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»H
ey, Gerry.«
»Sagen Sie nicht ›Hey, Gerry‹ zu mir. In was zum Teufel sind Sie reingeraten?«
Gute Frage,
dachte Jack. »Sie sagten, ich soll hierher kommen und gegen die Reifen treten. Ich habe das Gefühl, dass die Reifen zurücktreten.«
»Und was ist das mit Paul … er ist verschwunden?«
»Ja, er ist nicht hier, und er hat sein Telefon nicht bei sich.«
»Sie glauben, dass er in Schwierigkeiten ist?«
Jack ließ den Blick über die demolierte Einrichtung gleiten. »Schwer zu sagen«, log er. »Aber es sieht ihm nicht ähnlich, dass er sein Telefon zurücklässt und mir nicht sagt, wo er hingeht.«
»Soll ich Dom und Midas zur Unterstützung rüberschicken?«
»Das würde nichts bringen. Sie wären mindestens vierundzwanzig Stunden unterwegs und könnten nicht mehr tun als Gavin und ich. Außerdem wird der Flughafen schließen, bis der Sturm vorüber ist.«
»Wir wollen die singapurische Polizei auf keinen Fall einschalten, wenn es sich vermeiden lässt. Und Senator Rhodes möchte, dass wir uns möglichst unauffällig verhalten. Aber Pauls Sicherheit ist wichtiger als der Auftrag.«
»Ganz meine Meinung. Trotzdem glaube ich, dass es für Unterstützung noch zu früh ist.«
»Ich werde Mary Pat Foley anrufen. Sie hat Ressourcen in Ihrer Nähe.«
Jack biss sich auf die Zähne. Gerry bauschte die Sache auf. Der CIA
-Stationschef saß am anderen Ende der Stadt in der US-Botschaft, und Jack war überzeugt, dass er und seine Leute angesichts der umfangreichen Aktivität der Chinesen in Singapur alle Hände voll zu tun hatten. Er störte sie nur höchst ungern bei der Arbeit, wenn er das Problem selbst lösen konnte. Außerdem musste er Gerry beweisen, dass er selbst damit fertigwurde. Er erinnerte sich noch an den scharfen Rüffel, den er nach dem Scheitern der Prager Mission von Gerry bekommen hatte, und hegte bereits den Verdacht, dass Gerry ihn bei diesem Auftrag am liebsten kaltstellen würde. Seine Zukunft beim Campus geriet in Gefahr, wenn Gerry zu der Ansicht gelangte, dass er auch einen »offiziellen« Auftrag nicht auf die Reihe kriegte.
»Geben Sie mir eine Stunde, bevor Sie den Anruf tätigen, Gerry. Ich habe eine Spur, der Gavin und ich nachgehen können. Wenn nichts dabei herauskommt, können wir immer noch die Kavallerie rufen.«
»Sie sind der Mann vor Ort. Es ist Ihre Entscheidung. Aber was immer Sie tun, finden Sie Paul.«
»Ja, Sir.«
»Ich übergebe jetzt wieder an Gavin. Halten Sie mich auf dem Laufenden.« Gerry klickte sich aus der Leitung.
»Gavin?«, fragte Jack.
»Ja, Jack?«
»Was zum Teufel sollte das?«
Jacks Ton ließ Gavin zusammenzucken. »Tut mir leid. Ich habe mir Sorgen um Paul gemacht.«
»Was hast du ihm noch erzählt?«
»Du meinst, über die chinesischen Spione und das alles? Nichts. Ich habe nur gesagt, dass Paul verschwunden ist.«
»Können wir dann wieder an die Arbeit gehen?«
»Schieß los.«
»Vielleicht ist es nur ein Schuss in den Ofen. Ich habe wieder einen Teil eines Kennzeichens für dich. Von einem Toyota-Minivan. Wahrscheinlich gemietet, aber vielleicht auch nicht. Die ersten drei Buchstaben sind S, A, M und die ersten beiden Ziffern 00.«
»Singapurer Kennzeichen haben drei Buchstaben und eine Ziffernfolge. Dürfte nicht schwer zu finden sein.«
»Ruf mich an, sobald du was hast.«
»Okay.«
»Aber nicht Gerry, den Papst oder den Präsidenten der San Diego Comic-Con. Du rufst mich an. Verstanden?«
»Absolut.« Gavin legte auf.
Jack steckte sein Telefon ein und eilte in der Hoffnung, einen Anhaltspunkt zu finden, in Pauls Zimmer.
J
ack suchte in Pauls Zimmer nach Hinweisen, aber er hatte keine Ahnung, was er zu finden hoffte. Er riss Schubladen und Schranktüren auf. Alle Kleidungsstücke waren sauber gestapelt und ordentlich aufgehängt. Keine versteckten Geräte, keine Zettel mit Lösegeldforderungen, keine blutigen Handtücher, keine KGB
-Abzeichen.
Mist.
Dann fiel ihm der Vorfall mit dem USB
-Stick im Badezimmer ein, nachdem die singapurische Polizei ihre Wohnung auf den Kopf gestellt hatte. Paul hatte zwar das Gegenteil behauptet, doch Jack hatte genau gesehen, wie er den Stick aus der Duschvorhangstange gezogen hatte. Eigentlich hatte es ihn nicht interessiert, warum Paul das getan hatte und warum ihm der Stick so wichtig war, dass er ihn versteckt und seinetwegen gelogen hatte. Paul hatte so harmlos gewirkt und nicht wie einer, der Dinge tat, die er nicht tun sollte.
Offensichtlich hatte er sich in ihm geirrt.
Jack hängte die Vorhangstange aus, entfernte die Kappen an beiden Enden und spähte hinein. Soweit er erkennen konnte, steckte nichts in dem Hohlraum. Er hielt die Stange schräg, sodass der USB
-Stick, oder was immer Paul darin versteckt haben mochte, herausfallen musste.
Das Telefon in seiner Tasche klingelte. Er warf die Stange auf den Boden und nahm den Anruf entgegen.
»Das war schnell, Gav, selbst für dich.«
»Danke mir noch nicht. Die Sache ist schwierig, aber ich glaube, ich habe den Wagen gefunden. Er gehört einem lokalen Autoverleih und wurde für zwei Wochen an einen gewissen V. Levski vermietet, mit einer Firmenanschrift in Sofia, Bulgarien.«
»Bulgarien? Das verstehe ich nicht.« Jack fragte sich, ob der Türke, den er bei dem Blonden gesehen hatte, in Wirklichkeit Bulgare war.
»Ich schicke dir eine SMS
mit den GPS
-Koordinaten vom Standort des Wagens.«
»Wie hast du ihn gefunden?« Jacks Telefon klingelte, als die SMS
eintraf.
»Die Firewall der Autovermietung ist ein Schweizer Käse. Ich hatte null Probleme, mich in ihren GPS
-Locator zu hacken. Tut mir leid, aber mehr habe ich nicht. Wahrscheinlich vergebliche Liebesmüh.«
»Es ist ein Hinweis, Gav. Ich melde mich wieder.«
Jack beendete das Gespräch und stürzte die Treppe hinunter. Er betete, dass es mehr als ein Hinweis war. Er erinnerte sich an Pauls Telefon und pflückte es von der Arbeitsplatte in der Küche. Ein Meldungsfeld zeigte an, dass Paul drei Anrufe und eine Voice-Mail von Senator Rhodes verpasst hatte. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Er steckte das Telefon ein, stieg in seine durchnässten Schuhe und flitzte zu dem Audi TT, der in der Einfahrt parkte.
W
ar der Verkehr vorher schon schlimm gewesen, so war er jetzt die reine Hölle. Jack war von plärrenden Hupen und roten Bremslichtern umgeben. Der Regen trommelte auf den Audi wie ein Schlagzeuger, der auf Crack war. Die Wischerblätter kamen nicht mehr nach. Die Wassermassen verteilten sich so schnell wieder auf der Windschutzscheibe, wie die Wischer sie beiseiteschoben.
Jack brauchte zwanzig Minuten für einhundert Meter auf dem dreispurigen Pan Island Expressway. Er nutzte die Zwangspause, um eine alternative Route über Nebenstraßen zu planen und so der Blechlawine von Autos zu entgehen, die höheres Gelände zu gewinnen suchten. Zum Glück hatte er es nicht allzu weit.
Er bog in die nächste Seitenstraße ab und ließ sich von der Frauenstimme des Navis den restlichen Weg weisen, der vom Gästehaus ziemlich genau nach Westen führte. An einem Tag mit normalem Verkehr hätte er für die Fahrt nicht mehr als fünfzehn Minuten gebraucht.
Etwa fünf Minuten vor dem Ziel klingelte sein Telefon. Die angezeigte Anrufer-ID lautete sen.rhodes.
Merkwürdig.
Er nahm den Anruf über die Bluetooth-Freisprechanlage des Audis entgegen. »Senator Rhodes. Was kann ich für Sie tun?«
»Jack, ich versuche Paul zu erreichen. Ist er bei Ihnen?«
»Nein. Ich bin selbst auf der Suche nach ihm. Gibt es ein Problem?« Der trommelnde Regen und die rubbelnden Scheibenwischer produzierten im Fahrgastraum des Audis einen ohrenbetäubenden Lärm.
»Ich wollte Sie gerade dasselbe fragen. Mein Gott, das hört sich ja so an, als wären Sie in einer Maschinenfabrik.«
»So was in der Art.«
»Paul sollte mich heute Abend anrufen. Ich habe ihn auf seinem Telefon angerufen, aber er geht nicht ran. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
»Warum?«
»Sie wissen es vielleicht nicht, aber Paul hat ein Alkoholproblem. Er behauptet zwar, er habe es unter Kontrolle, aber das sagt jeder Trinker.«
Jack biss sich auf die Zähne. Es ärgerte ihn, dass Rhodes Paul einen Trinker nannte, auch wenn es zutraf. »Wissen Sie, dass gestern sein Hochzeitstag war?«
»Ach so, natürlich. Hatte ich ganz vergessen. Das ist ihm wahrscheinlich nahegegangen. Ich muss sofort mit ihm sprechen.«
»Ich sag es ihm, wenn ich ihn gefunden habe.« Es folgte eine lange Pause am anderen Ende. »Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen, Senator?«
»Jack«, kam die Antwort, »ich fürchte, Paul steckt in der Klemme.«
»Wieso?«
»Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären. Sagen wir einfach, ich habe ihn um einen Gefallen gebeten. Wenn er die Sache nicht bis Mitternacht erledigt, gibt es Ärger.«
»Was für Ärger?«
»Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie ihn gefunden haben, ja? Es ist äußerst dringend.« Rhodes legte auf.
Jack schüttelte den Kopf. Was zum Teufel hatte das nun wieder zu bedeuten?