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Was hast du für entsetzlich große Zähne

NICHTS KOMMT MIR BEKANNT VOR, aber es ist schummrig und die obligatorischen Schneeschichten sind längst weg, deshalb bin ich nicht überrascht. Andererseits hatte ich sogar Schwierigkeiten, die Höhle zu finden, als es ganz hell war.

Jaxon hat dieses Problem offensichtlich nicht, denn er läuft unbeirrt auf eine winzige Öffnung in den Felsen zu, löst dabei die Schutzmechanismen auf. Hudson übernimmt die gegenüberliegende Seite und entfernt dort auch Schutzmechanismen. Sie sind beide superschnell darin und innerhalb von ein paar Minuten gehen wir die schmale Eisrutsche hinab, die uns tiefer in die Höhle hineinführt.

Es ist dunkel, also leuchte ich mit meinem Telefon den Weg, damit wir nicht auf dem Eis ausrutschen. Macy tut das auch und wir tauschen mitleidsvolle Blicke, während wir durch den glatten Tunnel abwärtslaufen.

Flints neue Prothese macht sich gut, obwohl der Boden so rutschig ist. Und ich bin nicht die Einzige, die nach ihm sieht. Jaxon – der sich hat zurückfallen lassen – geht direkt hinter Flint und sein Blick ist auf den Drachen geheftet, um ihn beim ersten Hinweis auf Probleme aufzufangen.

Flint schenkt allerdings keinem von uns Beachtung – und dem Eis auch nicht. Er scheint in Gedanken zu sein, sein Kiefer mahlt und sein Blick geht in die Ferne.

»Dieser Ort ist irre«, sagt Eden, und als der Strahl meiner Taschenlampe sie trifft, erkenne ich, dass sie sich umsieht, die Augen groß vor Staunen.

»Du hast keine Ahnung, wie sehr«, erwidere ich.

»Was meinst du …« Eden verstummt, als wir um eine Ecke biegen. Und ganz deutlich wird, was ich meine.

Denn direkt vor uns, zu unserer Linken, ist der Bereich von Bloodletters Höhle, den ich am wenigsten mag – mit Ausnahme von ihr selbst, meine ich.

Es ist die Ausblutungsstelle.

Und sie ist gerade voll im Einsatz – es sieht nach einer ganzen Gruppe von Wanderern aus, die von den in die Decke eingelassenen Ketten baumeln. Ihre Kehlen sind aufgeschnitten und sie tropfen in Eimer, ein Anblick, der mich traurigerweise nach meinen letzten Besuchen nicht mehr überrascht.

Dieses Mal steht Bloodletter jedoch neben ihnen und tupft sich mit einem feinen Leinentaschentuch Blut von den Lippen. Blut, das ziemlich sicher noch warm ist.

Sie hat diese Leute gerade getötet – alle sechs. Und dem Mangel an Verteidigungsmalen nach zu urteilen, hatten sie sogar als Gruppe keine Chance.

Und ich verstehe das. Zumindest sage ich mir das. Es ist Teil dieser Welt. Menschen sind die Nahrung für Vampire. Und während einige, wie meine Freunde, eine Mischung trinken aus Tierblut und Blut von einer mehr-als-bereitwilligen Person, die sie nicht umbringen (hallo, Hudson), sind andere etwas altmodischer. Wie Bloodletter. Und Cyrus. Und wer weiß, wie viele andere.

Es ist dennoch schrecklich, darüber nachzudenken. Und noch schrecklicher, es zu sehen – weshalb ich mich bemühe, nicht zu genau hinzusehen. Auf die gerade ausblutenden Körper oder die Blutstropfen an Bloodletters Kinn.

Macy taumelt, als sie den ersten Blick auf die Wanderer wirft. Sie schreit leise auf und ich weiß nicht, ob sie wegen des Sturzes oder der toten Wanderer so ausflippt. Vermutlich beides.

Eden stürzt vor und fängt Macy ab. »Hat sie gerade …«, will sie fragen, dann presst sie den Mund zusammen, weil Bloodletter sie mit stechenden grünen Augen ansieht.

»Mein lieber Jaxon, du hast ja eine ganze Reisegruppe dabei«, sagt Bloodletter mit süßstoffklebriger Stimme, so scharf wie ein Skalpell. »Und ohne Vorwarnung. Was verschafft mir diese Ehre

Jaxon neigt den Kopf, und nicht zum ersten Mal trifft mich, wie viel Achtung er dieser Frau entgegenbringt. Wie viel Respekt und Freundlichkeit und Angst sie in ihm hervorruft.

Nach allem, was geschehen ist – allem, das ich über sie erfahren habe –, ist das fast mehr, als ich ertragen kann.

Vielleicht trete ich deshalb vor und sage: »Herzukommen war meine Idee.«

Natürlich wählt Hudson genau diesen Augenblick, um hinterherzuschieben: »Einsamkeit ist höchst überbewertet. Aber das müssen wir dir nicht sagen, da du schon so viel darüber weißt.« Die Tatsache, dass er an einer eisigen Wand lehnt und Sudoku auf seinem Telefon spielt, während er das sagt, als wäre das Spiel eine Million Mal faszinierender, als vor der mächtigsten Vampirin der Welt zu stehen, ist deutlicher als jedes »Fuck you«.

Und alle hier wissen das.

Jaxon macht einen erstickten Laut tief in der Kehle, und das Geräusch, das von Macy stammt, ist ziemlich sicher ein Wimmern. Flint und Eden geben nichts von sich, aber das brauchen sie auch nicht, wenn sie aussehen, als warteten sie nur darauf, dass Bloodletter Hudson niederstreckt.

Ich rechne dagegen halb damit, dass sie ihn erstarren lässt wie beim letzten Mal, aber sie macht keine dahingehenden Anstalten. Sie wirft ihm jedoch einen Blick zu, der so kalt und scharf ist wie die Eiszapfen, die von der Decke hängen. »Und doch seid ihr hier. Was, wie ich nur vermuten kann, bedeutet, dass meine Hilfe nicht überbewertet ist, auch wenn ich selbst das bin.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagt er mit einem Schulterzucken. »Sogar eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig.«

Jetzt wimmert nicht mehr nur Macy. Flint lässt lange genug von seiner Wut ab, um Hudson einen Blick zuzuwerfen, als hätte der den Verstand verloren … und auch, um sich nach einem Notausgang umzusehen. Ich kann es ihm nicht verdenken. Wenn Hudson sie weiter so provoziert, brauchen wir definitiv einen. Oder auch zwei.

Weshalb ich zwischen sie trete. Ich liebe Hudson, aber wenn Bloodletter die Beherrschung verliert und ihn wegen seiner Attitüde in eine Kakerlake verwandelt, muss ich unsere Gefährtenbindung ernsthaft überdenken.

»Ich brauche die Hilfe«, sage ich und lege sanft eine Hand auf Hudsons Arm, damit er nichts mehr sagt. Er und Bloodletter fassten eine sofortige Abneigung, als sie einander kennenlernten – größtenteils, weil sie zu der Zeit versuchte, mich davon zu überzeugen, dass er ein eiskalter Killer ohne Reueempfinden sei. Dazu noch die Tatsache, dass sie eine falsche Gefährtenbindung zwischen Jaxon und mir geschaffen hatte, und schon ist sie diejenige, die er auf der Welt am wenigsten leiden kann. Was etwas heißt, immerhin gibt es auch noch Cyrus.

Nicht dass ich Hudson das vorwerfe. Ich fühle genau das Gleiche. Aber ich möchte auch nicht wieder hierher zurückkommen müssen, also würde ich es jetzt lieber hinter mich bringen und die Informationen bekommen, die wir brauchen. Wenn sie sich irgendwie genauso an mich gebunden hat, wie sie Jaxon und mich miteinander verbunden hat, möchte ich das wissen. Und dann möchte ich herausfinden, wie ich es eliminieren kann.

Zuerst sieht Bloodletter mich nicht einmal an. Stattdessen bleibt ihr Fokus wie ein Laser auf Hudson gerichtet – die Augen schmal, die Zähne gebleckt, die Fäuste geballt. Während er sich kaum dazu herablässt, einen Blick in ihre Richtung zu werfen. Ich kenne ihn seit Monaten und ich habe ihn noch nie so an seinem Telefon interessiert erlebt. Oder an Sudoku.

Ich fahre rasch fort in der Hoffnung, dass sie aufhört, meinen Gefährten anzusehen, als würde sie ihn gern über einem Eimer hängen sehen. »Ich sehe in meinem Kopf Verbindungen zu jedem, der eine emotionale Verbindung zu mir hat, einschließlich meiner Gargoyle. Ich sehe farbige Fäden, aus Mangel einer besseren Beschreibung. Und einer dieser Fäden … Ich denke, einer dieser Fäden bindet mich an dich. Und er ist mächtig.«

Bloodletter lässt sich Zeit damit, sich umzudrehen und mich anzusehen, aber dann wird ihre Miene bedeutend weicher.

»Komm.« Sie streckt mir die Hand entgegen. »Die Kälte ermüdet mich in letzter Zeit. Lass uns in meinen Salon gehen, wo es warm ist.«

Und dann, ohne abzuwarten, ob wir ihr folgen, tapst sie den eisigen Pfad hinab, und dabei sieht sie für jeden aus, als wäre sie um hundert Jahre gealtert in den Monaten, seit wir sie zuletzt gesehen haben.