singapur liegt auf 1,35 Grad nördlicher Breite. Also kein Problem.«
»Das ist gut zu wissen.«
Daniel ließ sein Fenster herunter, schlenkerte mit dem Arm und schimpfte über einen Lexus, der ihn nicht hineinlassen wollte. Sein Gesicht und sein Arm wurden klatschnass. Schließlich ließ der Lexus genug Platz. Daniel fädelte sich ein. Er wischte sich mit der Hand das Gesicht ab.
»Sie kennen sich mit dem Wetter gut aus«, sagte Jack, immer noch bemüht, freundlich zu sein und den Burschen zu beruhigen. Doch für einen Uber-Fahrer wusste er wirklich ziemlich viel.
»Ich studiere Meteorologie im Nebenfach. Faszinierendes Gebiet.«
»Das ist cool.«
»Cool, schon. Nur gibt’s beim Wetter keine Jobs. Deshalb studiere ich Logistik.«
Erneut kam der Verkehr zum Stehen. Eine Polizistin blockierte ihre Spur und winkte einen Abschleppwagen heran. Daniel drehte sich um und zog ein finsteres Gesicht.
»Vamei. Ich habe Vamei vergessen.«
»Was ist ›Vamei‹?«
»Im Jahr 2001 bildete sich auf 1,4 Grad nördlicher Breite der Taifun Vamei. Ist über Singapur hereingebrochen. War sehr schlimm.«
»Sagten Sie nicht, dass unterhalb von 5 Grad nördlicher Breite keine Zyklone entstehen könnten?«
»Können sie auch nicht. Vamei aber schon! Lah.
«
Jack runzelte die Stirn.
»Keine Sorge! Die Javasee liegt südlich des Äquators, nicht nördlich. Keine Taifune. Sie werden sehen. Nur etwas Regen.«
»Sie sind der Meteorologe.« Plötzlich fiel Jack ein, dass er sich bei Paul nicht gemeldet hatte. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen. Er drückte Pauls Nummer.
»Hallo?«
»Paul, ich bin’s, Jack. Sorry, wenn ich Sie geweckt habe.«
»Macht nichts. Wie spät ist es?«
»Spät.«
»Wo sind Sie?«
»Auf dem Weg nach Hause. Warten Sie nicht auf mich.«
»Alles in Ordnung?«
Jack überlegte, ob er ihm alles sagen sollte, doch was würde das bringen? Er hatte gerade vier Männer getötet und trotz des Blutvergießens nichts herausgefunden. Und wäre selbst beinahe in einem gestohlenen Wagen umgebracht worden. Würde er Paul das alles erzählen, würde er seine Tarnung ihm gegenüber aufgeben – was ein klarer und sinnloser Verstoß gegen seinen Status beim Campus wäre. Also log er.
»Ja, alles in Ordnung. Wir reden später.« Jack unterbrach die Verbindung.
A
ls der Wagen in der leeren Straße hinter dem Gästehaus hielt, hatte der Regen etwas nachgelassen.
»Sehen Sie? Kein Zyklon!«, sagte Daniel, während Jack in seiner Uber-App tippte und ein Trinkgeld hinzufügte, das doppelt so hoch war wie der Fahrpreis.
»Vielleicht sollten Sie doch Meteorologe werden.«
»Auf keinen Fall. Keine Jobs.« Daniel checkte das Trinkgeld. »Hey, danke. Das ist mir eine große Hilfe. Das Studium ist nicht billig.«
»Gern geschehen. Danke für die Fahrt.«
»Wenn Sie wieder ein Taxi brauchen, fordern Sie mich an, okay?«
»Wenn ich ein Taxi oder einen Wetterbericht brauche, rufe ich Sie.«
Daniel strahlte. »Okay!«
Jack humpelte auf den Gartenzaun des Nachbarhauses zu, während Daniel davonbrauste und seine Räder auf dem nassen Asphalt zischten.
J
ack hörte Paul, bevor er ihn sah. Seine Zimmertür stand einen Spalt offen. Paul schnarchte wieder. Jack schlurfte den Gang hinunter, um nachzusehen. Paul lag auf dem Bett, die Arme weit gespreizt, den Mund offen, und Sabber lief ihm über die Wange.
Jack schüttelte schmunzelnd den Kopf und ging in sein Zimmer. Er war durchnässt, schmutzig, und alles tat ihm weh. Zeit für eine heiße Dusche.
Nur dass er verdammt müde war.
Mit letzter Kraft zog er die nassen Kleider aus und schlüpfte ins Bett. Er war im selben Moment weg, als sein schmerzender Kopf ins Kissen sank.