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Schütteln, rütteln und rennen wie noch was

DIESER GEDANKE BEWIRKT, DASS ICH mich gerade aufrichte und Cyrus niederstarre, obwohl ich immer noch an die Wand gekettet bin. Er muss all das hier durchmachen in der Hoffnung, eines Tags ein Gott zu werden. Ich bin bereits eine … oder zumindest eine Halbgöttin. Er ist ein Vampir mit Wahnvorstellungen, was seine eigene Wichtigkeit angeht.

Ich kann es nicht erwarten, ihm zu zeigen, wie unwichtig er wirklich ist – womit ich anfange, sobald er zustimmt, meine Freunde mit mir kommen zu lassen.

Er muss zustimmen. Das muss er. Es ist wirklich die einzige Möglichkeit, damit mein Plan funktioniert.

Er hebt eine Braue, als unser Starrwettbewerb weitergeht, was mich fast zum Lachen bringt. Wenn er glaubt, ein einschüchterndes Grinsen wird mich zum Nachgeben bewegen, dann kennt er seine Söhne offensichtlich kein bisschen. Ich bin praktisch seit meinem ersten Tag an der Katmere gegen ähnliche Blicke von Jaxon und Hudson angetreten, und ich gewinne öfter, als dass ich verliere.

Anscheinend macht Übung die Meisterin, denn Cyrus gibt der Sache noch ein paar Sekunden, dann lenkt er mit einem gelangweilten Winken der Hand ein. »Schön, was auch immer. Du kannst meine nutzlosen Söhne und ein paar von den anderen mit nehmen. Aber was vom Orden übrig ist, bleibt hier. Für jeden Tag, den du mich warten lässt, verfüttere ich einen von ihnen an die Wölfe.« Er grinst höhnisch. »Sie werden ihren Spaß haben, ihre Knochen zu naschen, denkst du nicht auch?«

Tatsächlich denke ich, dass er wirklich ein Monster ist – und das hat nichts mit den Fängen und der Aversion gegen Sonnenlicht zu tun. Nein, dieser Mann ist ein Monster, weil jeder Gedanke in seinem Kopf, alles, was er tut, für sich selbst ist. Ihn schert es nicht, wem er wehtut, wen er benutzt oder wen er zerstört , solange er seinen Willen bekommt. Er scheut keine Mühe, jemanden zu verletzen, nur um seinen Standpunkt deutlich zu machen.

Es ist widerlich und ich bin entschlossen, das aufzuhalten. Vielleicht nicht heute, aber bald. Sehr, sehr bald.

»Außerdem«, sagt er listig aus dem Mundwinkel, »nimmst du Isadora mit.«

Er muss Witze machen. Nicht das Dämonenkind.

Mir gelingt es, mein Gesicht so weit unter Kontrolle zu behalten, dass sich meine Abscheu nicht zeigt – aber die anderen sind nicht so locker. Jaxon knurrt, Macy wimmert und Flint murmelt: »Oh, Shit.«

Nur Hudson und Eden gelingt es, ihr Elend zu unterdrücken. Das heißt nicht, dass ich es nicht spüre, aber wenigstens schwenken sie nicht die weiße Fahne so wie die anderen.

Cyrus liebt es aber. Er feixt wie der gemeine Bastard, der er ist.

Isadora jedoch scheint nicht annähernd so amüsiert. Ihr Pokerface ist so gut wie Hudsons, aber sie hat die letzten paar Minuten damit verbracht, ein wahrscheinlich dämonisches Kunstwerk in den Tisch in der Ecke zu kratzen. Doch das konstante Kratz, Kratz, Kratz ihres Messers auf der Holzoberfläche stottert kurz bei seinen Worten.

Ihr Unbehagen hält nicht lange an, aber es reicht, um mir zu verraten, dass sie nicht damit gerechnet hat, dass Cyrus sie mit uns schickt. Vielleicht sollte mich dieses Wissen beunruhigen. Sie ist immerhin ein ernst zu nehmender Faktor. Einer, der eine beängstigende Vorliebe für Messer aller Größen hat.

Aber es ermutigt mich. Wenn Isadora keine Ahnung hatte, dass das passieren würde, ändert Cyrus seinen Plan. Er handelt aus einem Impuls heraus. Und wenn er mir ausnahmsweise einmal nicht fünf Schritte voraus ist, habe ich die Chance, etwas Boden gutzumachen – besonders jetzt, da ich das Schachbrett zum so ziemlich ersten Mal überhaupt so deutlich sehen kann.

Nicht dass ich unbedingt mit Isadora am Gargoylehof abhängen möchte – oder irgendwo anders. Das Mädchen ist verflucht beängstigend, und mit jeder Minute, die wir mit ihr verbringen, scheinen unsere Chancen darauf, unsere Finger und Zehen zu behalten, zu sinken … und auch alles andere, an dem wir hängen.

Diese Bedenken werde ich sicher nicht mit Cyrus teilen. Ich behalte jeden Vorteil für mich, egal wie klein. Weshalb ich total lässig mit den Schultern zucke. »Passt für mich. Je mehr, desto lustiger, wie ich immer sage.«

»Das sagst du nie«, zischt Macy leise.

»Vielleicht nicht, aber ich denke es oft«, erwidere ich, dann wende ich mich wieder Cyrus zu. »Ich brauche jedoch noch eine Sache.«

Jetzt zieht er beide Brauen hoch. »Du stellst viele Forderungen für jemanden, die gerade an eine Wand gekettet ist.«

»Was soll ich sagen? Ich bin anspruchsvoll.« Dieses Mal werfe ich das Haar zurück wie ein Champion, kanalisiere die innere Diva, die ich definitiv nicht habe. »Aber das ist ein netter Übergang zu der Sache, über die ich reden möchte.«

Ich schüttle mein Handgelenk, rassle mit den Ketten. »Du wirst mich losmachen müssen. Ich kann meine Fähigkeiten nicht nut zen mit diesen Magie-Aufhebe-Fesseln und auf keinen Fall kann ich uns anders an den erstarrten Hof bringen. Und an diese Wand gekettet zu sein ist unerträglich

Ich trage dick auf – vielleicht zu dick –, aber Cyrus schluckt es. Großer Schock. Er glaubt so sehr, dass ich einfach ein dummes, schwaches, kleines Mädchen bin, dass er jede Gelegenheit nutzt, sich das selbst zu beweisen.

Normalerweise würde ein solcher Frauenhass mich so was von beleidigen, aber gerade jetzt? Nehme ich jeden Vorteil, den ich kriegen kann. Einige der mächtigsten Frauen der Welt wurden genau dazu, weil ein Mann – oder mehrere Männer – sie unterschätzten. Ich bin mehr als nur geneigt, Cyrus denselben Fehler begehen zu lassen.

Es muss funktionieren, denn er nickt einer Wache zu, die daraufhin vorstürzt, um meine Ketten aufzuschließen. Gott sei Dank. Ich fühle mich wie ein Vogel, der endlich die Flügel ausbreiten kann, als ich meine Gargoyle wieder spüre.

Natürlich warnt mich ein rascher Blick zu Hudson und Jaxon – die beide knapp den Kopf schütteln –, dass ich meine Flügel nicht zu weit ausstrecken soll. Nicht dass ich vorhatte, meine Kräfte jetzt zu nutzen. Nicht wenn mein ganzer Plan auf der Prämisse aufbaut, dass Cyrus mich unterschätzt.

Außerdem muss ich diesen verdammten Göttlichen Stein für diesen Bastard holen und beten, dass ich meine Kräfte und die meiner Freunde nicht über schätze, wenn wir zusammenarbeiten, damit mein Plan funktionieren kann. Denn während Cyrus mit seinem Stein spielt und seinen Aufstieg zur Göttlichkeit plant, weiß ich genau, wohin wir unsere Schachfiguren als Nächstes ziehen. Es ist an der Zeit, dass die Königin die Kontrolle über dieses Brett übernimmt – und ich habe einen Plan, den er nicht kommen sehen wird.

Wir werden ihm seinen verdammten Stein geben, aber dann beschaffen wir die Tränen von Eleos. Und wir werden diese verdammten Proben bestehen.

Und dann befreien wir meine Armee und nutzen die Krone, um dafür zu sorgen, dass Cyrus niemals mehr wieder irgendjemandem wehtut.

So verflucht einfach.

Ich strecke Cyrus meine Hand entgegen, um den Deal zu besiegeln. Er sieht sie ein paar Sekunden lang an, als würde sie plötzlich zur Klapperschlange, bereit zuzustoßen. Aber am Ende schiebt sich seine Handfläche gegen meine.

Als er meine Hand mit seiner umschließt, wiederhole ich die Bedingungen, bevor er es kann. »Der Deal lautet: Ich bringe dir den Göttlichen Stein und du lässt alle von der Katmere frei, einschließlich der Lehrkräfte und Onkel Finn. Du wirst keinem von ihnen schaden – oder sonst jemandem –, und wenn wir gehen, nehmen wir jeden mit, einschließlich meiner Tante Rowena. Haben wir eine Vereinbarung?«

»Ich versichere dir, dass ich niemanden gefangen halten werde, wenn du mir den Stein in den nächsten vierundzwanzig Stunden bringst. Aber für jeden Tag, den du mich warten lässt, töte ich einen Gefangenen, angefangen mit Jaxons wertvollem Orden. Deal?«

Ich schlucke schwer, versuche die Angst zu unterdrücken, die in meinem Magen brodelt. Ich muss darauf vertrauen, dass ich das hier schaffe – es ist die einzige Möglichkeit aus diesem Chaos, die ich sehe. Mehr noch, es ist die einzige Möglichkeit, Cyrus ein für alle Mal zu schlagen, was ich unbedingt will.

»Deal«, sage ich und bin stolz darauf, dass meine Stimme nicht zittert.

Sobald ich eingewilligt habe, sirrt Elektrizität zwischen uns meinen Arm hinauf und raubt mir den Atem, als das kleine Tattoo eines blutigen Dolchs sich in meinen Unterarm brennt.

Es ist mit das Schönste – und das Böseste –, was man sich vorstellen kann.

»Was zur Hölle hast du getan?«, flüstert Jaxon.

»Was ich tun musste«, antworte ich und zögere, Hudson anzusehen.

Aber er drückt unsere Gefährtenbindung und ich begegne seinem Blick, seine Augen knittern ein wenig in den Winkeln und Wärme strömt über die Bindung in mich. Natürlich steht er hinter mir – daran hätte ich nie zweifeln sollen. Und als mein Blick von Macy zu Mekhi zu Jaxon zu Dawud zu Eden und zu Flint wandert, merke ich, dass sie alle das tun, egal was zwischen uns passiert ist. So wie ich hinter ihnen stehe, egal was als Nächstes passiert.

Aber als das Brennen des Tattoos endlich nachlässt, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, ob Sartre doch recht hatte. Wenn man gezwungen ist, einen Deal mit dem Teufel einzugehen, heißt das nicht, dass man bereits verloren ist?