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Singapur
J
ack verließ Lian, entschlossener denn je, die verschwundene QC-Datei zu finden – und die Person, die ihn vergangene Nacht hatte umbringen lassen wollen. Seine Gedanken überschlugen sich, als er den Aufzugknopf drückte. Paul musste für ihn seine magischen, forensischen Kräfte spielen lassen. Vielleicht fand er einen Hinweis darauf, wann die Datei gelöscht worden war – dann ließe sich bestimmen, wann sie kopiert und auf einer Festplatte abgelegt worden war. Wenn sie das herausfanden, konnten sie vielleicht auch Zugang zu Computerprotokollen bekommen und ermitteln, welcher Computer benutzt worden war – sofern nicht auch die Protokolle gelöscht worden waren.
Die Aufzugtür ging auf. Jack stieg ein und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss. Er versuchte, die Sache von allen Seiten zu betrachten. Wenn er wüsste, welcher Computer benutzt worden war und wann, könnte er herausbekommen, wer ihn benutzt hatte, nur wie, wenn alle Überwachungsvideos und Computerprotokolle der letzten vierundzwanzig Stunden gelöscht worden waren?
Wer immer Jacks Spuren verwischt hatte, er hatte eigentlich seine eigenen verwischt. Aber warum? Es gab nur einen plausiblen Grund: Hätte die Polizei Jack aufs Revier gebracht, hätte sie möglicherweise angefangen, seine Schritte zurückzuverfolgen, und sich veranlasst gesehen, nach den Tätern und ihren Motiven zu forschen.
Jack steckte das Telefon ein und wandte sich wieder dem Hauptproblem zu: wie diese Datei finden?
Wenn Paul recht hatte und die Daten tatsächlich gespeichert worden waren, dann wahrscheinlich auf einem USB
-Stick, denn das war am einfachsten.
Bei seiner Sicherheitseinweisung hatte es geheißen, dass nur Dalfan-Mitarbeiter mit Dalfan-USB
-Sticks, die jeweils nur auf eine Person zugelassen waren, Daten von den Rechnern herunterladen durften. Wenn Lian wirklich nicht hinter dem Verschwinden der Datei steckte, dann konnte er sie vielleicht dazu bewegen, alle Dalfan-Sticks einzuziehen und darauf nach der Datei zu suchen – oder zumindest nach Spuren von ihr, falls sie inzwischen auf ein anderes Medium übertragen worden war. Wenn sie den USB
-Stick fanden, der für den Kopiervorgang benutzt worden war, hatten sie den Schuldigen. Die Sache war ziemlich aussichtslos, aber ihm fiel nichts Besseres ein.
Die Aufzugtür glitt auf, und Jack schlug den Weg zu seinem Büro ein. Er nickte der Empfangsdame am Security Desk zu, die hektisch in ihren Rechner tippte. Er winkte mit seinem Ausweis und passierte die Sicherheitstür.
Jack fiel auf, dass die Hälfte der Arbeitsplätze und Büros im Hauptarbeitsbereich leer war. Er kam an mehreren Angestellten vorbei, die ihre Sachen zusammenpackten und gingen. Er vermutete, dass Mittagspause war.
Er strich mit der Sicherheitskarte über das Lesegerät an der letzten Tür, sah aber schon durch die Glaswände, dass Paul nicht in seinem Büro war. Er ging trotzdem hinein und sah sich um. Er entdeckte weder Pauls Jacke noch seine Laptoptasche. Er drehte sich um. Auch Yong war nicht in seinem Büro. Und sein junger Aufpasser Bai auch nicht.
Jack ging zurück, das Erdgeschoss war nun weitgehend leer. Er näherte sich der Empfangsdame, die gerade ihren Regenmantel anzog. Ihr Computer war ausgeschaltet.
»Ist mir etwas entgangen?«, fragte Jack.
»Haben Sie es nicht gehört? Taifun Eme ist auf dem Weg hierher. Wir sind aufgefordert worden, nach Hause zu gehen und Vorkehrungen zu treffen.«
»Wann wird er hier sein?«
»Morgen. In den Nachrichten sagen sie, dass er wahrscheinlich nicht bis zu uns kommt, aber schlechter wird das Wetter auf jeden Fall.« Sie ergriff ihre Handtasche.
»Ich suche Mr. Brown, meinen Kollegen. Haben Sie ihn gesehen?«
Sie raffte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und streifte ein Gummi darüber. »Er hat mich gebeten, ihm ein Taxi zu rufen. Anscheinend fühlte er sich nicht wohl.«
»Hat er gesagt, wo er hinwollte?«
»Nein, aber vermutlich nach Hause.« Sie setzte einen Regenhut auf. »Tut mir leid, aber ich muss los. Wünschen Sie noch etwas?«
»Nein, danke. Seien Sie vorsichtig.«
»Sie auch, Mr. Ryan. Suchen Sie höheres Gelände auf und bleiben Sie von den Straßen weg.« Sie wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne. »Ich hoffe, dass es Mr. Brown bald wieder besser geht. Bitte richten Sie ihm das aus.«
»Das werde ich, danke.«
Sie eilte in Gummistiefeln zum Vordereingang.
Jack kehrte in sein Büro zurück und packte ebenfalls seine Sachen zusammen. Es ergab ja keinen Sinn, zusammen mit dem Schiff unterzugehen – jedenfalls nicht mit diesem.
Außerdem musste er Paul finden.
Als er seinen Regenmantel anzog, fiel ihm auf, dass er einer der Letzten auf der Etage war. Einen Moment lang zog er ernsthaft in Erwägung, Yongs Büro zu durchsuchen, vielleicht sogar die von Lian und Dr. Fairchild. Jetzt, wo er den Laden ganz für sich hatte, wäre es die ideale Gelegenheit. Aber die Überwachungskameras funktionierten noch, und Lians Sicherheitsleute waren wahrscheinlich noch auf dem Gelände, auch wenn sich keiner mehr auf dieser Etage aufhielt. Und was wollte er überhaupt finden? Paul war der Schlüssel.
Er musste Paul finden.
D
er Verkehr war noch schlimmer als bei der Herfahrt, und Jack fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, zu Fuß nach Hause zu gehen. Oder zu schwimmen.
Die Empfangsdame hatte recht gehabt. Laut einem BBC-Bericht, den er im Wagen hörte, war Taifun Ema mittlerweile ein Tropensturm der Kategorie 2 und zog von der Javasee nach Norden in Richtung Singapur, würde aber bei seiner momentanen Geschwindigkeit nicht vor drei Uhr morgens auf Land treffen.
»Wie jedoch ein Sprecher vom indonesischen Amt für Meteorologie, Klimatologie und Geophysik erklärte, hätten die Computermodelle bislang falschgelegen und es wäre ebenso möglich, dass der Sturm seinen Westkurs fortsetze. Dr. Paolo Pratesh von der Universität Melbourne behauptet, dass der globale Klimawandel verheerende Auswirkungen auf Meerestemperaturen habe und für das unberechenbare Verhalten von Stürmen wie Taifun Ema verantwortlich sei, und fordert die Einberufung eines Klimakrisengipfels, der sich mit der vom Menschen verursachten Erderwärmung beschäftigt.«
Jack schaltete das Radio aus. Warum musste alles immer politisch werden? Er schob seinen Ärger beiseite und konzentrierte sich auf den Verkehr vor ihm. Der Wasserspiegel auf der Straße war in den letzten Stunden mit Sicherheit gestiegen und reichte bei den meisten Autos um ihn herum bis zu den Felgen. Kein Grund zur Sorge, aber ihm war klar, dass Unterführungen und andere tiefliegende Straßenabschnitte möglicherweise unbefahrbar wurden. Aber zwischen hier und dem Gästehaus erwartete ihn keine solche Gefahrenstelle. Er war froh, dass er in der Nähe wohnte und nicht in dem Hotel am anderen Ende der Stadt, in dem sie Zimmer reserviert hatten.
Durch die Windschutzscheibe beobachtete er ein Passagierflugzeug, das beim Anflug auf den Flughafen Changi mit starkem Seitenwind zu kämpfen hatte. Er fragte sich, wann sie den Flughafen schließen und alle Flüge streichen würden. Laut BBC-Nachrichten musste bis morgen früh mit Windböen bis zu 125 Stundenkilometern gerechnet werden – da konnte kein Flugzeug fliegen. Wenn er sah, wie sich die Bäume im Wind bogen, wunderte er sich, dass überhaupt noch welche in der Luft waren.
I
n der Einfahrt stand das Wasser mehrere Zentimeter hoch, als er endlich im Gästehaus ankam. Mit platschenden Schritten lief er zur Haustür und schloss auf, nachdem er eine Weile mit dem Schlüssel herumgefummelt hatte. Er trat in den gefliesten Flur, schüttelte seinen Regenmantel aus und hängte ihn auf. Er überlegte, ob er nach Paul rufen sollte, aber wenn ihm unwohl war, schlief er vielleicht, und Jack wollte ihn nicht wecken. Paul hatte am Morgen etwas mitgenommen gewirkt. Vermutlich wieder ein Kater. Aber vielleicht lag er auch falsch, und Paul hatte sich etwas eingefangen.
Jack zog die nassen Schuhe aus und ging nach oben, nicht gerade im Laufschritt, aber auch nicht mehr humpelnd. Er war immer noch ungelenk und hatte überall Schmerzen, und er nahm sich vor, nachher in der Küche noch ein paar Ibuprofen einzuwerfen.
Er ging durch den Flur zu Pauls Zimmer. Die Tür stand offen. Das Bett war gemacht und das Zimmer leer.
Kein Paul.
Er lief nach unten in die Küche und rief: »Hey, Paul! Sind Sie da?«, während er die Schublade mit dem Ibuprofen aufriss. Er schob sich ein paar Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser aus dem Hahn hinunter.
»Paul?« Keine Antwort.
Wo zum Teufel steckte er?