WIR SIND TOTAL AM ARSCH.
Der verängstigten Miene von Grace nach zu urteilen, sieht sie das auch so. Ich möchte ihr sagen, dass alles gut wird, aber tatsächlich habe ich auch Angst. Nur nicht aus denselben Gründen wie sie, auch wenn ich noch nicht so weit bin, das zuzugeben.
Im Moment sitzt sie auf meiner Couch vor dem Feuer, das Haar nass von der Dusche und ihre Locken glänzen im flackernden Licht. Sie trägt eins meiner T-Shirts und eine von meinen Jogginghosen, die sie hochgerollt hat.
Sie hat noch nie schöner ausgesehen.
Oder schutzloser.
Panik droht mich bei diesem Gedanken zu überwältigen, obwohl ich mir sage, dass sie nicht annähernd so wehrlos ist, wie sie wirkt. Obwohl ich mir sage, dass sie mit allem zurechtkommt, was unsere verdammte Welt ihr entgegenstellt.
Mit allem, außer mit Cyrus.
Wenn ich eins über meinen Vater weiß, dann, dass er nie aufhört. Nicht, bis er hat, was er will, scheiß auf die Konsequenzen.
Bei diesem Gedanken gefriert mir das Blut.
Ich hatte in meinem ganzen elenden Leben nie vor etwas Angst – nicht vor dem Leben und definitiv nicht vor dem Sterben. Und dann kam Grace und jetzt lebe ich in ständiger Furcht.
Furcht davor, sie zu verlieren, und Furcht davor, dass sie dann das Licht mit sich nimmt. Ich weiß, wie es ist, in den Schatten zu leben – mein ganzes verflixtes Leben habe ich in der Dunkelheit verbracht.
Und dahin möchte ich nicht zurück.
»Soll ich …« Ich räuspere mich und fange noch mal an. »Soll ich dir was zu trinken holen?«, frage ich, aber Grace reagiert nicht. Ich bin nicht mal sicher, ob sie mich hört, denn sie starrt weiter auf ihr Telefon, möchte keine Nachricht zu Flint verpassen. Der Spezialist kam vor zehn Minuten zu ihm, und die Warterei auf die Information, ob das Bein gerettet werden kann, scheint endlos. Sie möchte bei ihm auf der Krankenstation sein – das möchten wir alle –, aber als er um etwas Privatsphäre bat, konnten wir nicht ablehnen. »Ja. Okay. Ich bin gleich wieder da«, sage ich, denn auch ich brauche jetzt dringend eine Dusche.
Sie antwortet immer noch nicht und ich frage mich, was sie wohl denkt. Was sie fühlt. Sie hat nicht mehr als ein paar Worte gesagt, seit wir zurück sind und feststellen mussten, dass Cyrus uns ausgetrickst und alle Schüler und Schülerinnen entführt hat, während wir auf der Insel gegen ihn kämpften. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich ihr helfen kann. Wie ich zu ihr durchdringen kann, bevor alles wieder zum Teufel geht.
Denn das wird es. Das beweisen Cyrus’ furchterregende neue Bündnisse. Ebenso wie die dreiste Entführung der Kinder der mächtigsten Paranormalen der Welt. Von hier an gibt es für ihn keinen anderen Weg, kann er nichts mehr tun, als alles zu zerstören.
Ich möchte Grace nicht allein in der Stille sitzen lassen, also gehe ich zu meiner Schallplattensammlung und blättere die Alben durch, bis meine Finger bei Nina Simone landen. Ich ziehe die Platte aus der Hülle und lege sie auf den Teller und warte, dass die Nadel vorschwingt und sich mit einem klaren statischen Knistern absenkt, dann ertönt Ninas Whiskystimme und erfüllt den leeren Raum. Ich passe die Lautstärke zu Hintergrundmusik an und mit einem letzten Blick auf Grace drehe ich mich um und gehe zum Badezimmer.
Ich nehme die schnellste Dusche der Geschichte, besonders angesichts der Menge an Blut, Ekelzeug und Tod, die ich wegspülen muss. Und fast genauso schnell ziehe ich mich wieder an.
Ich weiß nicht, warum ich mich beeile, weiß nicht, was ich vorzufinden fürchte, wenn …
Mein rasendes Herz beruhigt sich ein wenig, als ich Grace dort entdecke, wo ich sie zurückgelassen habe. Und endlich gestehe ich mir selbst ein: Ich wollte sie nicht aus den Augen lassen aus Angst, dass sie bemerkt, dass mich zu wählen ein Fehler war.
Ist diese Angst irrational, wenn sie doch sagte, dass sie mich liebt? Dass sie mich wählt trotz allem, sogar in dem Wissen, was für eine Last meine Gaben sind? Absolut.
Lässt das meine Angst verschwinden? Nicht im Geringsten.
Diese Macht hat sie über mich und diese Macht wird sie immer haben.
»Irgendwas zu Flint?«, frage ich und nehme eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank, gehe damit zu ihr.
»Noch nichts im Gruppenchat.«
Ich will ihr das Wasser reichen, doch als sie es nicht aus meiner ausgestreckten Hand nimmt, gehe ich zur anderen Seite der Couch und setze mich neben sie, stelle das Wasser auf den Tisch vor uns.
Da wendet sie sich vom Feuer ab, bezwingt mich mit ihrem verwundeten Blick und flüstert: »Ich liebe dich.« Und mein Herz hämmert erneut.
Sie sieht so ernst aus, zu ernst, und sogar ein wenig verzweifelt. Also tue ich das, was ich immer tue, um sie aus ihren Gedanken zu holen: Ich necke sie, dieses Mal mit unserem liebsten Filmzitat. »Ich weiß.«
Langsam tritt ein Lächeln in die Schatten in ihren Augen und ich weiß, dass ich die richtige Wahl getroffen habe. Ich strecke die Hände aus und ziehe sie auf meinen Schoß, genieße das Gefühl, sie ganz an mir zu spüren. Ich fahre mit dem Finger über den Ring, den ich ihr schenkte, erinnere mich an meinen Schwur, an die Überzeugung in meiner Stimme, mit der ich die schicksalsträchtigen Worte sprach, und meine Brust wird eng.
»Weißt du noch«, sagt sie und zieht meinen Blick mit ihrem an, »du hast gesagt, wenn ich errate, welches Versprechen du gemacht hast, dann sagst du es mir. Ich glaube, ich weiß es jetzt.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ach?«
Sie nickt. »Du hast versprochen, mir für den Rest meines Lebens das Frühstück ans Bett zu bringen.«
Ich schnaublache. »Zweifelhaft. Morgens bist du eine echte Herausforderung.«
Das erste echte Lächeln seit gefühlten Ewigkeiten erhellt ihr Gesicht. »Hey, dem widerspiegle ich.« Dann lacht sie über ihren eigenen Witz und ich kann nicht anders, als mitzulachen. Es ist so verflucht schö n , sie lachen zu sehen.
»Ich glaube …«, fährt sie fort und tut so, als würde sie nachdenken. »Du hast versprochen, mich bei jedem Streit gewinnen zu lassen?«
Ich lache tief aus dem Bauch heraus angesichts dieses lächerlichen Einfalls. Sie liebt es, sich mit mir zu streiten. Das wäre das Letzte , was sie jemals von mir wollen würde, dass ich einfach umknicke und ihr ihren Willen lasse. »Unwahrscheinlich.«
»Erzählst du es mir jemals?«
Sie ist noch nicht bereit zu hören, was ich versprach, bevor ich auch nur wusste, ob sie meine Liebe je erwidern würde. Also mache ich stattdessen einen weiteren Witz. »Wo bliebe denn da der Spaß?«
Sie täuscht einen Schlag gegen meine Schulter an. »Ich bekomme das eines Tags noch aus dir raus.« Mit ihrer weichen Hand fährt sie über die Stoppeln an meinem Kiefer und ihr Blick wird wieder ernst. »Ich habe die Ewigkeit, um es zu erraten, Gefährte.«
Und einfach so stehe ich in Flammen.
»Ich liebe dich«, flüstere ich und streife mit meinen Lippen ihre. Einmal, zweimal. Doch davon will Grace gar nichts wissen. Sie hält meinen Kopf zwischen ihren Handflächen, ihre Wimpern flattern über ihre Wangen und dann fordert sie alles von mir. Meinen Atem. Mein Herz. Meine Seele.
Als wir beide atemlos sind, lehne ich mich zurück und halte ihren Blick. In den Tiefen ihrer warmen braunen Augen könnte ich mich auf ewig verlieren.
»Ich liebe dich«, sage ich erneut.
»Ich weiß«, wiederholt sie meine Worte von vorhin neckisch.
»Diese clevere Klappe wird irgendwann mein Tod sein«, murmle ich und will sie noch einmal küssen, während der Gedanke, sie hochzuheben und zu meinem Bett zu tragen, durch meinen Kopf wirbelt. Aber sie erstarrt und ich erkenne, dass mein gedankenloser Kommentar über den Tod sie daran erinnert hat, uns beide daran erinnert hat, was wir schon alles verloren haben – und immer noch verlieren können.
Mein Herz bleibt fast stehen, als ich die Tränen in ihren Augen sehe. »Es tut mir leid«, murmle ich.
Sie schüttelt kurz den Kopf, als solle ich mich nicht für den Ausrutscher fertigmachen, aber na ja, das wird nicht passieren. Dann beißt sie sich auf die Lippe, das Kinn zittert, weil sie versucht, all den Schmerz für sich zu behalten, und zum millionsten Mal möchte ich mich selbst treten, weil ich immer erst rede und dann denke, wenn sie in meiner Nähe ist.
»Babe, alles wird gut«, sage ich, auch wenn sich alles in mir ver flüssigt. Knochen, Adern, Muskeln, alles zerfließt in der Spanne zwischen einem Atemzug und dem nächsten und ich kann nur noch daran denken, was ich ohne Grace wäre. Eine leere, blutende Hülle.
»Was kann ich tun?«, frage ich. »Was brauchst du …«
Sie unterbricht mich, indem sie ihre kleinen, kalten Finger auf meinen Mund legt.
»Luca ist umsonst gestorben. Flints Bein, Jaxons Herz, alles … Es war alles umsonst, Hudson«, flüstert sie.
Ich ziehe sie in meine Arme, halte sie, während die Qual dessen, was wir überlebt haben, sich durch sie hindurcharbeitet, ihr Zittern wird jetzt zu meinem, denn ich weiß, dass ich keine Entschuldigungen mehr übrig habe.
In diesem Augenblick, in dem ich das Mädchen halte, das ich liebe – das Mädchen, das ich um jeden Preis retten würde –, weiß ich, dass meine Zeit um ist. Die kalte, harte Wahrheit, die zu ignorieren ich in der letzten Stunde mein verdammt noch mal Bestes gegeben habe, haut mich um und raubt mir den Atem.
Es ist alles meine Schuld.
Alles. Alle Qual, jeder Tod, jeder schmerzhafte Augenblick, den Grace und die anderen auf dieser Insel erlitten – all das ist meine verdammte Schuld.
Weil ich selbstsüchtig war. Weil ich sie noch nicht aufgeben wollte. Weil ich schwach war.
Mein ganzes Leben bin ich vor dem Schicksal davongelaufen, das mein Vater immer für mich vorsah, aber jetzt begreife ich, dass ich keine Wahl habe. Es kommt, ob ich es will oder nicht, und ich kann einen Scheiß tun, um ihm zu entgehen. Kein zweites Mal. Nicht wenn das Glück von Grace auf dem Spiel steht.
Und wenn ich mich endlich meinem Schicksal ergebe, wird es uns möglicherweise alle zerstören.