DER BEFEHLSTON IN SEINER STIMME lässt mich blitzartig im Bett hochschießen.
Mein Herz rast, mein Blut rauscht in meinen Ohren und es fühlt sich fast an, als wache ich inmitten einer ausgewachsenen Panikattacke auf. Nur dass mein Hirn klar ist und das Adrenalin, das durch meinen Körper pulsiert, von der Dringlichkeit rührt und nicht von der Angst.
Ich blicke zu Hudson, doch er schläft ausnahmsweise einmal richtig. Seine Atmung geht gleichmäßig, die blassen Prellungen an seiner Wange eine krasse Erinnerung an all das, was er die letzten paar Tage durchgemacht hat. Die meisten Zeichen von seinen Kämpfen im Gefängnis sind schon verblasst, aber er wird mehr als nur Blut brauchen, um die Erschöpfung unter seinen Augen auszuradieren. Ich fahre sanft mit einem zitternden Finger über seine Wange. Seine Lider flattern kurz und ich fürchte, ich habe ihn aufgeweckt. Doch dann rollt er sich mit einem Seufzen herum und fällt wieder in Schlaf.
Zu blöd, dass ich das nicht auch kann.
Ein rascher Blick auf mein Telefon zeigt mir, dass ich tatsächlich ein paar Stunden geschlafen habe – und das heißt, mir bleiben noch eine Handvoll Stunden vor dem Morgen. Ich rolle mich aus dem Bett, als die Sonne gerade über die Spitze des Denali lugt. Es ist noch mitten in der Nacht, aber in Alaska geht die Sonne im Frühling um vier Uhr morgens auf.
Rote und dunkellila Schatten färben den Himmel und die Berge sind durch die Halbfenster von Hudsons Zimmer zu erkennen. Es ist wunderschön, zweifellos, aber etwas Dunkles am Horizont, das aussieht wie ein heraufziehender Sturm, wirkt unheilvoll wie Hölle. Als blute der Himmel auf die Berge, tauche die ganze Welt in Blut und Kummer und Angst.
Vielleicht übertrage aber auch nur ich meine Gefühle auf den Anblick. Es fühlt sich zumindest an, als schwimme meine ganze Welt in Blut.
Ich denke darüber nach, wieder ins Bett zu gehen, noch etwas Schlaf abzubekommen. Aber der Zug ist abgefahren. Und da ich meine dreckigen Sachen nicht wieder anziehen möchte, muss ich in mein Zimmer und mir frische holen, bevor wir losmüssen.
Mein Magen flattert, während ich die Treppe hinaufgehe und durch die ramponierten Hauptflure laufe, mich daran erinnere, wie ich zum ersten Mal durch diese Gänge wanderte, nachdem mein gesamtes Leben sich von jetzt auf gleich verändert hatte und ich nicht schlafen konnte.
Es fühlt sich an, als stünde ich an der Kante eines weiteren Abgrunds, die bei jeder Bewegung weiter unter mir zerbröselt. So viel ist anders seit dieser ersten Nacht – meine Gargoyle, Hudson, Jaxon und sogar die Katmere selbst –, und doch fühlt es sich an, als wäre einiges genau gleich.
Wie zum Beispiel, dass die Chancen gar nicht so gering sind, dass wieder ein paar blutrünstige Wölfe auftauchen und mich in den Schnee werfen wollen.
Ich sage mir, dass ich bescheuert bin – es ist unwahrscheinlich, dass Cyrus die Wölfe auf uns hetzt, nachdem er die Schüler und Schülerinnen schon hat –, aber ich nehme trotzdem zwei Stufen auf einmal hinauf zu meinem Zimmer. Falls der Feind doch angreift, möchte ich wenigstens eine Hose tragen.
Macy schläft tief und fest in unserem Zimmer, also bewege ich mich so leise wie möglich. Ich benutze das Licht meines Telefons und verfluche wieder den Umstand, dass ich trotz meiner Gargoyle nicht wie die Vampire oder Wölfe in der Dunkelheit sehen kann.
Ich leuchte zu Boden – sodass ich gerade genug erkenne, um nicht zu stolpern und aus Versehen auf der schlafenden Macy zu landen – und gehe zu meinem Schrank.
Ich schnappe mir meinen Rucksack und stopfe ein paar Dinge hinein, die ich brauchen werde, wenn ich in Hudsons Zimmer bleibe. Eine Jeans und noch ein T-Shirt, Unterwäsche, meine Kulturtasche, eine Handvoll Haargummis und – große Überraschung – eine Packung Cherry-Pop-Tarts. Wenn ich nichts gelernt habe in den letzten Monaten in Bezug auf unberechenbare Situationen mit nur Vampiren als Begleiter, so doch wenigstens, dass ich immer einen Snack einpacken sollte, wenn ich nicht verhungern möchte.
Nachdem ich alles verstaut habe, werfe ich mir noch einen Hoodie über, dann lasse ich mich auf den Boden sinken und ziehe Socken und meine Lieblingsstiefel an.
Ich stehe wieder auf und lasse den Blick ein letztes Mal durchs Zimmer wandern, um sicherzugehen, dass ich nichts Wichtiges vergesse, dann erinnere ich mich an zwei Dinge, ohne die ich niemals gehen möchte. Ich schleiche zum Schmuckkästchen auf meiner Kommode, hebe den Deckel und nehme den Diamanten, den Hudson mir geschenkt hat, und auch die Halskette von Jaxon. Beide geliebten Gegenstände verstaue ich in die vordere Reißverschlusstasche und auch noch eine Tube mit pinker Lippenpflege, die Macy mir geschenkt hat, dann werfe ich mir den Rucksack über die Schulter und schleiche auf Zehenspitzen zur Tür.
Da regt Macy sich ein wenig und wimmert im Schlaf. Ich erstarre, warte ab, ob sie mich braucht, aber nach ein paar leisen, leidenden Geräuschen verfällt sie wieder in ihr näselndes Schnarchen, an das ich mich in den vergangenen Monaten so gewöhnt habe.
Bei diesem Geräusch sehne ich mich nach meiner Anfangszeit an der Katmere, bevor alles so verrückt wurde und meine größte Sorge noch war, wie laut meine Cousine schnarcht – nämlich sehr. Ich blicke zwischen Macy und meinem Bett hin und her und frage mich, ob ich vielleicht doch noch ein paar Stunden schlafen könnte … immerhin könnte das für wer weiß wie lange die letzte Gelegenheit sein, dass wir eine Nacht vernünftig schlafen können.
Ich mache mir nicht mal die Mühe, die Stiefel auszuziehen – ich rolle mich einfach auf der Decke zusammen, kuschle mich ins Kissen und lasse mich vom Rhythmus von Macys Schnarchen in den Schlaf wiegen.
Keine Zeit!
Eine Stimme in meinem Kopf weckt mich auf. Ich sehe auf mein Telefon – ich habe noch zwei Stunden geschlafen. Macy schnarcht immer noch leise, aber ich weiß, dass das für mich keine Option mehr ist.
Mit Glück schaffe ich es vielleicht zurück in Hudsons Zimmer, ohne ihn aufzuwecken.
Kaum bin ich am Treppenabsatz, ist die Stimme der Bestie wieder in meinem Kopf. Keine Zeit. Keine Zeit. Keine Zeit.
Keine Zeit wofür? Frage ich in meinem Kopf. Geht es dir g …
Ich verstumme, als ich den Gargoyle in Menschengestalt am kaputten Schachtisch am Fuß der Treppe sitzen sehe, eine der wenigen überlebenden Schachfiguren in der Hand.
Ein übelkeiterregendes Déjà-vu überkommt mich, denn die Figur in seiner Hand ist keine andere als die Vampirkönigin.