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Sofia, Bulgarien
1985
R hodes eilte die Kellertreppe hinunter zu dem Sicherheitsspind. Er drehte den Schlüssel im Schloss, bis es klick machte, dann zog er die Stahltür auf. Die einzigen Schlüssel, die an dem Brett hingen, waren für den alten Lada, einen untermotorisierten Vierzylinder mit schleifender Kupplung und dem Sex-Appeal eines Plumpsklos. Aber er war unverdächtig, weil aus einheimischer Produktion, und zudem der einzige Wagen, der ihm zur Verfügung stand. Das Problem war nur, dass er nur höchst ungern mit Schaltung fuhr und darüber hinaus auf die Straßenkarte angewiesen war. Er brauchte einen Fahrer.
Rhodes kratzte sich am Kopf, sann über seine begrenzten Möglichkeiten und den Umstand nach, dass ihm die Zeit davonlief. Da fiel sein Blick auf den Lichtschein unter der Tür am Ende des Flurs. Er lief hin. Auf dem Schild an der Tür stand PAUL BROWN und FORENSISCHE BUCHPRÜFUNG . Er kannte den Namen nicht. Die Tür war nur angelehnt. Er stieß sie weiter auf.
Der Raum war nicht viel größer als eine Besenkammer – und war tatsächlich mal eine gewesen, wie ihm in diesem Moment wieder einfiel. Ein schwergewichtiger Mann saß über einen Stapel Geschäftsbücher gebeugt, kritzelte Notizen auf einen gelben Block und quetschte mit der anderen Hand eine Fingerhantel.
»Entschuldigen Sie, Paul«, begann Rhodes.
Paul zuckte zusammen und schwenkte in seinem Bürostuhl herum. »Gott, haben Sie mich erschreckt. Normalerweise ist um diese Zeit keiner mehr hier außer den Marines.«
Rhodes trat selbstbewusst in den Raum und streckte dem anderen die Hand hin. »Sie sind Paul Brown, nicht wahr? Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht an mich. Ich glaube, wir sind uns vor einiger Zeit bei einem Botschaftsempfang begegnet. Ich heiße Weston Rhodes.«
Paul stand auf und drückte ihm die Hand, jetzt noch verdutzter, weil Weston Rhodes, der berühmte Spion, seinen Namen kannte. Beinahe hätte er seine dampfende Tasse Tee umgestoßen. »Jeder kennt Sie, Mr. Rhodes. Es ist mir eine Ehre …«
Rhodes tat das Kompliment mit einer Handbewegung ab. »Unsinn. Wir haben alle unsere Rolle zu spielen, nicht wahr? Aber wo wir gerade davon sprechen: Sie sind im Moment sehr beschäftigt?«
Paul drehte sich in dem kleinen Büro herum und ließ den Blick über Stapel von Geschäftsbüchern, Notizblöcke, Pappkartons, eine Schreibmaschine, einen PC, einen Nadeldrucker, Tabellen und alles andere gleiten, das er für seine derzeitige forensische Untersuchung brauchte.
»Eigentlich nicht. Was kann ich für Sie tun?«
»Können Sie ein Auto ohne Automatik fahren?«
»Jeder Bauernjunge in Iowa kann das. Wieso?«
»Ich habe ein kleines Problem und brauche Ihre Hilfe.«
»Ganz zu Ihren Diensten.«
R hodes brachte sie durch die wenigen Kontrollpunkte, auf die sie bei der Fahrt aus der Stadt stießen, indem er dicke Bündel mit Lew-Scheinen unter den bulgarischen Polizisten verteilte, die zwar reizbar und übellaunig wie immer waren, sie aber trotzdem durchwinkten, sobald das Geld in ihren Jackentaschen verschwunden war.
Paul saß steif auf dem kaputten Fahrersitz und krallte sich an das Lenkrad wie an einen Rettungsring, auch noch als sie aus der Stadt heraus waren.
»Sie können sich entspannen, jetzt kommt der einfache Teil«, sagte Rhodes, nahm einen Schluck aus einem Flachmann und hielt ihn Paul hin.
»Nein, danke. Das Zeug rühr ich nicht an.«
»Beruhigt aber die Nerven«, erwiderte Rhodes, trank noch einen Schluck und schraubte den Flachmann wieder zu.
»Machen Sie so was ständig?«
»Ach, wissen Sie, ›wenn die Pflicht ruft‹ und so weiter.«
»Ich glaube, die Buchprüferei ist mehr nach meinem Geschmack.«
»Ich würde mir die Kugel geben, wenn ich den ganzen Tag in einem Büro sitzen müsste.«
»Das ist gar nicht so übel. Zahlen sind interessant. Sie erzählen Geschichten …«
»Ja, davon bin ich überzeugt. Lassen Sie mich einen Blick in die Karte werfen.«
Im Verlauf der nächsten Stunde versuchte Paul, seine Nervosität wegzureden, aber Rhodes ging nicht auf ihn ein. Er zündete sich eine Zigarette an und qualmte den Wagen voll. Paul wedelte sich ständig mit der Hand vor dem Gesicht herum und kurbelte trotz der kalten Nachtluft sogar sein Fenster herunter, aber Rhodes scherte sich nicht darum und rauchte eine nach der anderen.
Der Lada folgte schnaufend und ächzend der zweispurigen Straße, die sich eine Steigung hinaufwand und in waldreiches Agrarland führte. Paul wurde zapplig. Er hatte vergessen, vor der Abfahrt in der Botschaft auf die Toilette zu gehen, und die drei Tassen Tee drückten auf seine Blase.
»Fahren Sie langsamer, ich glaube, wir sind gleich da«, sagte Rhodes mit einem Blick in die Karte. »Da, die nächste Abzweigung.«
Paul drosselte das Tempo so stark, dass der Wagen fast zum Stehen kam, und bog in einen zerfurchten Feldweg ein.
»Schalten Sie das Licht aus.«
»Okay.«
Im ersten Gang rumpelten sie eine Viertelstunde lang im Dunkeln durch die Furchen weiter.
»Halten Sie hier«, sagte Rhodes. »Sehen Sie es?«
Paul spähte durch die trübe Windschutzscheibe. Auf einer Lichtung einen halben Kilometer entfernt stand ein einfaches, kleines Bauernhaus, in dessen Fenstern ein paar Lichter brannten. Davor parkte ein schwarzer ZIL-117 , die sowjetische Version einer viertürigen Luxuslimousine.
»Das ist Zvezdev.« Rhodes sah auf seine Uhr. »Hervorragend. Wir sind zehn Minuten zu früh.« Er sah sich nach allen Seiten um. »Niemand ist uns gefolgt, und hier sehe ich keinen Menschen.«
»Das ist gut, richtig?«
»Eigentlich dürfen nur ich, Zvezdev und der Mann hier sein, den wir abholen.«
»Und was ist mit mir?«
»Sie dürften eigentlich nicht hier sein. Mir wurde gesagt, dass ich allein kommen soll.« Rhodes grinste und klopfte Paul auf die Schulter. »Ich tue nicht immer, was man mir sagt.«
Paul nickte. »Wo soll ich parken?«
Rhodes deutete vom Bauernhaus weg. »Da drüben bei den Bäumen. Lassen Sie das Licht aus.«
P aul parkte hinter zwei dicken Kiefern und stellte den Motor ab. Rhodes griff in eine Jackentasche und reichte Paul eine Pistole.
»Können Sie damit umgehen?«
»Mein Vater war Polizist.« Paul wiegte die 9-mm-Makarow in der Hand, während Rhodes das Magazin seiner ausgewachsenen Beretta 92 überprüfte. »Wozu brauche ich die?«
»Wahrscheinlich zu gar nichts.« Rhodes nahm sie ihm wieder aus der Hand. »Wahrscheinlich würden Sie sich ohnehin nur selbst erschießen.« Rhodes ließ die Makarow wieder in der Tasche verschwinden und steckte die Beretta ins Holster zurück. »Bleiben Sie einfach im Wagen und verhalten Sie sich ruhig, bis ich wiederkomme. Es wird nur ein paar Minuten dauern. Verstanden?«
Paul nickte, immer noch zapplig.
Rhodes runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Ich werde startklar sein, wenn Sie wiederkommen.«
Rhodes klopfte Paul abermals auf die Schulter. »Guter Mann.« Er öffnete vorsichtig die Tür und schloss sie wieder behutsam, um jeden Lärm zu vermeiden.
Paul beobachtete, wie er den Weg zur Straße zwischen den Bäumen hindurch abkürzte und dann auf die Vordertür des Bauernhauses zuging. Rhodes klopfte, und die Gestalt eines Mannes erschien in der Türöffnung. Paul konnte aus dieser Entfernung nichts hören, aber offenbar war alles in Ordnung, denn die beiden gaben sich die Hand und verschwanden im Haus.
Paul kurbelte das Fenster herunter. Im Wagen war es stickig, und es stank nach kaltem Rauch. Seine Blase schrie. Er schaute sich wieder um. Nichts, nur die Bäume und das Säuseln des Winds, der über die Kiefernnadeln strich.
Er musste pinkeln.
Er zog vorsichtig an dem Griff und öffnete die Tür mit beiden Händen, um ein Quietschen zu verhindern, so wie es auch Rhodes getan hatte.
Auf der anderen Seite des Wagens war ein großes Gebüsch, nach einer Seite hin offen wie eine Marktbude. Er schritt eilig darauf zu und öffnete im Gehen seinen Reißverschluss.
Mitten in dem mannshohen Gebüsch blieb er stehen und ließ es laufen. Noch nie hatte ihm Pinkeln so gutgetan. Er ließ den Strahl zwischen den Blättern hin und her wandern, um das Plätschern auf ein Minimum zu reduzieren und eine Pfützenbildung zu vermeiden. Nur ein leises Geräusch war zu hören wie von raschelndem Laub. Bald war er fertig und schüttelte sich trocken.
Doch das Laub raschelte noch immer.
Er erstarrte.
Schritte im Wald, dazu hastiges Flüstern von Stimmen.
Er wartete, bis die Geräusche verklangen, dann trat er aus dem Gebüsch, ging hinter einem Baum in Deckung und spähte zum Bauernhaus.
Drei Männer bezogen vor dem Haus Stellung. Einer blickte vom Haus weg, den Fuß auf einem Holzklotz, in dem eine Axt steckte. Die beiden anderen traten mit gezückten Pistolen vorsichtig auf die Veranda und griffen nach der Tür.
Pauls Herz raste. Das mussten Zvezdevs Leute sein.
Es war eine Falle.
Rhodes war ein toter Mann.