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Viel zu knapp an einer Rasur und einem Haarschnitt vorbei

IRGENDWIE GELINGT ES MIR, aufrecht zu bleiben, was ich als Sieg verbuche, da ich gerade mit einem verdammten Breitschwert geschlagen wurde – womit ich früher nie im Leben gerechnet hätte. Ehrlich mal, wenn wir sonst nichts schaffen, aber wir müssen den Gargoylehof befreien und dieser Epoche entkommen, in der alles mit einem Schwert geregelt wurde, und zwar bevor meine Arme abfallen.

Ich wirble auf Beinen herum, die sich plötzlich wie Gelee anfühlen, und es gelingt mir, mein Schwert herumzuwuchten und es gegen seine Kniekehlen zu schlagen. Er stolpert, fällt jedoch nicht, und dann stürzt er sich mit erhobenem Schwert auf mich und teilt einen mächtigen Schlag aus.

Ich weiche aus und drehe mich in die andere Richtung, und der Schlag, der mir den Kopf hatte abtrennen sollen, geht glatt vorbei. Normalerweise würde ich zurückspringen, von seinem Schwert weg, damit er zu mir kommen muss. Aber ich versuche nicht, diesen Mann in einem Schwertkampf zu schlagen – erstens ist das ziemlich unmöglich, da er seit über tausend Jahren mit einem Schwert trainiert und kämpft und ich seit … nicht mal fünf Tagen. Und zweitens brauche ich nicht gegen ihn zu kämpfen. Ich muss nur nahe genug an ihn herankommen, um ihn berühren zu können.

Ursprünglich dachte ich, es wäre sinnvoller, einfach hinter ihn zu treten und mit meiner Hand seinen Arm zu streifen oder so, aber er ist immer wachsam, wenn ich in der Nähe bin, also glaube ich nicht, dass er mich so nahe heranlassen würde. Und außerdem muss ich ihn in einer Situation erstarren lassen, in der die anderen Gargoyles nicht reagieren und ihm helfen, bevor ich den Ring holen kann. Niemand würde es wagen, sich bei einer Herausforderung einzumischen – oder hoffentlich nicht, bevor ich mir nehmen kann, was ich brauche.

Chastain ist ein gerissener Gegner, er dreht sich, reißt das Schwert hoch, und als ich mich aus dem Weg werfe, säbelt er mir etwa fünf Zentimeter Haare auf der rechten Seite ab – was so was von nicht Teil des Plans war. Es ist zwar besser, als wenn er mehr erwischt hätte, aber ich bin zu wütend, um darüber nachzudenken.

Er spielt mit mir. Ich weiß es, er weiß es und alle anderen im Publikum ebenso. Dieser Mann hat sein gesamtes Leben mit einem Schwert trainiert. Ich bin ihm nicht gewachsen. Er hätte das hier schon beenden können, wenn er gewollt hätte. Er zieht es nur vor, mich nach und nach zu demütigen.

Erneut holt er aus und ich bin ziemlich sicher, dass er es auf mehr Haare abgesehen hat, aber das wird so was von nicht passieren. Also lasse ich mich zu Boden fallen und rolle herum, was alle Gargoyles zum Lachen bringt, da sie glauben, ich würde aufgeben.

Aber ich bin nicht einmal nah dran aufzugeben, denn indem ich mich an ihm vorbeirolle, zwinge ich ihn, sich zu drehen, statt aus dem Weg zu springen, und ich strecke eine Hand aus und streife damit sein Bein – und greife zugleich nach meinem grünen Faden.

Es ist ein Risiko, jemanden erstarren zu lassen, der bereits in der Zeit erstarrt ist, und ich rolle weiter, nur für den Fall, dass es nicht funktioniert. Doch als ich an ihm vorbei und wieder auf die Füße gesprungen bin, ist er aus Stein, ein Bein vor das andere gestemmt, das Schwert in einem Aufwärtshieb, das Gesicht vor Konzentration angespannt. Der Ring ist eindeutig kein Stein an seiner Hand.

Mein Herz hämmert mir in der Brust, als ich begreife, dass es funktioniert hat, dass wir den Ring nehmen und den Hof verlassen können. Ich hechte auf Chastain zu, aber Eden schreit zu meiner Linken und ich wirble herum.

Mein Magen sackt ab, da ich unterschätzt habe, was die anderen Gargoyles tun, wenn ich ihren Anführer erstarren lasse. Sie alle rennen auf mich zu – und tausend über das Feld auf einen zustürzende Krieger sind echt verdammt beängstigend.

So schnell ich kann, streife ich den grünen Faden und berühre Chastain zugleich.

Er beendet seinen Schlag, aber dann merkt er, dass ich nicht mehr da bin, wo ich stand, und das Schwert sirrt nicht einmal annähernd in meiner Nähe durch die Luft. Er wirbelt herum, die Augen aufgerissen und wild, sucht mich.

»Wie hast du das gemacht?«, fragt er.

Ein rascher Blick nach links zeigt mir, dass die anderen Gargoyles sich aus dem Kreis zurückziehen, also konzentriere ich mich wieder auf Chastain. »Ich sagte dir, ich hätte andere Gaben. Du hast nie gefragt, welche.«

»Ich frage jetzt. Du kannst Leute erstarren lassen?«

»Ich kann vieles«, sage ich, um Zeit zu schinden, sehe mich um, suche nach …

»Dann lass uns kämpfen«, knurrt er. »Wir werden sehen, wer diese Herausforderung gewinnt.«

Er ist fuchsteufelswild, dass ich die Oberhand über ihn hatte, rasend, dass irgendein Mädchen, das er nicht respektiert, einen Kampf mit ihm innerhalb eines Augenblicks hat stoppen können. Doch als er sein Schwert hebt und auf mich zurennt, flippe ich ein wenig aus.

Denn ich dachte, das hier wäre mittlerweile vorbei. Ich war sicher, dass ich jede Menge Zeit hätte, den Ring zu nehmen, wenn er erst erstarrt ist …

Chastain holt aus und ich ducke mich, stolpere weg. Ich denke daran, mich auf die andere Seite zu stürzen – vielleicht stürmt die Armee das Feld diesmal nicht, wenn ich ihn wieder erstarren lasse, weil sie sehen, dass es ihm gut geht.

Als er dieses Mal zu einem komplizierten Überschlag-Dreh-Manöver ausholt, versuche ich nicht einmal, ihm auszuweichen. Ich verwandle mich in Stein, absorbiere den gewaltigen Hieb und dann verwandle ich mich wieder, packe sein Handgelenk und streife meinen Halbgöttinnenfaden.

Er erstarrt, ich greife nach seiner Hand und die gesamte Armee stürmt wieder über das Feld auf mich zu.

Selbst wenn ich den Ring bekomme, werde ich es nicht lebend aus diesem Kampfring herausschaffen.

Ich stürzte mich schnell auf seine Seite, streife wieder meinen grünen Faden, lasse ihn sofort wieder frei.

»Wie kommt es, dass die gesamte Armee in den Ring stürzt, wenn ich dich erstarren lasse?«, höhne ich. Vielleicht befiehlt er ihnen, dass sie nicht mehr reagieren sollen, wenn ich seine Ehre angreife. »Haben sie solche Angst, dass ihr General von einem Mädchen besiegt wird?«

»Die Gargoylearmee hat geschworen, die Wehrlosen zu schützen, meine Königin «, sagt er und umkreist mich wieder mit erhobenem Schwert. »Wählst du den Weg des Feiglings und lässt du mich erstarren, ist die gesamte Armee bei ihrer Ehre dazu verpflichtet, mich zu beschützen. Sie abzuberufen, würde ihre Essenz verändern, was wir sind und wofür wir stehen.«

Seine Worte schneiden tiefer als jedes Schwert.

Ich möchte ihn anschreien, dass dies ein Krieg ist, dass nicht alles schwarz oder weiß ist – dass ich nicht ehrlos bin. Aber es wäre sinnlos. Chastain hat sich bereits innerhalb von Minuten nach unserer Vorstellung seine Meinung über mich gebildet. Ich wurde gewogen und für extrem ungut befunden.

Und ich hab es ehrlich so satt.

Er lässt mir keine Wahl, als auf eine Verzweiflungstat zu setzen und zu hoffen, dass ich damit keinen Gott verärgere.

Ich schicke ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass Jikan nicht bemerkt, was ich jetzt tue. Es schien ihm nichts auszumachen, dass ich uns am Vampirhof habe erstarren lassen, um herzukommen. Sicher taucht es nicht auf seinem Radar auf, wenn ich noch ein paar Leute für eine Minute – vielleicht weniger, wenn ich schnell genug an den Ring komme – erstarren lasse. Er surft doch wahrscheinlich sowieso?

Also lasse ich mich fallen und rolle wieder herum – so weit weg von Chastain, wie es geht.

Und dabei greife ich tief in meinen Geist nach allen schimmernden Fäden, die ich finden kann. Sie sind dünn und silbern, und obwohl ich sie seit Bloodletters Höhle nicht berührt habe, lege ich den Arm um sie alle und ziehe sie fest an meine Brust – während ich wieder meinen grünen Faden streife.

Augenblicke darauf erstarrt jeder Gargoyle auf dem gesamten Übungsfeld.

Jetzt muss ich nur den Ring von Chastains Hand ziehen und sie wieder loslassen, während wir den Hof verlassen. Ich stürze zu Chastain, schreie meinen Freunden über die Schulter zu: »Macht euch bereit! Wir müssen schnell weg, sobald ich den Ring habe!«

Ich erreiche Chastain, meine Hand greift schon nach seinem Finger, da lässt ein lauter Donnerschlag mich herumfahren.

Und da taucht der Gott der Zeit auf.

Und er sieht nicht glücklich aus.