DER SCHOCK LÄSST MICH – uns alle – erstarren. Und dann sagt Bloodletter: »Warum ist mir das nicht eingefallen?«
»Was hast du gemacht?«, will ich wissen. »Wo ist er hin?«
»Wo zur Hölle ist mein Bruder?«, Jaxon stürzt auf den Historiker zu. »Was hast du ihm angetan?«
»Nichts im Vergleich zu dem, was du ihm angetan hast«, antwortet der Historiker milde. »Oder sollten wir das einfach alle vergessen?«
»Du bist ein richtiges Arschloch, weißt du das?«, knurrt Jaxon.
Die einzige Reaktion des Historikers ist es, die Hand zu heben, den Daumen gegen den Mittelfinger gedrückt, so als wolle er wieder schnippen.
Jaxon erstarrt, sein Kiefer mahlt und seine Hände sind zu Fäusten geballt.
»Stopp!«, sage ich – nicht nur zu Jaxon und dem Historiker, sondern auch zu den anderen, die alle vorrücken. Da ich es jedem von ihnen zutrauen würde, sich auf den Historiker zu stürzen, stelle ich mich direkt vor ihn. Und frage: »Kannst du ihn bitte zurückbringen?«
Er neigt den Kopf zur Seite, als würde er darüber eine Sekunde lang nachdenken, dann antwortet er. »Ich weiß nicht. Irgendwie gefällt es mir ohne ihn.«
Er spielt mit mir wie eine Katze mit einer Maus, und das macht mich wütend. Andererseits macht mich alles an diesem Ausflug wütend. Doch ich beiße mir von innen in die Wange und sage, so nett ich kann, wobei das immer noch ziemlich nach einer Anordnung klingt: »Lass ihn gehen, bitte.«
Er hebt eine Braue. »Du denkst nicht wirklich, dass ich Befehle von einer Babyhalbgöttin wie dir annehme, oder?«
»Das kommt wahrscheinlich drauf an.«
»Auf was?«
Ich straffe die Schultern und schiebe die Angst und die Panik tief in mich hinab. Dann schicke ich rasch ein Gebet ans Universum, dass ich das Richtige tue, und antworte: »Darauf, wie dringend du es wirklich zu diesem Luau schaffen willst.«
Und dann hole ich tief Luft und packe meinen grünen Faden, so fest ich kann.
Ein lautes Krachen fetzt durch den Raum.
»Oh Shit«, murmelt Flint hinter mir.
»Grace, halt!«, drängt auch Macy hinter mir. »Nicht.«
Doch ich halte ihn fest, den Blick auf den des Historikers gerichtet, und dabei bete ich, dass er nicht merkt, dass den grünen Faden zu berühren mich total ausflippen lässt, meinen Körper von einer Energie erfüllt, die ich absolut nicht zu kontrollieren weiß. Diese Macht ist beängstigend. Als ein weiteres unheilvolles Krachen durch den Raum hallt, biegen sich meine Mundwinkel langsam nach oben und ich verstehe, dass ich keine Angst vor dieser Macht habe wegen der Zerstörung, die sie anrichtet – sondern weil ich sie mag. Was viel schreckenerregender ist.
Glücklicherweise blicken seine schmal werdenden Augen auf mein breiter werdendes Lächeln, und dann schnippt er wieder und schon ist Hudson wieder da.
»Oh mein Gott.« Sofort lasse ich den Faden los. Die Höhle beruhigt sich und ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so dankbar für ein Luau.
Hudson schlingt einen Arm um mich und anders als die anderen Male, wenn er erstarrt war und nicht sofort wusste, dass es passiert war, scheint er diesmal doch genau zu wissen, was der Historiker getan hat. Seltsamerweise scheint es ihn kein bisschen aufzuregen. Stattdessen hat er ein breites Grinsen im Gesicht.
»Wo …«, setze ich an, aber er unterbricht mich mit einem Kopfschütteln und einem raschen Kuss auf die Stirn.
Er hält meine Hand weiter fest und wendet sich an den Historiker. »Das war ziemlich cool, Kumpel. Danke für den Trip.«
»Das sollte nicht …« Jikan schüttelt den Kopf. »Vergiss es. Machen wir uns einfach an die Arbeit, bevor deine Freundin ein Wurmloch öffnet.«
»Kann ich das?«, frage ich entsetzt.
»Kann sie das?«, fragt Hudson zur gleichen Zeit, nur sieht er fasziniert aus. Was mich irgendwie aufregt. Ich weiß nicht, was es mit diesem Gott der Zeit auf sich hat, aber Hudson ist viel zu sehr daran interessiert, was er tun kann, statt sich zu sorgen, was er uns antun kann.
»Nur ein kleiner Zeitwitz«, sagt der Historiker. Was keine Antwort ist. »Und nein, das kann sie definitiv nicht.«
»Was habe ich also kaputt gemacht?«, frage ich, um das Thema zu wechseln, und trete näher zu ihm trotz der Nicht-Alistair-Stimme in meinem Hinterkopf, die mich anschreit, dass ich so weit wie möglich weglaufen soll. »Und wie willst du das beheben?«
Jikan läuft jetzt durch den Raum, starrt hinauf an die Decke, die wieder in perfektem Zustand ist – oder zumindest in so perfektem Zustand, wie das Innere einer Eishöhle es sein kann –, und ich denke, er wird nicht antworten. Aber nachdem er zum vierten Mal in eine Ecke zurückgekehrt ist, ruft er mich herüber.
Dieses Mal gehe ich allein, werfe Hudson einen warnenden Blick zu, weil er wieder mitkommen will. Mir ist nicht nach einem weiteren Schwanzvergleich.
»Siehst du das?«, fragt der Historiker und deutet an die höchste Stelle der Höhle.
Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich hin, aber ich erkenne nur Eis und Fels. »Nein.«
Sein Seufzen klingt enttäuscht. »Na schön, nächstes Mal vielleicht.« Er schweigt kurz und starrt mich finster an. »Nicht dass ich mit einem nächsten Mal rechne.« Dann zieht er wieder seine Taschenuhr heraus.
»Warte!«, rufe ich und mustere die Decke noch eingehender. »Was soll ich denn sehen?« Er muss mir das sagen, damit ich beim nächsten Mal weiß, ob ich dauerhaften Schaden an der Zukunft oder der Gegenwart angerichtet habe, falls so etwas noch mal passiert.
»Entweder du siehst es oder nicht«, sagt er und zuckt mit den Schultern. »Und wenn du es nicht siehst, kann ich es dir nicht beibringen.«
Und damit dreht er den Deckel seiner Taschenuhr und hält das ganze Ding hoch. Er ist größer als ich – auch wieder nicht schwer –, also kann ich das Ziffernblatt nicht sehen. Ich kann nichts sehen eigentlich, bis auf ein merkwürdiges blaues Licht, das vom Ziffernblatt seiner Taschenuhr auszugehen scheint. Es wirft einen Kreis um ihn und dann einen Kreis um uns, wird größer und größer mit jeder Minute, die er sie hochhält.
Und dann, als der Kreis groß genug ist – als er uns alle und den gesamten Raum einschließt –, greift der Historiker hinein und packt etwas, das aussieht wie eine Handvoll Licht. Und dann schleudert er es hinauf zur Decke an die Stelle, auf die er mich zuvor hingewiesen hat.
Ich rechne mit einer Explosion oder so was – es fühlt sich an, als würde in letzter Zeit immer irgendwas explodieren –, aber das blaue Licht überzieht nur einen ganzen Bereich der Decke, bevor es sich weiter und weiter in der Höhle ausbreitet.
»Das ist es?«, flüstert Macy. »So repariert man einen Riss in der Zeit? Mit etwas Licht?«
»Etwas komplizierter ist es«, antwortet der Historiker.
Er schnippt mit den Fingern und das größte vorstellbare Paar Stricknadeln taucht in seiner Hand auf. Er schnippt erneut und Julia Michaels’ und Niall Horans What a Time hallt durch die ganze Eishöhle.
Hudson ist jetzt auf meiner einen Seite, Macy auf der anderen. Ich sehe zwischen den beiden hin und her, ob sie verstehen, was hier passiert – der Historiker scheint mir definitiv nicht wie der Typ für Popmusik –, aber sie beide sehen so perplex aus wie ich. Besonders, als der Refrain sich mitten im Song wiederholt und der Historiker beginnt, mit dem Kopf zu nicken und mit geschlossenen Augen mitzusingen – während er vor sich in der Luft mit superschnellem Tempo strickt.
»Sehen das alle?«, zischt Flint aus dem Mundwinkel. »Oder habe ich Wahnvorstellungen vom Paracetamol, das ich genommen habe?«
»Paracetamol macht keine Wahnvorstellungen«, schnaubt Eden.
»Also ist das echt?« Flint sieht völlig baff aus.
»Es ist auf jeden Fall etwas«, sagt Mekhi.
Der Historiker wählt diesen Moment, um die Augen zu öffnen, und sieht, wie wir ihn alle anstarren. »Was?«, fragt er, während der Song den Refrain in Endlosschleife abspielt. »Das ist ein Bebop.«
Um das zu beweisen, schließt er wieder die Augen und fährt fort, den Kopf im Rhythmus zu dem aktuell niemals endenden Refrain vor und zurück zu bewegen. Und während ich das Lied wirklich gern mag – One Direction forever, Baby –, sind sogar Macy und ich nach dem gefühlt dreihundertelften Mal Refrain in Dauerschleife bereit, um Gnade zu flehen.
Der Historiker jedoch nickt fröhlich mit, während er strickt und strickt und strickt. Da ist keine Wolle oder irgendwas an den Stricknadeln befestigt, aber er bewegt die Spitzen einfach immer weiter hin und her im Rhythmus der Musik, bis er endlich, mitten in Wiederholung Nummer dreihundertzwölf, aufhört.
Die Musik hört auch auf – Gott sei Dank – und er hält die Stricknadeln hoch und verkündet: »Voilà!«
Zuerst denke ich, er hat uns völlig vergessen, da er über fünf Minuten lang ins Nichts gestrickt hat, als wären wir nicht einmal da, aber dann sehe ich sie: winzige, hauchzarte Fäden, die um ihn herum durchs Licht schweben. »Was ist das?«, frage ich und strecke die Hand aus, um einen mit der Fingerspitze zu berühren.
Aber ein rascher Schlag mit seinen Stricknadeln auf meine Knöchel lässt mich die Hand zurückreißen. »Das sind Zeitstränge«, sagt er, »unberührt von Babyhalbgöttinnenhänden.« Er wirft mir einen Blick zu. »Und das muss so bleiben.«
»Welche Stränge?«, fragt Eden, die sich vorbeugt, um besser sehen zu können. »Ich sehe nichts.«
»Ich auch nicht«, stimmt Macy ihr zu.
»Sie sind genau hier«, sage ich und deute auf mehrere in unserer Nähe, wobei ich mir große Mühe gebe, sie nicht zu berühren. Meine Fingerknöchel tun vom ersten Schlag noch weh.
Aber meine Freunde sehen verwirrt aus. Sogar Hudson schüttelt den Kopf. »Für uns ist da nichts zu sehen, Grace.«
»Aber da ist etwas.« Ich reibe mir die Augen, dann sehe ich noch einmal hin, um sicherzugehen, dass der Historiker mich nicht veräppelt. Tut er nicht. Die hauchdünnen Stränge sind direkt vor uns.
»Seht her«, sagt der Historiker und dreht seine Stricknadeln zwischen den Fingern wie Trommelstöcke.
»So ein Angeber«, sagt Bloodletter und verdreht die Augen.
Er schnaubt. »Das sagst ausgerechnet du.«
Und dann stößt er eine Stricknadel vor, hakt eine der langen Fasern auf die Spitze, zieht sie hoch und wirbelt sie über unseren Köpfen herum. Er dreht das Element immer wieder herum und lässt es dann einfach los.
In der Sekunde, in der er das tut, fliegen die Stränge überallhin. Im Raum herum, an die Decke hinauf, gegen die Wände und – erschreckenderweise – direkt auf meine Freunde und mich. Ich rechne damit, dass sie sich um uns schlingen, uns vielleicht fesseln, aber das, was am Ende geschieht, ist sehr viel bizarrer: Die Fäden gehen einfach durch uns hindurch.
Ich spüre sie unter meiner Haut, wie sie sich durch Muskeln und Blut, Adern und Knochen schneiden. Es tut nicht weh, aber es fühlt sich unglaublich seltsam an, wie eine Million Libellen, die durch jeden Teil von mir sirren. Und als ich mich umdrehe, um nachzusehen, ob es Hudson gut geht, ob die Fäden ihm wehtun, steht er einfach da, als hätte er keine Ahnung, was gerade passiert.
Macy sieht genauso drein. Und Jaxon und Flint und die anderen ebenfalls. Keiner von ihnen ahnt, dass der Historiker gerade diese Dinger, was immer es ist, durch unsere Haut geschleudert hat.
Sekunden später hört das seltsame Sirren in mir auf. Hektisch sehe ich mich um. Die Stränge sind direkt durch uns hindurchgegangen. Ich sehe sie jetzt hinter Macy und Hudson – dünn und zart, und sie wischen weiter durch den Raum, durchdringen, was immer in ihrem Weg ist.
»Ich bin beeindruckt«, sagt der Historiker zu mir. »Ich wusste nicht, ob du sie sehen könntest. Aber anscheinend bist du das volle Paket.«
»Was heißt das?«, frage ich. »Und warum können die anderen diese Fäden nicht sehen?«
»Welche Fäden?«, fragt Flint und er klingt wieder angepisst – was momentan heißt, er ist wieder normal.
Der Historiker verdreht die Augen. »Das ist eine Gottsache«, sagt er zu mir, als würde das alles erklären.
Bevor ich ihm noch weitere Fragen stellen kann, dreht er die Stricknadeln noch einmal wie Trommelstöcke. Sie verschwinden mitten in der Umdrehung, was auch sonst. Nicht Surfstreicher oder schrulliger alter Mann. Langsam halte ich den Historiker für einen frustrierten Rockstar.
»Und was jetzt?«, frage ich, denn ich habe immer noch nicht gesehen, dass etwas in dieser oberen rechten Ecke der Höhle passiert, in die er zuvor geschaut hat.
»Jetzt?« Er zieht beide Brauen hoch. »Warten wir.«
»Warten?«, fragt Jaxon. »Worauf?«
Der Historiker grinst und irgendwie sieht das noch beängstigender aus als sein Stirnrunzeln. »Das werdet ihr schon sehen.«