NACH EINEM KURZEN TRIP durch Macys Regenbogenportal finden Jaxon, Flint, Mekhi, Eden, Macy, Hudson und ich uns mitten in Copper Center, Alaska, wieder – um ein Uhr noch was morgens. Zumindest nehme ich an, dass es mitten in der Stadt ist, da wir von Häusern umgeben sind, was in diesem Staat nicht besonders oft der Fall ist.
»Gute Arbeit, Macy«, sagt Jaxon und klopft ihr aufmunternd auf die Schulter. Das ist so untypisch für ihn, dass Macy sich umdreht und ihn mit offenem Mund anstarrt – und ich auch. Ich frage mich gerade, ob sein Körper wohl in dem Portal übernommen wurde, da folgt ein: »Auf geht’s.«
Die Tatsache, dass er geradewegs Richtung Norden phadet, ohne auch nur daran zu denken, den Rest von uns nach unserer Meinung zu fragen, beruhigt mich. Er ist derselbe Jaxon, selbst wenn er nahbarer als zuvor wirkt.
Hudson verdreht die Augen und ich lache nur. Zumindest so lange, bis er mich plötzlich einfach so aufhebt und Jaxon über freies Feld hinterherphadet.
»Ich wollte fliegen«, sage ich, mache es mir aber in seinen Armen bequem.
»Das dachte ich mir. Wenn du fliegst, kann ich das hier aber nicht machen«, antwortet er und beugt sich vor, sodass seine Lip pen meine Wange streifen. »Oder das hier«, fährt er fort und küsst mich rasch.
»Das ist ein sehr gutes Argument«, stimme ich zu. Ich bin außer Atem und er auch, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass es nichts mit seiner Geschwindigkeit zu tun hat. Um diese Theorie auf die Probe zu stellen, küsse ich ihn wieder und dann muss ich lachen, weil er zum ziemlich sicher ersten Mal überhaupt über einen Stein stolpert.
»Verflixte Hölle!«, murmelt er und fängt sich – und mich. »Du bist gefährlich, Frau.«
»Wie gut, dass du das endlich begriffen hast«, necke ich ihn. Wir rasen weiter und es ist hell genug, dass ich die Blumen und Flussbetten, durch die Wasser fließt, sehen kann.
Ich war noch nie hier, wenn kein Schnee lag, und ich bin überrascht, dass mein Hoodie Schutz genug bietet, damit ich mir nicht den Hintern abfriere.
Nach etwa dreißig Minuten kommt Hudson neben Jaxon abrupt zum Stehen.
»Ist es das?«, fragt Mekhi, der uns eingeholt hat, mit großen Augen und ein wenig aufgeregt.
»Das ist es«, antwortet Jaxon und geht vorsichtig über den felsigen Boden auf den Höhleneingang zu, der immer noch zum Teil getarnt ist.
Wir beschließen, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für eine kurze Pause ist, bevor wir die Höhle der Vampirin betreten. Man weiß bei ihr nie, ob man all seine Kraft für einen Kampf braucht oder nicht.
»Hey, kann ich kurz mit dir reden?«, frage ich Jaxon und bedeute ihm mit einer Kopfbewegung, sich mit mir an der Seite des Höhleneingangs zu treffen. Macy und die Drachen laufen umher, nehmen sich nach der Reise hierher Wasser oder einen Snack, mo tivieren sich, bevor sie einer Frau gegenübertreten, die in ihrem Heim regelmäßig Menschen kopfüber über Eimer hängt.
»Klar, was ist?« Er folgt mir um einen Baum und lächelt auf mich herab, und da ist etwas an ihm in diesem Augenblick – mehr Wärme, als ich es sonst von ihm gewohnt bin –, das ihn irgendwie öffnet.
Er hat immer noch diese leicht herrische Haltung – ich glaube, nichts wird das je ändern –, aber er sieht weniger isoliert aus, glücklicher ist wohl das Wort, das ich suche.
Was mich zögern lässt, ob wir diese Diskussion führen sollten oder nicht. Ich habe kürzlich beschlossen, dass er es verdient, die Wahrheit über Bloodletter zu erfahren, darüber, was sie mit unserer Gefährtenbindung getan hat, aber ich möchte ihn auch wirklich nicht noch mehr verletzen, als er das bereits ist.
Doch als er die Brauen hochzieht, fällt mir nichts anderes ein, was ich stattdessen sagen könnte. Und ich habe nicht das Recht, diese Information vor ihm zu verheimlichen. Ich dachte, das hätte ich, habe vor mir gerechtfertigt, warum es keinen Sinn ergäbe, ihm die Wahrheit zu sagen, wenn es ihm nur Qualen bereitet, aber ich hasse es, wenn andere vor mir Dinge verheimlichen. Ich kann mich nicht einfach umdrehen und ihm das Gleiche antun.
Weshalb ich zu einer Stelle hinübernicke, die etwas weiter weg ist vom Rest der Gruppe und ihren übernatürlichen Hörfähigkeiten, und in diese Richtung loslaufe. Jaxon folgt mir, doch als ich zurück zu der Gruppe blicke, bemerke ich, dass Hudson uns nachsieht. Er scheint nicht eifersüchtig und sieht nicht einmal neugierig aus. Er blickt nur resigniert drein und ich begreife etwas zu spät, dass ich ihn vermutlich hätte vorwarnen sollen, wenn ich vorhabe, Jaxon alles zu erzählen. Ich weiß nicht einmal, warum ich es nicht gemacht habe. Vielleicht dachte ich, er würde es mir ausreden wollen.
»Grace?«, fragt Jaxon, weil ich weiter über meine Schulter starre. »Geht es dir gut?«
»Ja, natürlich.« Ich reiße meine Aufmerksamkeit los und richte sie auf ihn. Immerhin habe ich hiermit angefangen. »Ich wollte ein paar Minuten mit dir reden. Über …« Meine Nervosität holt mich ein und meine Stimme bricht, also räuspere ich mich und versuche es erneut. »Über Bloodletter. Es gibt da etwas, das du wissen solltest.«
Begreifen macht sich auf seinem Gesicht breit und er greift nach meiner Hand, drückt sie fest. »Du musst es nicht sagen.«
»Doch, das muss ich. Ich möchte dir das nicht nicht sagen …«
»Sie hat es mir bereits gesagt«, unterbricht er mich. »Als ich das letzte Mal hier war. Es ist okay, Grace.«
Von all den Dingen, von denen ich dachte, dass Jaxon-verflucht-noch-eins-Vega sie in diesem Augenblick zu mir sagen würde, hat »Es ist okay, Grace« es nicht einmal unter die Top Einhunderttausend geschafft. Eine Sekunde lang glaube ich, mein Kopf explodiert, da die Nervosität, die sich in meinem Magen zusammengerollt hatte, aufspringt und in meiner Kehle stecken bleibt.
Es dauert einen Moment, um wieder Worte herauszubekommen, aber schließlich gelingt es mir. »Warte. Sie hat dir gesagt, was sie getan hat? Mit der Gefährtenbindung? «
»Hat sie«, antwortet er. »Ich weiß, es zehrt an den Nerven …«
»Du weißt, dass es an den Nerven zehrt?«, krächze ich so laut, dass einer der über uns fliegenden Weißkopfseeadler es vermutlich mit einem Balzruf verwechseln wird. »Das ist alles, was du zu dem zu sagen hast, was sie uns angetan hat? Dass es an den Nerven zehrt ?«
Sein Lächeln verblasst und einen kurzen Augenblick steht wieder dieser traurige Ausdruck in seinen Augen, der mir das Herz bricht. »Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll, Grace. Ich hasse es, dass du dabei verletzt wurdest, hasse alles, was du hast durchmachen müssen wegen einer fehlgeleiteten Entscheidung …«
»Fehlgeleitet?« Ich frage mich, ob ich nach Kameras suchen sollte. Denn mit Sicherheit werde ich hier doch verarscht. Es gibt keine andere Erklärung dafür, dass Jaxon das so ruhig aufnimmt. »Wie kannst du so verständnisvoll sein? Wie kannst du ihr einfach vergeben, dass sie unsere Leben beinahe einfach so zerstört hat? Du hast fast deine Seele verloren, Jaxon. Du bist fast …« Ich verstumme, kann nicht einmal über das reden, was fast vor ein paar Tagen vorgefallen ist.
»Sie gab mir dich«, antwortet er schlicht. »Was immer sonst geschehen ist, was immer sonst in der Zukunft geschehen wird, sie machte mir das Geschenk, von dir geliebt zu werden. Dich zu lieben. Weißt du, was das für jemanden wie mich bedeutet? Mein ganzes Leben lang fühlte ich nichts, und dann kamst du und jetzt kann ich … alles fühlen.«
Tränen stehen in seinen obsidianfarbenen Augen. Er blinzelt sie so schnell weg, wie sie kamen, aber das ist egal. Denn ich habe sie gesehen und sie haben mir das Herz erneut entzweigebrochen.
»Oh, Jaxon …«
»Es ist wirklich in Ordnung, Grace.« Er streckt die Hand aus und zupft eine meiner Locken, wie er das immer getan hat. »Dich lieben zu können bedeutet, dass ich vielleicht eines Tags jemand anderen lieben kann, vielleicht sogar die Gefährtenbindung eingehen kann, die eigentlich für mich gedacht ist. Vor dir hätte ich mir so etwas niemals vorstellen können. Und jetzt …« Er zuckt mit den Schultern. »Jetzt klingt es nicht so übel.«
Mein Herz schmerzt bei seinen Worten. Nicht weil ich ihn immer noch so liebe – Hudson bedeutet mir alles –, sondern weil ich ihn immer noch liebe. Er ist meine Familie und ich möchte, dass er glücklich ist – nicht erst eines Tags, sondern jetzt.
»Du bist der Beste. Das weißt du, oder?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht.«
Ich verdrehe die Augen und schubse ihn sanft mit der Schulter an, aber er lacht nur. »Wie nennt man einen Bumerang, der nicht zurückkommt?«
»Einen Bumnix?«, frage ich ohne große Hoffnung.
»Einen was?« Er schüttelt gespielt angewidert den Kopf. »Das war echt schlecht. Wirklich, wirklich schlecht.«
»Ach ja? Wie ist dann die Antwort, Genie?«
»Einen Stock, ist ja wohl klar.«
Jetzt lache ich. »Der ist so mies, dass er schon wieder gut ist.«
Er sieht superstolz aus. »Genau.«
Wir gehen zurück zur Höhle und mein Blick fällt sofort auf Hudson. Er beobachtet uns nicht mehr. Er sieht niemanden an. Stattdessen lehnt er an einem Baum etwas entfernt und tippt auf seinem Telefon herum, als wäre da der faszinierendste Feed überhaupt drauf.
Er wirkt normal, so normal, dass ich sicher bin, dass es die anderen nicht einmal bemerken. Aber ich kenne ihn gut genug, um zu erkennen, wie sein Zeigefinger auf die Rückseite der Telefonhülle tippt, wie er es immer macht, wenn er sich unwohl fühlt. Ich sehe den angespannten Kiefer und die hochgezogenen Schultern, als bereite er sich gegen einen Schlag vor – damit der scheinbar mühelos von seinem Rücken abprallt.
Der Schmerz, ihn so zu sehen, ist viel schlimmer als ein Stich ins Herz. Es ist ein Schmerz, der ganz durch mich hindurchgeht.
Vielleicht wende ich mich deshalb an Jaxon. »Hey, kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Klar. Alles.« Seine Brauen zucken in die Höhe.
»Lass Hudson ein wenig in Ruhe. Er …«
»Das ist nicht so einfach, Grace.«
»Ich weiß. Aber denk an die Unterhaltung, die wir gerade hatten. Du hast Bloodletter so leicht vergeben und sie hat dich fast zerstört. Sie hat fast deine Seele getötet.«
»Ja, aber er hat Luca …«
»Denkst du, es ist leicht für ihn?«, frage ich und Ärger lässt meine Stimme scharf klingen.
Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Es sieht nicht schwer aus.«
»Leute umzubringen?«, frage ich ungläubig. »Du denkst, das lastet nicht auf ihm? Du denkst, dass es ihn nicht jedes Mal verletzt, wenn er seine Gabe auf diese Weise einsetzt? Er mag es dich ja nicht sehen lassen, aber es quält ihn. Dass er nicht eingeschritten ist, bevor Luca starb. Es quält ihn noch mehr, dass er eingeschritten ist und die Wölfe, ohne zu zögern, getötet hat.«
Zum ersten Mal bin ich von Jaxon enttäuscht. Bin enttäuscht von Flint und Mekhi und auch Macy. Hudson leidet so sehr, dass er mich anfleht, ihm seine Kräfte zu nehmen, und sie können nicht über ihre eigenen Gefühle hinaussehen.
»Es ist eine schreckliche Fähigkeit, Jaxon. Die Entscheidung darüber, wer lebt und wer stirbt, mit einem Schnippen deiner Finger – weniger noch. Mit einem Gedanken. Einem kurzen Gedanken. In diesem einen winzigen Augenblick wird jemandes Bruder, jemandes Kind, jemandes Mutter nie wieder nach Hause zurückkehren. Und du weißt genauso gut wie ich, die meisten, die Cyrus folgen, sind nicht verdorben wie er. Sie wollen nur aus den Schatten hinaus.« Meine Stimme bricht, weil sich Tränen in meiner Kehle festsetzen. »Und Hudson hat sie alle innerhalb eines Wimpernschlags ausgelöscht, um uns zu retten. Wenn du nicht sehen kannst, was ihn das gekostet hat, was es ihn weiterhin kostet, dann bist du der schlechteste Bruder überhaupt. Er verdient etwas Besseres.«
Ein Muskel an Jaxons Kiefer spannt sich an, aber er sagt nichts, lässt die Arme weiter verschränkt. Doch er hört zu, das sehe ich, also nutze ich das. »Bloodletter hatte einen ausgefeilten Plan, der uns unsere Wahl eines Gefährten nahm, einen Plan, der dich fast deine Seele kostete. Und du vergibst ihr, als wäre das nichts. Aber dein Bruder will seine Fähigkeit nicht einsetzen, um Leute zu töten, möchte nicht sein wie dein Vater, und er ist das Arschloch?«
Jaxon erwidert nichts, aber er nickt, bevor wir uns umdrehen und wieder zu den anderen gehen. Und dann sieht er Hudson an und fragt: »Möchtest du mir beim Rest dieser Schutzmechanismen helfen?«
Es ist nicht viel, aber es ist ein Anfang. Und der reicht mir fürs Erste.