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Ich vergattere dich

»DAS LIEF GUT«, KOMMENTIERT MACY von ihrem Platz neben der Tür.

»Ich habe niemand anderen vortreten sehen, also …« Ich verstumme, nehme die Kugel mit Saltwater Toffee und lasse sie zwischen den Händen hin und her rollen. »Was sollen wir jetzt tun? Jedes Stück probieren, bis was passiert?«

»Was genau soll deiner Meinung nach passieren?«, will Flint wissen. »Dich erfüllt auf magische Weise das Wissen über uralte Götter und ihre uralten magischen Waffen?«

»Hey, sei nett«, sagt Macy zu ihm. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, der sein weniger-als-strahlendes Verhalten in letzter Zeit auffällt.

»Das war nett«, antwortet er.

Seine Erwiderung geht mir schon auf die Nerven. Und vielleicht würde ich ihn dafür sogar zur Rede stellen, wenn wir nicht mitten in einer so wichtigen Sache steckten. Doch im Moment müssen wir uns über größere Dinge Gedanken machen als Flints miese Laune und auf keinen Fall möchte ich jetzt aus der Spur gebracht werden, wenn ich endlich das Toffee in Händen habe.

Ein Blick zu Hudson zeigt, dass er mich beobachtet, einzuschätzen versucht, was ich denke und fühle. Er muss es herausgefunden haben, denn er sagt nichts. Stattdessen blickt er nur von mir zu Flint und wieder zurück. Ich habe keinen Zweifel, dass er Flint mit einem warnenden Ausdruck ansieht, aber ich weiß zu schätzen, dass er es mich auf meine Art machen lässt. Ein Streit zwischen den beiden ist das Letzte, was wir jetzt brauchen.

Eden muss dem zustimmen, denn sie springt ein, bevor Flint die Gelegenheit hat, noch etwas Gemeines zu sagen. »Du kannst die Süßigkeiten wegwerfen. Die werden nichts ausrichten.«

»Woher weißt du das?«, fragt Mekhi. »Wir haben nicht mal probiert.«

»Weil sie die nicht so großzügig hergeben würde, wenn sie von Wert wären«, antwortet Macy nüchtern.

»Toll.« Ich sehe angewidert auf die Bonbons hinab. »Was soll ich jetzt mit denen machen?«

»Lass sie einfach auf dem Tresen liegen«, sagt Jaxon.

»Was ist Plan B? Oder sind wir jetzt bei Plan G?«, fragt Eden und sieht auf ihr Telefon, dann stellt sie einen schwarzen Stiefel auf den Rand eines niedrigen Regals. »Es ist fast sieben Uhr morgens.«

»Ich weiß«, sage ich. »Glaub mir, ich weiß. Aber wir brauchen dieses Gegenmittel, um die Gargoylearmee zu befreien …«

»Scheiß auf die Gargoylearmee«, gibt Flint zurück. »Tut mir leid, aber die ist seit tausend Jahren in Stein gefangen. Ein paar Tage mehr werden nicht schaden.«

»Nein, aber ohne Unterstützung gegen Cyrus zu ziehen wird uns schaden.« Ich schüttle den Kopf. »Ich weiß, das nervt. Ich weiß, du willst an den Vampirhof. Das wollen wir alle. Aber wir sind schon gegen Cyrus angetreten und es ist nicht gerade gut gelaufen. Wir brauchen Unterstützung, damit wir eine Chance haben.«

»Wenn wir uns reinschleichen und die Kinder und die Lehrkräfte befreien können, ohne dass er es merkt, haben wir eine ganze Wagenladung Hilfe dabei, aus dem Hof zu entkommen. Der Hexenhof hat zugestimmt, uns zu helfen, wenn wir die Kinder befreien«, hält Macy dagegen. »Wir müssen nur unbemerkt hineinkommen. Wen schert es, wie viel Krach wir beim Rauskommen machen?«

»Und wenn man uns schnappt?«, fragt Jaxon. »Wer rettet sie dann? Wer rettet uns

Macy macht ein Geräusch tief in der Kehle. »Du kannst dieses Argument nicht immer bei allem anbringen, was wir sagen.«

»Sicher können wir das«, sagt Hudson. Er lehnt sich mit der Schulter gegen eine der gespenstischen schwarzen Wände, aber die Intensität in seinem Blick straft die lässige Haltung Lügen. »Du hast nie bei Cyrus gelebt. Du hast ihn nie wirklich in Aktion gesehen. Du hast dich sicherlich nie gegen ihn gestellt. Wir können also dieses Argument absolut anbringen, denn man wird uns in den Arsch treten, wenn wir es auf uns gestellt versuchen. Schon probiert.«

»Kennen wir«, fügt Jaxon hinzu.

»Haben den Arsch versohlt bekommen«, beendet Hudson den Satz.

»Tja, schön, ihr habt überlebt und könnt darüber reden«, sagt Macy. »Das reicht …«

»Manche von uns haben überlebt«, presst Flint hervor. »Ihr vergesst immer wieder den Teil, in dem einige von uns nicht überlebt haben. Und ich bin bereit, Cyrus verdammte Vergeltung zu zeigen.«

Macy nickt. »Und ihr vergesst auch, dass meine Mutter da drin ist.« Ihre Stimme wankt. »Sie wird uns helfen …«

»Du meinst die Mutter, die dich vor Jahren verlassen hat und sich seither bei Cyrus versteckt?« Jaxons Worte sind hart, aber er liegt nicht falsch. Sosehr ich meine Tante finden möchte, alles in mir sagt, dass wir erst die Armee retten müssen, wenn wir eine Chance haben wollen.

»Ihr braucht sie nicht anzugreifen«, blafft Eden Jaxon an, dreht sich dann aber zu Macy um und sagt sanfter: »Es tut mir leid, Macy. Das war vielleicht arschig formuliert, aber er hat recht. Wir wissen nicht, auf welcher Seite deine Mom steht oder warum. Und ich für meinen Teil bin es leid, auf Beerdigungen zu gehen. Wir brauchen Hilfe.«

»Ich kann nicht glauben …«, fängt Macy an.

»Das reicht.« Jaxon beendet den Streit mit einer heftigen Geste, jedes bisschen der Vampirprinz, den ich kennenlernte. »Wir sind jetzt hier und wir bringen das zu Ende.«

»Schön.« Macy sieht angepisst aus, als sie die Arme kreuzt und sich auf den Fersen zurücklehnt. »Sagt mir, wie ihr das angehen wollt, und ich höre auf, etwas gegen den Gang an den Vampirhof zu sagen.«

»Ich frage sie einfach«, sage ich. »Ich meine, was ist wohl das Schlimmste, das sie tun kann?«

»Dein schlagendes Herz aus deinem noch warmen Körper reißen und essen«, schlägt Mekhi vor.

»Dir die Eingeweide rausschneiden und sich an deinen Innereien laben«, fügt Flint hinzu.

»Dich enthaupten und deinen Kopf als Schmuck für einen dieser gruseligen Bäume benutzen«, beendet Macy.

Als alle sie überrascht ansehen – Folter ist normalerweise nicht der Modus Operandi meiner sonst so sonnigen Cousine –, zuckt sie nur mit den Schultern. »Ach, kommt schon. Ihr habt diese Frau gesehen. Glaubt einer von euch wirklich, dass sie nicht zu all diesen Dingen und noch Schlimmerem in der Lage ist?«

Sie hat nicht unrecht. Aber hier herumstehen und uns zu zanken führt uns nirgendwohin, und Eden hat bei einer Sache recht. Die Zeit läuft. Je länger wir die Kinder und Lehrkräfte am Vampirhof lassen, desto wahrscheinlicher ist, dass ihnen etwas Schreckliches zustößt.

Statt also abzuwarten und zu versuchen, eine Einigung zu erzielen, mache ich jetzt Nägel mit Köpfen. Ich trete hinter den Tresen und klopfe an die Tür, durch die die Frau vor ein paar Minuten verschwunden ist. Hudson ist innerhalb eines Herzschlags hinter mir, dicht gefolgt von Jaxon und Macy. Ich hatte auch nicht weniger erwartet. Wir mögen uns ja streiten, aber ich muss daran glauben, dass wir am Ende einander doch den Rücken decken.

Mehrere Sekunden vergehen und niemand kommt zur Tür, also klopfe ich wieder, diesmal etwas lauter und entschiedener.

Immer noch keine Antwort.

»Scheiß drauf«, murmle ich und strecke die Hand nach dem Türgriff aus. Ich bekomme jetzt irgendwie Antworten.

Ich rechne damit, dass die Tür verschlossen ist, aber das ist nicht der Fall. Der Knauf dreht sich glatt unter meinen Händen und die Tür schwingt weit auf.

Ich weiß nicht, was ich dahinter zu sehen erwarte – ein Lagerraum oder ein Altar für Menschenopfer sind nur ein paar der Dinge, die mir durch den Kopf flitzen. Die Frau, die mir das Toffee verkauft hat, scheint zu beidem fähig – und zu allem dazwischen ebenso.

Was wir jedoch vorfinden, ist sehr weit von allem entfernt, was ich mir jemals hätte vorstellen können. Der Toffeeladen öffnet sich in einen kurzen Flur mit ein paar Türen zu jeder Seite, die zu einer riesigen runden Arena im Stil des Kolosseums des alten Roms führt. Der Boden besteht aus Gras und Erde, und es ist zwar noch niemand auf dem Feld, aber die übereinander angeordneten Ränge sind voll mit Paranormalen aller Arten.

Es ergibt keinen Sinn – wir haben diesen Bereich von draußen gesehen, als wir uns umsahen, und da war nichts außer mehr Läden. Wie in aller Welt kann hier ein riesiges Stadion sein, das keiner von uns bemerkt hat?

»Ist das ein Ludares-Feld?«, frage ich.

»Ich glaube nicht«, antwortet Hudson. »Es hat nicht die richtige Form. Ludares-Felder sind rechteckig und das ist ein Kreis.«

»Was geschieht dann …«

»Ich bin beeindruckt, Gargoyle.« Die Frau ist zurück, nur dass sie dieses Mal in ein eng anliegendes Sporttrikot gekleidet ist, auf dem in großen Blockbuchstaben der Name Tess gedruckt ist, zusammen mit 3.695 in viel kleineren Ziffern. Dasselbe schwarze Gurtgeschirr vervollständigt den Look. »Ich dachte nicht, dass du es in dir hast, die Tür zu öffnen.«

»Sie war nicht verschlossen«, erwidere ich. »Es war nicht schwer, hier reinzukommen.«

»Tatsächlich liegst du da falsch.« Sie macht ein Klickgeräusch im Mundwinkel. »Für jemanden, der nicht gegen Magie immun ist, ist es sehr schwer, diese Tür zu öffnen. Ziemlich verdammt unmöglich sogar.«

Sie tritt zurück und macht eine weit ausholende Bewegung mit dem Arm, die das Feld umfasst. »Was denkst du?«

»Ich weiß nicht, was ich da sehe«, antworte ich.

»Du siehst das, weshalb du hergekommen bist«, sagt sie. »Klar.«

»Tatsächlich glaube ich, es gab da ein Missverständnis. Wir suchen nach …«

»Was alle suchen, wenn sie nach St. Augustine, Florida, kommen. Die Quelle der Jugend. Auf diesem Feld kannst du versuchen, sie dir zu verdienen.«