52
P
aul fühlte sich nicht gut.
Genau genommen fühlte er sich fürchterlich. Er hatte einen Brummschädel und ein flaues Gefühl im Magen. Er war schon im Bett gewesen, als Jack angerufen hatte. Jetzt schrie ihn der Wecker an.
Paul fühlte sich so elend, dass er dachte, er hätte sich eine Lungenentzündung eingefangen. Aber er begriff schnell, dass es der Bushmills war, der seinen Kopf in einen Schraubstock gespannt hatte und mit seinem Magen Karussell fuhr.
Er schloss die Augen. Wieder bekam er den Drehwurm. Innerhalb von Sekunden wurde ihm schwindelig, und sein Magen krampfte sich zusammen und drohte seinen Inhalt nach oben zu schicken. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und drückte sich in eine sitzende Position hoch.
Besser.
Aber noch nicht gut.
Tee. Der würde ihm jetzt guttun.
Kaffee. Schwarzer Kaffee.
Besser.
Er kratzte sich den dicken Bauch, stellte sich auf zittrige Beine, wackelte die Füße in die Pantoffeln und machte sich auf in die Küche.
Auf dem Weg nach unten stützte er sich schwer auf das Treppengeländer, im Kopf ein heilloses Durcheinander. Wo war Jack die ganze Nacht gewesen? In dem Lagerhaus? Oder woanders? Aber das war ja nur das Neueste. Was war an dem Abend passiert, als er mit Lian Fairchild ausgegangen war? Offensichtlich hatte er eine Art tätliche Auseinandersetzung gehabt. Und er verhielt sich wie ein Mann, der so etwas gewohnt war, auch wenn er nie damit prahlte.
Wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte Jack schon an dem Tag, an dem sie Rhodes getroffen und den Auftrag bekommen hatten, so ausgesehen, als hätte er sich geprügelt. Er hätte schwören können, dass Jack ein blaues Auge gehabt und überschminkt hatte. Jacks Erklärung – er sei auf einer Wanderung im Urlaub gestürzt – war ihm schon damals komisch vorgekommen, doch er hatte nicht weiter darüber nachgedacht.
Er trat unbeholfen von der letzten Treppenstufe und tapste in Richtung Küche. Er war noch nie einem Finanzanalysten begegnet, der in so kurzer Zeit so oft in Schwierigkeiten geraten oder verletzt worden war. Jack verhielt sich mehr wie ein Agent als wie ein Wirtschaftsprüfer.
Paul blieb abrupt stehen. Ein Eisklumpen fuhr in seinem Magen herum, als wäre ihm der Boden unter seinen Füßen weggezogen worden.
Wurde er an der Nase herumgeführt?
Paul kratzte sich das schüttere, ungekämmte Haar. Jack? Ein Agent? Wenn ja, für wen?
Er ging zu dem Schrank mit dem Kaffee und den Filtern.
Wenn Jack bei der CIA
war, arbeitete er dann für Rhodes? Rhodes arbeitete mit Langley zusammen – und streng genommen er selbst ja auch, durch Rhodes. Aber warum hätte Rhodes ihm dann verschweigen sollen, dass Jack bei der CIA
war?
Er hätte es ihm gesagt, außer Jack war gar nicht bei der CIA
. Aber für wen arbeitete er dann? Die DIA
? Das Justizministerium? Das FBI
?
Paul löffelte schwarzen Sumatra-Kaffee in einen Filter und goss Wasser in die Kaffeemaschine.
Nein. Jack arbeitete für Hendley Associates. Das wusste er mit Bestimmtheit. Er stand nicht auf der Gehaltsliste der Regierung.
Aber das traf auch auf ihn selbst zu, und trotzdem arbeitete er für die CIA
.
»Oder?«, fragte sich Paul. »Für die CIA
. Hat jedenfalls Rhodes gesagt.«
Es sei denn, Rhodes log.
Und wenn Rhodes gar nicht für die CIA
arbeitete, was bedeutete das für ihn?
Paul schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. Ein Riesenfehler. Er spürte, wie sein Hirn gegen den Schädel schlug und seine Kopfschmerzen regelrecht explodierten.
Kaffee. Dann duschen. Dann nachdenken.
»In dieser Reihenfolge«, sagte er sich und sah zu, wie Dampf aus der schnaufenden Kaffeemaschine aufstieg.
»Und dann mit Jack reden.«
P
aul war angezogen und abfahrbereit, als Jack endlich die Treppe herunterkam und steifbeinig in die Küche humpelte. Paul glaubte, ein paar neue Schrammen in seinem Gesicht und an seinen Händen zu entdecken.
»In der Kanne ist heißer Kaffee«, sagte Paul. »Ich kann aber auch Tee machen.«
»Eine Tasse Kaffee genügt. Ich muss noch kurz unter die Dusche, dann können wir fahren.«
Paul goss ihm eine Tasse ein, schwarz wie Motoröl, aber weich wie Seide.
Paul fand, dass Jack ziemlich mitgenommen aussah. Schlimmer, als er ihn in Erinnerung hatte. Seine Hand war dick geschwollen, die Fingerknöchel gerötet. Er sah aus, als hätte er in der Nacht mit einem Bären gerungen.
»Geht es Ihnen gut?«
Jack zuckte mit den Schultern. »Ja, bestens. Wenn man bedenkt.«
»Wenn man was bedenkt?«
Jack schüttelte den Kopf und rieb sich das Gesicht. »Ach, scheiße. Ich habe ganz vergessen, es Ihnen zu sagen. Ich bin letzte Nacht in einen Unfall mit Fahrerflucht verwickelt worden.«
Vergessen, mir zu sagen? Das ist doch Schwachsinn.
Paul schluckte seinen Ärger hinunter. »Wo? Wann?«
»Am anderen Ende der Stadt. Als ich das Lagerhaus überprüft habe, über das wir gesprochen haben – beziehungsweise ein anderes.«
»Sie müssen zum Arzt.«
»Nein. Nur ein paar Schrammen. Der Airbag hat mich hart getroffen, als der Laster mir hinten reingefahren ist. Ich habe ganz schön was abgekriegt. Ich glaube, ich bin sogar kurz ohnmächtig gewesen.«
Paul runzelte besorgt die Stirn. »Sie sollten wirklich zu einem Arzt.«
»Nicht hier.« Jack trank einen Schluck Kaffee. »Vielleicht, wenn ich wieder zu Hause bin.«
»Haben Sie deshalb ein blaues Auge?«
»Was?« Jack drehte sich um und suchte die Arbeitsplatte ab. Er fand den silberglänzenden Toaster, hob ihn hoch und betrachtete sein Gesicht darin wie in einem Spiegel. Es war ein kleines Hämatom an fast genau derselben Stelle wie das, das er sich an der Nordsee geholt hatte, als er mit dem Kopf gegen die Stahlleiter gestoßen war. War es dasselbe? Oder ein neues? Oder war das alte noch schlimmer geworden? Er hatte keine Ahnung.
»Ja, vermutlich.«
»Irgendeine Ahnung, wer Ihnen reingefahren ist?«
»Nein.«
»Haben Sie das Kennzeichen des Lasters?«
Jack log. »Nein.«
»Ich vermute, der Audi TT hat Totalschaden. Ein Jammer. Er war ein cooles Gefährt.«
Jack schüttelte den Kopf. »Ich war nicht im Audi unterwegs.«
»Ach?«
»Ich hatte mir von Dalfan einen Lieferwagen geliehen.«
»Wieso denn?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Wir haben Zeit.«
»Nein, haben wir nicht. Es ist schon fast zehn. Ich muss duschen, und dann müssen wir los.« Jack trank den restlichen Kaffee und stellte die Tasse in die Edelstahlspüle.
Pauls Augen verengten sich wegen der Abfuhr.
Jack drehte sich um und kratzte sich am Stoppelbart. »Ich würde Sie gern was fragen.«
»Nur zu.«
»Es geht um die Datei, die Sie gefunden haben, mit der Bezeichnung ›QC‹. Haben Sie eine Kopie heruntergeladen?«
»Nein. Daran habe ich nicht gedacht. Warum?«
Jack sah ihn säuerlich an. »Warum nicht?«
»Schlicht vergessen. Warum?«
»Ich glaube, dass es bei Dalfan ein Problem gibt, und ich fürchte, dass diese Datei der einzige Beweis ist, den wir haben.«
»Okay. Wir ziehen eine Kopie, wenn wir im Büro sind.«
Jack rieb sich den schmerzenden Nacken. »Gibt es hier Tylenol?«
»In der dritten Schublade links ist Ibuprofen.«
»Danke.« Jack zog die Schublade auf, öffnete das Fläschchen und warf sich ein paar Pillen in den Mund. Er beugte sich über die Spüle, trank ein paar große Schlucke Wasser direkt aus dem Hahn und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
»Sie sollten zum Arzt«, sagte Paul.
»Sie wiederholen sich.«
Paul rang sich ein Lächeln ab. »Schon verstanden.«
»Jetzt ab unter die Dusche.« Jack schleppte sich unter Schmerzen zur Treppe.
»Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts fehlt?«
»Mir ist es nie besser gegangen«, rief Jack über die Schulter.
Paul schaute ihm nach, alles andere als sicher, ob er ihm noch trauen konnte, vor allem in puncto Wahrheit.
J
ack blickte auf die Dampfwolke, die aus der Dusche quoll, und seine schmerzenden Muskeln bettelten darum, hineinzudürfen. Doch plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er wegen des Kennzeichens des Lasters Gavin kontaktieren sollte. Wahrscheinlich eine Sackgasse, trotzdem musste es überprüft werden.
Er ging zur Kommode und ergriff sein Telefon. Er war jetzt nicht in der Stimmung, mit Gavin zu verhandeln, deshalb entschied er sich für eine SMS
. Es war ohnehin schon spät.
Er tippte den Teil des Kennzeichens ein, an den er sich noch erinnerte: SAM 00
. Er wollte die Nachricht losschicken, doch sein wunder Daumen zögerte. War das wirklich das Kennzeichen?
Nein.
Er wusste nicht, woher er das hatte. Das Lkw-Kennzeichen war sechsstellig gewesen, daran erinnerte er sich genau. Er sah das hintere Nummernschild vor seinem geistigen Auge, als der Laster vom Unfallort flüchtete. Ja. Die Nummer begann mit einem X. Er war sich ganz sicher. Und dann sah er den Rest.
Er lächelte in sich hinein, froh, dass sein Gehirn wieder zu normalem Niveau zurückfand. Er löschte SAM 00 und tippte die korrekte Nummer ein. Er klickte auf »Senden« und schlüpfte unter die Dusche. Vielleicht machte Gavin ja das Unmögliche wahr und fand den Laster.
P
aul hörte die Dusche oben angehen, als er sich mit einer Tasse heißen Kaffees an den Tisch setzte, seinen Laptop aufklappte und seine Mails checkte. Er überlegte, ob er an seinem anderen Projekt für Hendley Associates weiterarbeiten sollte, doch im Moment war er zu abgelenkt. Es war zu viel los, es stand zu viel auf dem Spiel.
Und die Kopfschmerzen wollten einfach nicht vergehen.
Rhodes’ scharfe Zurechtweisung klang ihm noch in den Ohren. Bis heute Mitternacht hatte er Zeit, den Dalfan-Verschlüsselungscode abzugreifen, auf den CIA
-Stick zu laden und dann das CIA
-Programm auf einem Dalfan-Rechner zu installieren, ohne dass Bai oder sonst jemand etwas merkte. Außerdem musste er einen Weg finden, wie er den CIA
-Stick durch die Sicherheitskontrolle der Firma schmuggeln konnte. Zeit hatte er reichlich. Er brauchte nur eine Gelegenheit.
Er konnte nur hoffen, dass das CIA
-Programm keine Spuren hinterließ. Wenn doch, würden die IT-Leute von Dalfan den Upload direkt zu seinem Stick zurückverfolgen können – auch das gehörte zum Sicherheitssystem. Er könnte seine Täterschaft nicht glaubhaft bestreiten und beispielsweise behaupten, ein Dritter hätte ihm den Stick gestohlen und zweckentfremdet, denn der Stick war mit seinem Daumenabdruck biometrisch verschlüsselt, sodass nur er ihn benutzen konnte. Dass Rhodes ihn hochgehen lassen wollte, bezweifelte er. Was hätten er oder die CIA
davon, wenn man ihn für den Upload verantwortlich machte?
Nein, Rhodes würde es nicht riskieren, in einen solchen Skandal verwickelt zu werden. Immerhin saß er im Vorstand von Marin Aerospace. Er konnte alles verlieren, wenn er mit einem Fall von Industriespionage in Verbindung gebracht wurde. Außerdem war Rhodes ein eitler und arroganter Arsch. Wenn er, Paul, erwischt wurde und Rhodes belastete, würde das Langley als Versagen werten und nie wieder seine Dienste in Anspruch nehmen. Rhodes hatte größtes Interesse daran, dass Paul Erfolg hatte, daran bestand kein Zweifel. Das war wahrscheinlich auch der Grund für sein rüdes Benehmen letzte Nacht. Der Mann hatte allen Grund, sich Sorgen zu machen. Für ihn stand viel auf dem Spiel. Und wenn viel auf dem Spiel stand, tat Rhodes, was jede in die Ecke getriebene Ratte tat – er zeigte die Zähne.
Paul nahm noch einen Schluck Kaffee. Das Bild eines zornigen und ängstlichen Rhodes weckte eine Erinnerung aus einer Zeit, als der Senator und er noch viel jünger gewesen waren. Eine Erinnerung, die Paul nur selten an die Oberfläche kommen ließ.
Eine Erinnerung, die zu schrecklich war, um sie zu vergessen.