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Das Leben ist ein Sonnenbad – oder doch ein Sonnenbrand?

ICH WERFE HUDSON UND JAXON einen raschen Blick zu und forme mit den Lippen: »Cassia?« Sie beide sehen genauso verwirrt aus wie ich – Jaxon schüttelt den Kopf und Hudson zuckt ein wenig mit den Schultern –, bevor wir uns alle dem Besitzer der Stimme zuwenden, die immer noch durch die Höhle von Bloodletter hallt.

Dabei erleide ich den dritten Schock in genauso vielen Minuten. Denn die Stimme gehört einem großen, durchtrainierten, alten Typen, der knalltürkise Boardshorts, marineblaue Tauchflossen und eine Sonnenbrille mit leuchtend blauen Gläsern trägt. Er hat auch totales Einstein-Haar – silbern, lang, aus dem Gesicht frisiert in einem »Ich geb einen Scheiß drauf«-Stil –, gepiercte Ohren, gepiercte Nippel und ein Tattoosleeve einer Treppe, die über Wasser zu einer verzierten und zerfallenden Uhr führt.

Oh, und als wäre das nicht genug, sieht er auch angepisst wie Hölle aus .

»Mach mir keine Vorwürfe, Jikan«, sagt Bloodletter – Cassia?  – mit gelangweilter Stimme. »Man kann dich schwerlich ernst nehmen, wenn du darauf beharrst, überall deine gepiercten Nippel zur Schau zu stellen.«

»Ich war am Strand «, antwortet er und hält die Tauchermaske und den Schnorchel zum Beweis hoch. Für den Fall, dass uns die Boardshorts und die Flossen entgangen sind. »Auf Hawaii . Zum ersten Mal seit fünfhundert Jahren

»Na, dann lass dich von uns nicht aufhalten.« Sie verdreht die Augen. »Ich bin sicher, du hast etwas absolut Fesselndes zu tun, wie die Sandkörner am Nord Shore zu zählen.«

Seine Augen werden schmal. »Ich habe geschnorchelt. Da waren Korallen. Und wunderschöne Fische. Und ein Delfin

»In diesem Fall verstehe ich, wieso du dich aufregst.« Bloodletter schenkt ihm das falscheste Lächeln aller Zeiten. »Das sieht man nicht jeden Tag in der Sahara.«

»Nein, tu ich nicht«, presst er hervor. »Was genau mein Punkt ist.«

»Also solltest du öfter Urlaub machen«, erwidert sie unerschütterlich. »Dann hättest du vermutlich bessere Laune.«

»Ja, schön, wir können nicht alle den ganzen Tag in unseren persönlichen Eishöhlen herumhängen und uns überlegen, wie wir am Universum herumpfuschen, nicht wahr? Manche von uns haben echte Arbeit zu tun.« Er lächelt höhnisch und kommt näher. »Dank anderen unter uns.«

»Niemand hat um deine Hilfe gebeten.« Bloodletter geht auf ihn zu und ich fühle mich an zwei Revolverhelden im Wilden Westen erinnert, die sich zum Showdown treffen. Es würde mich wohl nicht im Geringsten überraschen, wenn sie plötzlich Pistolen herauszögen und aufeinander zielten.

»Ihr habt vielleicht nicht darum gebeten«, sagt er und sieht sich mit einem Stirnrunzeln in der wieder makellosen Höhle um. »Aber ihr braucht sie offenkundig.«

Und damit greift er in die Tasche seiner elektrischtürkisen Boardshorts. Ich bereite mich darauf vor, dass er eine Waffe herauszieht, und so, wie Hudson vor mich tritt, denkt er das Gleiche. Doch Jikan zieht eine altmodische Goldtaschenuhr hervor. Eine waschechte Taschenuhr mit einer Kette und einem reich verzierten Deckel und allem.

»Oh, ich verstehe«, sagt Flint. »Jikan heißt auf Japanisch ›Zeit‹. Cool.«

»Genug geredet.« Jikan hält seine Uhr hoch. »Hier ist eine Idee: Warum schlagen wir nicht zwei Fragen mit einer Klappe?«

»Ich glaube, es heißt Fliege«, sagt Flint.

Jikan wendet sich ihm mit über die Ränder seiner Sonnenbrille hochgezogenen Brauen zu. »Entschuldige bitte?«

»Das Sprichwort«, erklärt Flint und ich muss es ihm lassen, er zuckt keinen Zentimeter zurück, obwohl er im Fokus von Jikans sehr Furcht einflößendem finsteren Blick steht. »Es heißt, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, nicht zwei Fragen.«

»Natürlich ist es ein Drache, der denkt, wir sollten zwei Fliegen töten. Das ist eure Antwort auf alles. Obwohl ich nicht weiß, was ihr gegen diese armen Kreaturen habt. Sie sind recht majestätisch, wenn man darüber nachdenkt.«

Flints Augen werden groß. »Ich wollte nicht – ich meinte nicht, dass wir sie töten …«

»Hör auf zu reden. Davon bekomme ich Kopfschmerzen.« Jikan wendet seinen Blick wieder mir zu. »Bist du fertig?«

Fertig? Ich habe nicht mal angefangen. »Warum bist du so unhöflich zu allen …«

»Warum stellst du so viele Fragen, kleines Steinmädchen?«, entgegnet er. »Für ein Stück Fels bist du mal ganz gewiss sehr neugierig.«

»Ein Stück Fels?«, wiederholt Jaxon und er klingt in meinem Namen empört. »Was zur Hölle …«

»Klappe, Goth-Boy. Niemand will dir zuhören und niemand hat Zeit für einen deiner Wutanfälle.«

Ich bin nicht sicher, ob Jaxon an seiner Empörung erstickt oder an seiner eigenen Spucke, auf jeden Fall gibt er ein Geräusch von sich, das eine Kreuzung ist aus einem sterbenden Rhinozeros und einem brünftigen Nilpferd. »Entschuldige bitte? Was hast du gerade gesagt?«

Jikan kneift die Augen zusammen. »Zuerst einmal, eindeutig nein. Zweitens …«

»Nein was?«, will Jaxon wissen.

»Nein, ich werde dich nicht entschuldigen. Offensichtlich. Und zweitens: Ich wiederhole mich niemals.« Er schüttelt den Kopf und sieht auf seine Taschenuhr hinab, murmelt eine verschleierte Drohung. »Es ist einfach albern, wie empfindlich Vampire sind.«

An diesem Punkt, da bin ich ziemlich sicher, würde Jaxon einen Schlaganfall erleiden, wenn Vampire einen bekommen könnten. Hudson hingegen sieht halb amüsiert, halb fasziniert aus von Jikans sehr offensichtlichem Attitüdeproblem. Andererseits könnte es auch sein, dass er ihn einfach bewundert. Bei Hudson weiß man nie genau, was ihm durch den Kopf geht.

»Wer ist dieser Typ?«, will Jaxon wissen.

»Ich weiß nicht, aber er ist vielleicht mein neuer persönlicher Held«, sagt Hudson. »Goth-Boy.«

Jaxon wendet sich ihm mit einem Blick zu, als wolle er fragen »Was zur Hölle«, aber bevor er etwas erwidern kann, fährt Jikan fort. »Ist die Fragestunde jetzt vorbei, Jungs und Mädels? Denn so fesselnd eure Unwissenheit auch ist, in einer Stunde muss ich bei einem Luau sein und Poi mag ich am liebsten. Also bringen wir diese Show hier zum Laufen, ja?«

»Welche Show ist das genau?«, frage ich.

Er senkt seine Sonnenbrille gerade so weit, dass ich seine lodernden mahagonifarbenen Augen über dem Rand erkennen kann. »Die Show, in der wir geraderücken, was du und Cassia verpfuscht habt. Ich weiß ja nicht, warum du immer wieder den Drang verspürst, mit deinen schmutzigen Fingern in meinem exquisiten Kuchenteig herumzurühren, Cassia, aber ich wünschte, du würdest damit aufhören.«

»Pie«, korrigiert Flint.

»3,14159 und so weiter bis zum Ende der, nun, bis zu meinem Ende«, antwortet er abwesend. »Warum?«

»Nein, ich meine, es heißt, die Finger in den Pie-Teig stecken …«

Jikan wirkt vollkommen vor den Kopf gestoßen. »Ich kann dir versichern, junger Drache, dass ich nicht den Wunsch verspüre, meine Finger in deinen Teenagerteig oder sonst wohin zu stecken.«

Jetzt droht Flint zu ersticken. »Das ist eine Redewend…«

»Das sagen sie alle.« Er räuspert sich. »Und jetzt zu dieser Angelegenheit. Das Beseitigen der neuesten Grace-Katastrophe.«

»Neuesten?«, frage ich und ignoriere absichtlich, dass das Wort eher wie ein Krächzen klingt. »Wie viele Katastrophen gab es denn genau?«

»Du meinst, neben dieser riesigen Ende November?«, fragt er verschmitzt.

»Was ist im November …« Ich verstumme, weil ich begreife, auf was er sich da bezieht. »Warte mal einen Moment. Wer bist du?«

»Der Gott der Zeit.« Hudson schafft es, gelangweilt zu klingen. »Und ich vermute, er ist angepisst, weil Cassia da drüben …«

»Du darfst mich nicht so nennen«, presst Bloodletter hervor.

Hudson nimmt ihre Unterbrechung gar nicht wahr. Stattdessen fährt er ungerührt fort: »… die Zeit für dich angehalten hat und das dann in die Luft flog.«

»Das ist wahrlich ein Blow-out«, sagt Jikan und schüttelt den Kopf. »Zu eurem Glück bin ich in der Gegend, um es zu beheben. So große Risse in der Zeit können alle möglichen fiesen Dinge hereinlassen.«

An dieser Aussage ist so viel zu entwirren, dass ich fast nicht weiß, wo anfangen. Den Blow-out-Kommentar lasse ich unbeachtet – Mekhi lacht schon genug für unsere ganze Truppe – und konzentriere mich auf den wichtigen Teil. Nämlich die Risse in der Zeit. Die ich irgendwie verursacht haben muss.

Fan-fucking-tastisch.

Mein Magen schlingt sich zu einem riesigen Knoten und ich ermahne mich zu atmen. Einfach zu atmen. Weil Jikan sagt, er könne beheben, was immer ich kaputt gemacht habe, und ich muss ihm einfach glauben, sonst flippe ich total aus. Ich werde mir nie verzeihen, falls ich die Gargoylearmee versehentlich freigelassen habe und sie jetzt sterben.

Natürlich würde es helfen zu wissen, ob er der ist, für den Hudson ihn hält. Ich hoffe es. Ich hoffe es wirklich, wirklich, denn ich bin nicht sicher, wem ich sonst vertrauen sollte zu beheben, was auch immer für ein Chaos Bloodletter und ich angerichtet haben.

Es ist lustig, wie ich letztes Jahr noch herzlich über den Gedanken an einen Gott der Zeit gelacht hätte, und jetzt bete ich nicht nur, dass er existiert, sondern auch, dass er vor mir steht. Natürlich dachte ich damals auch, dass Vampire und Werwölfe nur in Büchern existierten …

»Bist du wirklich der Gott der Zeit?« Macy kommt mir bei der Frage zuvor, sagt zum ersten Mal etwas, seit Jikan aufgetaucht ist.

Er seufzt. »Ich ziehe es vor, der Historiker genannt zu werden, aber ja, das ist mein offizieller Titel.«

Flint lacht. »Das hört sich an wie ein Job.«

»Welchen Teil von ›Ich bin zum ersten Mal im Urlaub seit fünfhundert Jahren‹ hast du nicht verstanden?«, fragt Jikan und hält wieder seine Tauchermaske hoch. »Wenn rund um die Sonnenuhr zu arbeiten, seit Anbeginn der Zeit, nicht Job genug ist für dich, dann weiß ich wirklich nicht, was es dann ist. Und wo wir gerade dabei sind …« Jikan lässt die Tauchermaske auf Bloodletters Sofatisch fallen und deutet auf die Couch. »Setzt euch, ja, und bleibt mir aus dem Weg. Das kann eine komplizierte Arbeit sein.«

»Was genau hast du vor?«, frage ich und blicke mich im Raum um und will herausfinden, wovon er redet. Alles wirkt auf mich normal, aber das ist es offensichtlich nicht, wenn der Gott der Zeit – Verzeihung, der Historiker  – sein Schnorcheln unterbricht und in einer Höhle in Alaska auftaucht.

Einen Moment sieht es aus, als wolle er eine bissige Bemerkung machen, aber am Ende seufzt er nur und deutet mit einem Winken, zu ihm zu kommen.

Jaxon streckt eine Hand aus, um den Rest von uns davon abzuhalten, dann tritt er zuerst vor, was mir sowohl mutig als auch töricht zugleich erscheint. Doch er hat kaum zwei Schritte gemacht, da verdreht der Historiker die Augen und sagt: »Nicht du. Sie.«

Ein Teil von mir hofft, dass er Bloodletter meint. Aber noch bevor er wieder die Sonnenbrille herabzieht und diese laserbraunen Augen auf mich richtet, weiß ich, dass er mich meint. Ich darf wohl allem Anschein nach »die Zeit kaputt machen« zu meiner Trickkiste hinzufügen.

Zögerlich bewege ich mich vorwärts und bin kein bisschen überrascht, Hudson direkt hinter mir zu spüren.

»Ich sagte …«

»Ich weiß, was du gesagt hast«, antwortet Hudson milde. »Aber willst du sie, kriegst du auch mich. Wir sind ein Paket.«

Dieses Mal reißt der Historiker seine Brille herunter und setzt jedes bisschen Wildheit ein, das ihm zur Verfügung steht – was viel ist –, und starrt Hudson nieder. Hudson starrt natürlich gefühlt ewig zurück. Und dann fragt er unvermittelt: »Riechst du Toast?«

»Toast?«, antwortet der Historiker ungläubig.

Mein Gefährte zuckt wie üblich mit den Schultern. »Ich kann mich nicht entscheiden, ob du einen Schlaganfall hast oder nur in Trance bist, also dachte ich, ich sollte nachfragen.«

Überraschung tritt in die Augen des Historikers, rasch gefolgt von Ärger. Und dann schnippt er mit den Fingern.

Und Hudson verschwindet.