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Schere, Stein, Zahn

MEHRERE GARGOYLES EILEN AN Rodrigos Seite und legen die Handflächen auf die Erde und auf seinen Rücken, kanalisieren so heilende Magie in seinen vornübergeneigten Körper. Ich weiß so gut wie die anderen Gargoyles, dass eine Heilung mit Erdmagie langsam vonstattengeht, und wir alle warten geduldig, während sie sich um ihren Kameraden kümmern.

Über unseren Köpfen rollt eine Reihe dunkler Sturmwolken heran, die die Sonne aussperren und die Luft in ein gespenstisches Dunkelblaugrau verwandeln, und ich hoffe wirklich, es ist kein schlechtes Omen.

Rodrigo regt sich und zieht meine Aufmerksamkeit zurück auf das Übungsfeld. Chastain befiehlt: »Heilt ihn nicht vollständig. Sein Knie sollte heute ein wenig wehtun, um ihn daran zu erinnern, niemals einen Gegner zu unterschätzen.«

Harsch, aber ich muss zugeben, dass es mir gefällt. Ich hasse solche Tyrannen wirklich.

Chastain wendet sich jetzt an Flint und Eden. »Möchten die Drachen als Nächste gegen meine Krieger antreten?«

»Ich denke, wir passen«, sagt Flint.

Chastain sieht nicht begeistert aus, aber er sagt nichts weiter.

Ich beuge mich zu Flint. »Ich würde nicht zulassen, dass sie etwas tun, was Drachen verletzt«, sage ich leise.

»Nicht böse gemeint, Grace, aber ich glaube nicht, dass du sie aufhalten könntest.«

Die Antwort nagt etwas an meinem Nervenkostüm – vielleicht, weil ich tief in mir weiß, dass er recht hat. Trotzdem. »Ich habe die Krone. Ich kontrolliere die Armee.«

Flint sieht zweifelnd drein. »Das mag so sein, aber ich würde diesem Chastain-Typen nicht so weit trauen, wie ich ihn werfen kann. Ich bin nicht überzeugt, dass er nicht genau das will, dass wir ihm zeigen, wie man uns schlägt.«

Gut zu wissen, dass ich nicht als Einzige von Chastains Haltung irritiert bin, aber ich glaube nicht, dass er uns verraten würde. Cyrus auszuschalten nutzt ihm genauso sehr wie uns. Trotzdem möchte ich nicht mehr mit Flint streiten, also necke ich ihn bloß: »Um fair zu sein, du könntest ihn ziemlich weit werfen, da du so ein knallharter Drache bist.«

»Wahre Worte.« Er grinst, tut so, als wolle er die Muskeln spielen lassen. »Tatsächlich …« Er bricht mitten im Satz ab, sein Grinsen wird innerhalb eines Wimpernschlags zu einer finsteren Grimasse.

Ich blicke hinter mich, neugierig, was ihn so verärgert hat. Aber ich sehe nur Jaxon, der in die Mitte des Übungsrings tritt, als gehöre er ihm.

Ich drehe mich wieder um und will fragen, was los ist, aber Flint geht bereits mit langen Schritten davon, die Fäuste an den Seiten geballt.

Ich sehe ihm nach und eine Last drückt mir auf den Brustkorb. Alles ist gerade so verkorkst, und ich weiß einfach nicht, wie ich das wiedergutmachen kann, egal wie sehr ich es auch versuche. Es ist wirklich verdammt schiefgelaufen und ich kann nichts tun, um wiedergutzumachen, was Flint alles verloren hat. Aber gerade jetzt ist die Bedrohung größer denn je und wir müssen zusammenhalten und nicht auseinanderfallen.

»Hey.« Hudsons Hand legt sich auf meine Schulter, und als ich mich umdrehe und zu ihm aufblicke, sind seine Augen wärmer als seit einer ganzen Weile. Das zu sehen lässt den Schmerz in mir nicht verschwinden, aber es lindert ihn ein wenig, was mehr ist, als ich erwartet habe. »Ich dachte, ich nutze den plötzlichen Schatten und sehe nach dir.«

»Du hast gerade verpasst, wie Dawud einen doppelt so großen Gargoyle erledigt hat«, sagt Macy voller Schadenfreude. »Es war unglaublich.«

Ich lehne mich mit einem Seufzen gegen ihn und bade in seiner verlässlichen Kraft, während Macy ihm Dawuds epischen Kampf haarklein schildert. Ich lasse seine Wärme in mich eindringen, lasse sie ein wenig von der Angst vertreiben, die in mir gewachsen ist, seit wir die Katmere fallen sahen.

Seit ich begriffen habe, dass nichts in dieser neuen Welt aus wechselnden Allianzen und gebrochenen Versprechen stabil bleibt. Mehr noch, nichts ist sicher. Ich weiß nicht, wie man dagegen angeht, und ich weiß sicher wie Hölle nicht, wie man dagegen gewinnt.

Im Trainingsring hebt Jaxon ab und schliddert dann über den Stein, mit dem Gesicht voran.

Hudson zuckt zusammen. »Das wird wehtun.«

»Sollten wir das beenden?«, frage ich, als Jaxon aufspringt und sich auf einen der fünf Gargoyles wirft, die gerade mit ihm im Ring sind.

Der Gargoyle will ihn aus der Luft greifen, aber Jaxon ist bereits am Boden, fegt dem Gargoyle die Beine weg und landet auf ihm. Er nimmt seinen Kopf in den Schwitzkasten, und obwohl er ihm nicht das Genick bricht, ist die Mahnung doch spürbar.

Ein Gegner am Boden, noch vier stehen. Jaxon dreht sich um und will es mit noch zweien aufnehmen, aber statt anzuerkennen, dass er raus sein sollte, bockt der Gargoyle, der gerade festgenagelt war, und packt Jaxon, der nicht mit dem Angriff rechnet. Sekunden später fliegt Jaxon wieder durch die Luft – dieses Mal kracht er so hart gegen eine Wand, dass der Boden erzittert.

»Ich kann mir das nicht mehr ansehen«, sagt Hudson und zuerst denke ich, er will Flint folgen.

Stattdessen phadet er zu Jaxon, der den Kopf schüttelt, um ihn wieder klar zu bekommen. Ich sehe zu, wie er ihm die Hand hinhält und etwas sagt, bei dem Jaxon die Augen verdreht und gleichzeitig lacht.

Sie gehen zurück in den Ring und Jaxon winkt mit einem Arm auf eine »Nur zu«-Art. »Wenn du willst, versuch’s, großer Bruder«, höhnt er. »Zeig mir, wie man das wirklich macht.«

»Ja, schön, aber freu dich nicht zu sehr«, gibt Hudson zurück. »Ich bin nicht sicher, ob du damit klarkommst.«

Jaxons Augen werden gefährlich schmal. »Forder dein Glück lieber nicht heraus.«

»Siehst du, da unterscheiden wir uns.« Hudson grinst. »Für dich ist es Glück. Für mich ist es reines Können.«

Eine Sekunde lang glaube ich, dass Jaxon »Zur Hölle mit den Gargoyles« sagen wird und sich auf Hudson stürzt. Aber er lacht nur und hebt eine Hand in einem rückwärtsgewandten Peace-Zeichen, bei dem ich ziemlich sicher bin, das er Hudson den Mittelfinger zeigt, auf Britisch, bevor er an die Seite tritt.

Ich blicke hinüber zu Isadora, die allein auf einer der Steinbänke am Rand sitzt. Sie ist da, blickt gelangweilt drein, seit das Training anfing, und zuerst dachte ich, es läge daran, dass sie der Armee nicht helfen will zu erlernen, wie man ihren Vater schlagen kann. Aber jetzt richtet sie sich ein wenig auf, als Hudson gegenüber von mittlerweile sieben knallhart aussehenden Gargoyles Position bezieht.

»Das Erste, was ihr über einen Kampf mit einem Vampir wis sen müsst«, sagt er und springt zurück, um einem machtvollen Schwertschlag nach seinem Bauch auszuweichen, »ist, dass wir schneller sind als ihr, und wir haben bessere Reflexe.«

Um das zu beweisen, schlägt er mit der Hand zu, und ein Gargoyle fällt, bevor er auch nur ahnt, dass Hudson angreifen wird. »Ihr könnt mit uns nicht mithalten in einem Einzelkampf Vampir gegen Gargoyle.« Er dreht sich um und tritt einem anderen Gargoyle so fest in den Bauch, dass der mehrere Schritte weit weg auf dem Hintern landet.

»Oder auch in einem Zwei-gegen-einen-Kampf.« Hudson grinst. »Aber das heißt nur, ihr solltet nicht mit dem Ziel kämpfen, sofort zu gewinnen. Sondern um zu ermüden.«

Er beugt sich vor und lässt einen angreifenden Gargoyle über seinen Rücken rollen, dann packt er sich seinen Arm und sein Bein, wirbelt herum und wirft ihn wie einen Diskus gegen den Gargoyle, dem er gerade eben in den Bauch getreten hat. Der arme Kerl war nach dem Schlag erst wieder auf die Füße gekommen und jetzt ist er wieder am Boden, begraben unter dem größten Gargoyle auf dem Feld.

»Was meinst du?«, fragt Chastain, der die Action umkreist. Er beobachtet jede von Hudsons Bewegungen mit Interesse, und es macht mich nervös, weil mir Flints Worte wieder einfallen. Will er wirklich lernen, wie man Cyrus’ Armee schlagen kann, oder sucht er insbesondere bei meinem Gefährten nach einer Schwäche?

Ich weiß die Antwort nicht und darum muss ich mich eher früher als später kümmern. Der Sinn darin, die Proben zu bestehen, liegt darin, die Armee vom Gift zu heilen, damit sie uns helfen kann, Cyrus zu schlagen und die Krone anzuwenden. Ich habe einfach immer angenommen, dass die Armee das wollen würde – den Vampir bestrafen, der sie vergiftet und ein Jahrtausend lang hier eingesperrt hat. Aber was, wenn ich falschliege? Was, wenn sie nur befreit werden wollen, um endlich wieder zu leben, wirklich zu leben?

Vielleicht träumt Chastain davon, eines Tags eine Gefährtin zu finden und sich in einem kleinen Dorf in Irland zur Ruhe zu setzen. Ich versuche, mir diesen mächtigen General vorzustellen, wie ihn nichts plagt, als sich um einen kleinen Gemüsegarten zu kümmern und sein Heim vor einem gelegentlichen Gewittersturm zu beschützen.

»Lass die Schultern nicht so hängen, Thomas!«, blafft Chastain, als Hudson noch einen Gargoyle über das Feld wirft und der mit einem schmerzhaften Knall aufkommt.

Ich schüttle den Kopf. Chastain wurde geboren, um zu führen. Jedes Mal, wenn Hudson einen Angreifer zurückschlägt, spannt Chastain den Kiefer an, ein Hinweis darauf, dass er nicht tolerieren kann, jemanden aus seiner Armee leiden zu sehen. Natürlich wird er Cyrus davon abhalten wollen, ihnen jemals wieder zu schaden.

»Ihr könnt Vampiren nicht davonlaufen. Ihr seid ihnen bei einem Angriff auch nicht überlegen. Unsere Reflexe sind zu schnell. Also ist eure beste Chance, Cyrus’ Armee zu erschöpfen.« Als wolle er diesen Punkt beweisen, duckt er sich in letzter Sekunde und weicht einem Angriff von hinten aus, dann fährt er herum und führt eine Eins-zwei-drei-Schlagkombination gegen einen Gargoyle aus, der kaum angefangen hatte, sich in Position zu bringen.

»Und was schlägst du vor?«, fragt Chastain.

»Bringt sie zum Phaden. Wieder und wieder. Unsere Fähigkeit zu phaden ist nicht unbegrenzt – es erfordert viel Energie und es zermürbt uns irgendwann. Ihr habt Flügel. Nutzt sie. Lasst sie euch nachphaden, lasst sie springen in dem Versuch, euch zu erwischen. So ermüdet ihr sie und dann schlagt ihr zu.«

Er wirbelt mit übernatürlicher Schnelligkeit herum und schickt mit einer weit ausholenden Geste seines Arms drei Gargoyles zu Boden.

Da beginnt der Kampf im Ernst, acht Gargoyles drängen gegen Hudson in einem koordinierten Angriff. Es gelingt ihm, unter ihnen hervorzukommen, dann rast er durch den Trainingsring. Sie jagen ihn – zu Fuß und in der Luft –, aber gerade als es aussieht, als hätten sie ihn in die Ecke getrieben, stürzt Jaxon sich ins Getümmel.

Er macht sein Telekineseding und schwebt mehrere Meter über dem Boden, was heißt, er kann die fliegenden Gargoyles packen, einen nach dem anderen, und sie zu Hudson schleudern. Der sie aus der Luft pflückt und zu Boden knallt.

Ja, das ist meine Armee und ich sollte in ihrem Namen empört sein, aber mein Gefährte und sein Bruder legen eine viel zu gute Show hin. Die beiden Typen, die die meiste Zeit in Konflikt standen, geben ein wirklich gutes Team ab.

Ich blicke wieder zu Isadora, die sich jetzt vorgebeugt hat, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und die Schlacht mit einem Interesse verfolgt, wie ich es bei ihr bisher noch nicht gesehen habe. Sie zuckt sogar, als einer der Gargoyles einen ziemlich guten Schlag gegen Jaxon landet.

»Du musst nicht auf der anderen Seite bleiben, weißt du.« Noch während ich die Worte ausspreche, frage ich mich, ob ich einen Fehler mache. Aber da ist etwas in ihren Augen – etwas, das da unter all dem Eis und dem Spott lungert –, das mich glauben lässt, dass da noch mehr ist. Dass sie vielleicht wirklich Hudson sehr ähnlich ist.

»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Das Eis ist wieder da und doppelt so dick.

»Ich sage nur, es gibt eine andere Art zu leben als unter Cyrus’ Daumen. Hudson hat eine gefunden, das kannst du auch.«

»Bist du nicht niedlich?«, antwortet sie bissig.

»Ich sage nur …«

»Ich weiß, was du sagst«, faucht sie. »Und für wen zur Hölle hältst du dich, dass du zu wissen glaubst, was ich will?«

»Das tue ich nicht«, antworte ich. »Ich weiß nur, dass es sich besser anfühlt, wenn man jemanden auf seiner Seite hat, statt allein dazustehen.«

Isadora antwortet nicht, aber eine Sekunde lang – nur eine Sekunde – wirkt sie verwundbar.

Ich beschließe, meinen Vorteil zu nutzen, auch wenn es vielleicht dumm ist. »Du hast zwei wirklich unglaubliche Brüder. Ich gebe gern als Erste zu, dass sie unnahbar wie Hölle sind, aber die beiden sind wirklich gute Kerle, die alles für die tun würden, die sie lieben.«

»Für dich, meinst du nicht?«, knurrt sie und jede Spur von Verletzbarkeit ist wieder unter diesem Haufen Gehabe begraben.

»Für mich, ja. Absolut. Aber auch für Macy und Mekhi und Flint und Eden und andere. Wenn sie dich einmal als eine der Ihren akzeptiert haben, ändert sich das nicht mehr.« Ich schweige und sehe auf zu den dunklen Wolken, die immer noch heranrollen und die Sonne verbergen. Ich frage mich kurz, ob es ein Omen dessen ist, was auf dem Weg zu uns ist, oder vielleicht die Hoffnung, dass all dieser Schmerz bald weggewaschen wird. Egal wie, die Veränderung naht. Ich wende mich wieder Isadora zu und riskiere es noch mal. »Du bist bereits Familie für sie. Diese Liebe und der Schutz sind da, wenn du es willst.«

Isadora beißt sich auf die Unterlippe und blickt kurz zum Trainingsring, wo Jaxon und Hudson gerade damit fertig sind, ihre Opposition zu zerstören. Sie stehen in der Mitte des Rings, die Hände in die Hüften gestemmt, und grinsen einander an, während acht Gargoyles stöhnend um sie herum liegen.

Mein Herz schmilzt ein wenig bei diesem Anblick, aber es scheint den gegenteiligen Effekt auf Isadora zu haben, die sich mit einem bewussten Augenrollen abwendet. »All diese Niedlichkeit mag ja für dich funktionieren, aber wenn ich etwas von Cyrus gelernt habe, dann, dass es nichts umsonst gibt. Und mal ehrlich, ich bleibe lieber bei dem Zahlungsplan, den ich mir bereits eingerichtet habe.«