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Es gibt wirklich ein paar Sachen, die man online nicht bekommt

LIAM WEISS, WAS PASSIERT  – ich sehe es in seinen Augen, in seinem Gesicht, in dem stummen Schrei, den er nicht ausstoßen kann.

Er macht kein Geräusch, aber das braucht er auch nicht. Tränen fließen ungehindert über seine Wangen, und in seinen Augen tobt so viel Angst, dass es mich lähmt. Uns alle, der Reglosigkeit und Stille meiner Freunde nach zu urteilen.

Ich sehe, wie die Macht seinen Körper verlässt. Jedoch sehe ich nicht, wie die Magie Tropfen um Tropfen aus ihm herausfließt, sondern was ihre Abwesenheit hinterlässt.

Es ist, als würde Isadora seine Seele zusammen mit seiner Macht nehmen, und nie in meinem Leben habe ich etwas Grauenhafteres gesehen.

»Sie ist eine Seelensaugerin«, flüstert Mekhi schockiert und ich weiß sofort, dass er recht haben muss. Liam schrumpft vor unseren Augen, Muskeln und Fleisch verkümmern mit jeder Sekunde. Aber es ist mehr, als dass er nur an Masse verliert. Es ist, als würde auch er schwinden. Seine Haut nimmt einen kränklich gelben Farbton an, seine Augen sinken tief in seinen Schädel, als wäre er nichts als Haut und Knochen.

Er sackt vorwärts, so schwach, dass selbst die Ketten ihn nicht aufrecht halten. Isadora will zurücktreten, aber Cyrus hält sie mit einem Knurren auf.

»Mach ihn fertig«, fordert er.

»Gerne«, antwortet sie, aber sie klingt nicht annähernd so begeistert – oder so liebenswürdig – wie zuvor.

Sekunden später hört Liam auf zu weinen, seine Augen schließen sich mit einem abgehackten Seufzen, das mein Blut gefrieren lässt. Er ist tot. Oh mein Gott, er ist tot und Isadora hat ihn getötet, ohne auch nur einmal darüber nachzudenken.

Ich bete, dass ich falschliege, bete, dass er nur ohnmächtig ist vor Schmerz. Aber dann lässt Isadora die Hand ihres Vaters los und reißt die Stäbe aus Liams Brust, und ich weiß, dass ich nicht falschliege. Der Orden hat gerade ein weiteres Mitglied verloren.

Macy weint jetzt auch, leise und traurig, als würde die Welt enden. Und das verstehe ich. Wer weiß schon, wen von uns Cyrus und seine scheißkalte Tochter als Nächstes ins Visier nehmen.

Voller Entsetzen sehe ich zu, wie Liams geschrumpfte Handgelenke aus den Fesseln rutschen und sein lebloser Körper mit einem übelkeiterregenden Geräusch zu Isadoras Füßen zu Boden sinkt. Sie scheint ihn kaum zu bemerken, als sie zum Regal zurückgeht und die Stäbe in einen bereitstehenden Glasbehälter mit klarer Flüssigkeit fallen lässt. Einen Augenblick darauf färbt sich die Flüssigkeit rötlich, weil Liams Blut von den Stäben gespült wird und darin herumwirbelt.

Ein Teil von mir kann immer noch nicht glauben, dass das passiert ist, dass Liam tot ist. Vor sechzig Sekunden hat er gelebt und sich gegen Cyrus’ Anschuldigungen zur Wehr gesetzt. Jetzt liegt er tot am Boden, eine Hülle der Person, die er einmal war.

Mein Magen rumort und grollt, während das gerade Geschehene durch meinen Kopf zuckt. Isadora hat nur eine Minute gebraucht, um ihn zu leeren und zu töten, aber ich habe keine Zweifel, dass die Bilder ihres Angriffs mich für immer begleiten werden.

Ich erwarte, dass Jaxon jetzt ausrastet, aber er überrascht mich, indem er kein Wort sagt. Das macht aber auch sonst niemand. Der ganze Raum ist im Nachklang von Liams Tod gespenstisch still. Alle meine Freunde sind entsetzt – am Boden zerstört – wie ich.

Cyrus dagegen sieht noch zufriedener mit sich aus, rollt mit den Schultern und schüttelt die Arme hin und her, als hätte er gerade ein wirklich hartes Work-out hinter sich.

»Ja, das reicht fürs Erste, Isadora«, sagt er. Er schüttelt weiter die Arme aus und ich begreife. Er absorbiert gerade all die Macht – all die Magie –, die er Liam gestohlen hat. Dieser Bastard.

Nachdem er seine Nach-Mörder-Dehnübungen beendet hat, geht er zu mir zurück, einen fragenden Ausdruck im Gesicht, fast als wolle er nachsehen, ob er meine Aufmerksamkeit hat.

Die er absolut und auf jeden Fall hat. Liam so sterben zu sehen hat etwas mit mir gemacht. Es hat mich überzeugt, dass ich alles tun werde, absolut alles, damit das niemandem mehr zustößt, den ich liebe.

»Was willst du?«, frage ich mit einer Stimme, die vor unvergossenen Tränen rau ist.

»Den Göttlichen Stein«, antwortet er. »Und du bist die Einzige, die ihn für mich besorgen kann.«

»Und warum ist das so?«, frage ich, entschlossen, nicht einzuknicken, obwohl mir so übel ist, dass ich das Gefühl habe, jede Sekunde kotzen zu müssen.

»Weil der Göttliche Stein am erstarrten Gargoylehof ist, und du bist die Einzige, die Zugang zu diesem hat, natürlich. Liam konnte es nicht erwarten, mir das zu sagen, also mach dir nicht die Mühe, es zu leugnen.«

»Wenn er da ist, wo du sagst, was genau lässt dich dann denken, dass ich ihn dir hole?«, frage ich.

Er grinst nur, als hätte ich etwas Lustiges gesagt. Obwohl seine Worte alles andere als amüsiert sind. »Wenn du es nicht tust, bekommst du einen Platz in der ersten Reihe, wenn alle, die du liebst, auf dieselbe Weise sterben wie Liam. Und beim nächsten Mal zeige ich keine Gnade.«