5
Am nächsten Abend fegte ich gerade den Boden in der Strandmuschel, als Morlen hereingestürmt kam.
»Hey, Maus, wie war der erste Tag? Was habt ihr gemacht? Ich will alles wissen.«
Sie trug noch ihre Reithose und verschluckte sich fast beim Sprechen. »Jaja, war super. Ich gehe jetzt fliegen.«
Ich hielt in der Bewegung inne und stützte mich auf den Besen. »Fliegen?«
»Jonas’ Papa hat einen Schein, wir treffen uns am Flugplatz.«
»Ah.« Um Zeit zu gewinnen, kehrte ich weiter. Feiner weißer Sand rieselte aus den Borsten des Besens auf die Holzdielen.
»Heißt das, ich darf?« Sie hatte schon Schluckauf vor Aufregung.
»Ach so.« Ich bückte mich und kehrte den Sand auf das Blech, wobei ein Großteil der kleinen Körnchen danebenrieselte. Vielleicht hätten wir direkt Sand auf dem Boden ausschütten sollen, dachte ich. Er kroch sowieso überallhin und ließ sich nie vollends entfernen. »Du wolltest mich eigentlich fragen, ob du darfst?«
»Mama!« Morlen hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt, auf ihrem Gesicht zeichnete sich ehrliche Verzweiflung ab.
Ich stand auf und lief auf sie zu. »Mausi! Noch mal von vorn: Jonas’ Vater hat einen Pilotenschein und ein kleines Flugzeug, und damit will er mit euch vom Flugplatz aus eine Runde über die Insel drehen?«
»Das sag ich doch die ganze Zeit.«
»Dann lass uns mal losradeln.« Schmunzelnd ging ich nach hinten, stellte den Besen im Lagerraum ab und griff nach meiner Strickjacke.
»Wie jetzt, du kommst mit?«, hörte ich Morlen rufen.
Mit der Jacke überm Arm ging ich in Richtung Tür. »Morli, ich lasse dich doch nicht mit jemandem fliegen, den ich noch nie gesehen habe. Ich komme mit und gucke mir den Hobbypiloten mal an, okay?«
Sie wollte protestieren, ließ es dann aber bleiben. Offenbar hatte sie verstanden, dass ich grundsätzlich bereits Ja gesagt hatte.
Gemeinsam fuhren wir nach Hause, wo sie die Reitsachen gegen ein Sommerkleid eintauschte und sich beim Umziehen beeindruckend schnell eine Banane in den Mund stopfte, gefolgt von etwa zwanzig Salzbrezeln. Für ein richtiges Abendessen hatten wir keine Zeit, aber zum Glück hatte es am Stall noch Waffeln für alle Teilnehmer der Reitfreizeit gegeben.
Wir radelten durch die Dünen in Richtung Leuchtturm, wo der kleine Flugplatz der Insel lag. Rauf und runter, über die sanften, spärlich bewachsenen Sandhügel. Morlen wirkte tief in Gedanken versunken. Noch immer hickste sie zwischendurch. Ich sah sie von der Seite an, ihre feine Nase, die strubbeligen dunkelblonden Haare, die ausdrucksstarken Augen, die gebräunte Haut. Alles von ihrem Vater. So wie Hannah ganz Simon war, war Morlen ganz Jan. Ich trug die Kinder offenbar nur aus.
»Geht es dir gut, meine Maus?«, fragte ich nach einer Weile. Ich musste laut sprechen, denn der Wind blies heute wieder heftig.
Sie sah von ihrem Fahrrad aus zu mir herüber. Die Haare wehten ihr immer wieder ins Gesicht. »Ja.«
Der Gegenwind war so stark geworden, dass Morlen mit ihren dünnen Beinen kaum dagegen ankam. An einer steilen Dünenkuppe gab sie auf und schob. Oben blieb sie keuchend stehen. Ich schob mein Rad neben sie und strich ihr zärtlich über den Kopf.
»Musst du auch immer an Oma denken, wenn du hier bist?«, fragte ich leise.
Etwas erschrocken sah sie auf.
Ich lächelte sie liebevoll an. »Ich schon, weil Oma die Dünen so gemocht hat. Ich wüsste gern, wie viele Nachtwanderungen sie hier unternommen hat, mit wie vielen Kindern aus dem Landjugendheim.«
Morlen neben mir atmete immer noch schwer. Irgendwann sagte sie: »Sie konnte einen gut erschrecken.«
»Oh ja.« Ich lachte laut auf. »Dabei sah sie so lieb und harmlos aus.«
»Aber sie hat einen gern zum Kreischen gebracht.« Jetzt lächelte auch Morlen. »Sie hat mich oft erschreckt, wenn ich mein Rad in den Schuppen gestellt habe, vor allem wenn es schon dunkel war. Oder wenn ich abends noch mal aufs Klo gegangen bin. Oder wenn ich nach einer gruseligen TKKG -Folge wieder zu ihr runterkam. Manchmal war ich dann richtig sauer auf sie. Obwohl ich sie doch eigentlich so liebhatte.«
So viele Sätze am Stück hatte Morlen lange nicht zu mir gesagt. Ohne dass es mir bewusst war, füllten sich meine Augen mit Tränen.
»Sie fehlt mir«, stieß sie angestrengt hervor und hickste laut. »So doll.«
Und dann fing auch sie an zu weinen. Ich ließ mein Rad stehen und drückte sie an mich, so fest ich konnte, und zu meiner Erleichterung ließ sie es geschehen. Ihr Kopf lag an meiner Brust, und ich spürte, wie mein Kleid dort warm und feucht wurde. Sie weinte stumme Tränen, und irgendwie war es genau das, was mir den Rest gab.
Vergebens mühte ich mich um Fassung. Erst nach einigen Minuten fand ich sie wieder. Ich kraulte Morlens Kopf und flüsterte in ihr Haar: »Ich finde es schön, dass wir uns gemeinsam an sie erinnern können.«
Sie nickte an meiner Brust, und ich streichelte sie sanft weiter.
Nach einer Weile sagte ich: »Wenn du ich wärst, Morlen, wenn du bestimmen könntest: Was würdest du mit Omas Haus machen?«
Sie hob den Kopf, Augen und Nase leicht gerötet. Dann blickte sie über die Dünen, als wäre in dieser rauen Landschaft die Antwort auf meine Frage zu finden.
»Du darfst es nicht verkaufen«, sagte sie. Dann, noch mal direkt an mich gewandt: »Bitte verkauf es nicht!«
Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Weil es dein Zuhause ist?«
Sie schniefte mehrmals und nickte dabei.
»Das verstehe ich.« Ich drückte sie erneut an mich. Mehr zu mir selbst als zu ihr sagte ich: »Manchmal hat man als Erwachsener das Gefühl, es nicht wirklich richtig machen zu können. Wenn ich es verkaufe, bist du traurig, und das verstehe ich. Und wenn ich es nicht verkaufe, dann …« Morlen sah mich fragend an. »Dann bekommen wir das Geld nicht … Aber das ist meine Sache. Darüber musst du dir nicht den Kopf zerbrechen.«
»Brauchen wir Geld?« Morlen zog die Nase hoch.
Ich zögerte. »Nein. Nein, nicht wirklich.«
Ich zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und wischte zuerst ihre und dann meine Tränen weg. Anschließend gab ich ihr ein frisches zum Naseputzen. Als sie fertig war, sah sie besorgt auf die Uhr.
»Die warten auf dich.« Ich lächelte ihr aufmunternd zu, drückte ihr einen Kuss auf die warme Stirn, und wir fuhren weiter. Immer Richtung Leuchtturm, rauf und runter, entlang der verschlungenen Pfade in den Dünen, bis in der Ferne der Flugplatz zu sehen war: eine kleine Landebahn, auf der ein paar einmotorige Maschinen standen, davor ein flaches Gebäude. Morlen hielt neben mir an und wischte sich die Augen.
Ich griff vorsichtig nach ihrem Kinn und betrachtete prüfend ihr Gesicht. »Man sieht nichts mehr. Du siehst wunderhübsch aus.«
Sie senkte verlegen den Blick und schob meine Hand weg. Dann begann sie plötzlich wie wild zu winken. Ich folgte ihrem jetzt wieder strahlenden Blick.
Vor einer schicken roten Maschine mit Propeller stand ihr Jonas neben einem Herrn, der sein Vater sein musste. Bestimmt Zahnarzt, die fliegen doch gern mal in ihrer Freizeit, dachte ich und schämte mich gleich darauf für meine Vorurteile.
Als wir näher kamen, fielen mir zwei Dinge auf: Zum einen strahlte Jonas meine Tochter auf eine Art und Weise an, die mich in Habachtstellung brachte. Und zum anderen kannte ich seinen Vater. Es war der Karohemd-Typ, der schon zweimal in der Strandmuschel gewesen war und so ein Theater um seinen Flat White machte. Ich ertappte mich dabei, wie ich kurz die Augen verdrehte.
Zum Glück hatte ich mich sofort wieder im Griff, ging mit freundlicher Miene auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Hallo, ich bin Morlens Mutter, Maria.«
Er grinste. »Wir kennen uns doch. Ihnen gehört das hübsche Strandcafé am Nordstrand.«
»Richtig. Und Sie haben eine Abneigung gegen Betonschaum.«
Er lachte, wobei er noch immer meine Hand schüttelte, ein bisschen zu heftig für meinen Geschmack. »Oh Mann, das muss ziemlich doof rübergekommen sein. Es war nur bisher immer so, dass man auf der Insel quasi keinen guten Kaffee bekommen hat. Im Vergleich zu …«
»… der Stadt, schon klar.« Ein kühles Lächeln meinerseits. »Ihr Flugplatz dort sieht sicher auch anders aus.«
»Nun.« Er rückte verlegen seine kantige Brille zurecht. »Dieser ist mir ehrlich gesagt lieber. Mit der Aussicht hier können wir im Ruhrgebiet jedenfalls nicht mithalten. Ich heiße übrigens Georg.«
Jetzt endlich ließ er meine Hand los. Jonas zeigte Morlen bereits die Kabine des kleinen Fliegers, dessen Sitze mit weißem Leder bezogen waren. Natürlich.
»Schön, dass Morlen mitfliegen darf.« Georg rieb sich die gepflegten Hände. An seinem Handgelenk klimperte eine trügerisch schlichte Uhr.
»Na ja.« Ich hielt den Kopf schief und musterte ihn interessiert. »Ich wollte erst den Mann im Cockpit kennenlernen, bevor ich endgültig entscheide.«
»Oh.« Er hob die dichten Augenbrauen. »Und, mache ich einen vertrauenswürdigen Eindruck? Ich habe über tausend Flugstunden, fliege seit fünfzehn Jahren hobbymäßig. Wolken sind auch keine am Himmel, kein Regen in Sicht, Wind fünf Knoten, also unbedenklich. Wollen Sie meinen Flugschein sehen?«
Morlen streckte den Kopf aus der Flugzeugtür. Sie strahlte wieder übers ganze Gesicht, als hätte unser Gespräch vorhin nie stattgefunden. Aber so waren die meisten Kinder: Ein Drama konnte noch so heftig sein, wenn sie etwas erfreute, war alles wie ausradiert. Eine herrliche Eigenschaft, die viele Erwachsene leider verloren hatten.
Ich winkte ihr zu. »Nein, nein, schon gut«, sagte ich zu Georg.
Er schmunzelte. »Kommen Sie doch auch mit, es gibt vier Plätze.«
»Ach, nein danke. Ich warte hier und schaue euch zu.«
»Flugangst?«
Ich lachte spöttisch auf. »Ich habe jahrelang quasi im Flugzeug gelebt.«
»Na dann …« Georg lächelte vielsagend in Richtung Rückbank, wo Jonas und Morlen Platz genommen hatten, beide mit geröteten Wangen. »Kommen Sie schon! Lassen Sie mich nicht mit den beiden Turteltäubchen allein.«
Ich zögerte. Bestimmt wäre Morlen das nicht recht.
Georg hatte offenbar meine Gedanken gelesen. »Morlen?«, rief er zu meiner Tochter hinüber. »Was sagst du, nehmen wir deine Mama auch mit?«
Sie war so beschäftigt mit Jonas, dass sie kaum Notiz von der Frage nahm und nur schnell nickte.
Georg grinste mich an. »Na dann, alle einsteigen!«
Als die kleine Maschine in vollem Tempo über die holprige Startbahn ratterte, fragte ich mich, wann ich zuletzt geflogen war. Kaum vorstellbar, aber es war tatsächlich jener Flug nach Hause gewesen, vor etwa dreieinhalb Jahren. Der Flug zu meiner Familie, in ein neues Leben. Die Maschine hob geschmeidig ab, und wir stiegen über die Dünen. Der Leuchtturm neben uns wirkte mit jedem Meter kleiner, genau wie die Fahrräder, die davor parkten. Dann tauchte am Horizont das Festland auf. Ich rückte die Kopfhörer zurecht, die Georg uns allen vor dem Start gereicht hatte, und hörte, wie er über Funk mit dem Tower sprach.
An uns gerichtet, sagte er: »So, Leute, auf geht’s! Wer zuerst das Wrack sieht, hat gewonnen.«
Wie schön meine Insel von hier oben aussah. Die sanften Hügel der Dünenlandschaft, umgeben von einem Ring aus weißem Sand, darum herum das tiefblaue Meer. Wir sind alle nur winzig kleine Teilchen eines großen Ganzen, dachte ich, winzig klein mit unseren Problemen auf dieser großen, weiten Welt. Was sind schon die Tagebücher meiner Mutter, offensichtlich an mich adressiert, gegen die Masse an Wasser da unten? Hätte ich Simon gefragt, was ich damit tun sollte, hätte er mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Lies sie doch einfach!« Alles war für ihn das entscheidende bisschen leichter.
»Da, ich sehe es!«, rief Morlen hinter mir.
Ich drehte mich zu ihr um. Sie zeigte begeistert aus dem Seitenfenster. Ihre andere Hand lag in der von Jonas, der meinen Blick bemerkte und sofort rote Ohren bekam.
Ich schaute ebenfalls hinaus und entdeckte tief unter uns eine kleine rostbraune Stelle im weißen Sand. Das musste es sein, das Schiffswrack, zu dem die Touristen so gerne wanderten. Dahinter lag die Meerenge, die Norderney und Baltrum trennte. Die Boote im Hafen der Nachbarinsel wirkten von hier aus wie Papierschiffchen.
»Waren Sie schon mal am Wrack?«, fragte Georg mit vom Kopfhörer verzerrter Stimme.
Ich drehte mich lachend zu ihm um. »Hallo? Ich wohne hier!«
Er zuckte mit den Schultern. »Es gibt viele Einheimische, die noch nie dort waren.«
»Ich schon.« Ich sah hinunter auf den Kanal zwischen den Inseln, dessen starke Strömung man von hier oben gut erkennen konnte. »Früher bin ich einmal die Woche hierher geritten. Jetzt komme ich nur noch selten so weit.« Seit ich Hannah habe, ergänzte ich im Kopf. Seit Simon in mein Leben getreten ist und ich keinen Fluchtreflex mehr verspüre. Seit ich hier wirklich zu Hause bin.
Georg schob sein Mikro zurecht. »Sie haben großes Glück, hier zu wohnen.«
»Das stimmt.« Ich konnte am Strand eine Gruppe Menschen erkennen, die offenbar zum Wrack wanderten. Sie wirkten von hier aus ein bisschen wie Ameisen auf ihrem Pfad. »Wie oft sind Sie in Ihrer Ferienwohnung?«
»Regelmäßig.« Er flog eine weite Linkskurve. »Ich bin in der Immobilienbranche tätig, und wir haben mehrere Projekte auf der Insel. Es ist also nicht nur Freizeit für mich. Es sei denn, ich bin mit Jonas hier, dann versuche ich, nicht zu arbeiten.«
»Ah.« Ich sah über die Schulter nach hinten. Jonas und Morlen sahen gedankenverloren aus dem Fenster, noch immer händchenhaltend.
»Ich hab die Kopfhörer der beiden ausgedreht.« Georg zwinkerte mir zu. »Jonas lebt bei seiner Mutter, wir sind seit einigen Jahren getrennt. Ich sehe ihn viel zu selten und genieße es, hier Zeit mit ihm zu verbringen.« Er lachte auf, was ein Fiepen durch die Kopfhörer schickte. »Aber ich fürchte, er verbringt seine Zeit gerade lieber mit jemand anderem.«
Ich lächelte. »Das kenne ich.«
Unter uns tauchte der endlos lange Nordstrand auf, dahinter die Dünenlandschaft. Der östliche Teil von Norderney war beinahe unbewohnt. Nur ein paar Höfe standen hier, weit auseinander, im Nirgendwo.
Ich spürte, dass Georg immer wieder zu mir herübersah. »Trete ich Ihnen zu nahe, wenn ich frage, ob Sie auch alleinerziehend sind?«
»Nein, schon okay. Ich habe einen Partner, und wir haben noch eine jüngere Tochter. Die beiden sind derzeit auf Reisen.«
»Oh, wie toll!«
»Ja.« Ich klang halbherzig. »Morlens Vater kommt sie regelmäßig hier besuchen oder holt sie in den Ferien zu sich.«
Georg drückte ein paar Knöpfe über uns. »Nicht so einfach, diese Patchwork-Sache. Egal, wie sehr man sich bemüht, am Ende gibt es nur Verlierer.«
Ich sah zu ihm hinüber. Er war längst nicht so übel, wie ich gedacht hatte.
»Schau mal, da unten ist dein Café. Huch, jetzt hab ich …«
»Lass uns gern du sagen«, unterbrach ich ihn.
Unter uns entdeckte ich die Strandkörbe am Nordstrand. Winzige Menschen lagen im Sand oder schwammen in den Wellen. Ich erkannte sogar ein paar Stand-up-Paddle-Boards. Und am Rand der Dünen, an der Strandpromenade, eingebettet in Sand und Dünengras, lag mein Café.
Die Strandmuschel sah von oben aus wie der alte Kiosk, der sie einst gewesen war. Bevor ich wochenlang alles renoviert und mit Simon und seinen Freunden Tische und Bänke gezimmert hatte. Von innen war sie nun ein echtes Juwel. Ich wünschte nur, sie würde auch Juwelen abwerfen. Alle hatten mir prophezeit, dass es schwierig sein würde, in der Gastronomie Geld zu verdienen. Aber ich trug diesen unerschütterlichen Glauben in mir, das Unmögliche schaffen zu können.
Von wegen. Jetzt war mein Konto leer. Ich konnte nicht mal mehr den Dachschaden beheben lassen, den ich von hier oben deutlich sehen konnte. Ein hässlicher dunkler Fleck mit ausgefransten Rändern.
»Der perfekte Ort für ein Strandcafé, da hattest du echt einen guten Riecher.« Georg drehte an einem der unzähligen Rädchen.
»Schon.«
»Endlich gibt es richtig guten Kaffee auf der Insel.« Er lachte und lenkte den Flieger zum Weststrand, wo Kinder auf Trampolinen hüpften.
»Also, Leute«, sagte Georg. Die Kopfhörer der beiden Kinder waren offensichtlich wieder aufgedreht, jedenfalls zuckten sie hinter uns zusammen. »Dann fliegen wir mal zurück.«
»Oh, schon?« Morlen schob die Unterlippe vor.
»Wir können das gern die Tage noch mal machen«, schlug Georg vor.
»Au ja!«, rief Morlen.
»Echt jetzt?« Jonas klang weniger begeistert. Kein Wunder, ich konnte nur erahnen, bei wie vielen Rundflügen er schon dabei gewesen war.
Georg drehte noch eine Runde über den Weststrand und über den Hafen, wo gerade eine Fähre anlegte. Sie spuckte neue Urlauber aus, weitere kleine bunte Ameisen, die sich über die Rampe an Land schoben.
Das Surfbecken tauchte auf, die Holzhütten der Surfschule, umgeben von üppig gewachsenen Sanddornsträuchern. Mein Simon, dachte ich. Wo steckst du nur?
Dahinter begann die Siedlung. Ich hielt nach dem Haus meiner Mutter Ausschau. Und tatsächlich, ich entdeckte es. Man konnte es kaum erkennen, so grün umwachsen war es.
Während Georg in den Landeanflug ging, suchte ich nach einem Taschentuch, um mir unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. Dabei ertastete ich in meiner Strickjacke ein Stück Papier. Ich zog es hervor, warf einen Blick darauf und entdeckte Simons Botschaft von neulich: Für die schönste Frau der Insel .
Hastig faltete ich den Zettel zusammen und steckte ihn wieder ein. Und dann ratterten auch schon die Räder über die Landebahn, und wir hatten wieder festen Boden unter uns.
Später, als Morlen im Bett war, saß ich in der dunklen Küche, vor mir auf dem Tisch das kleine Notizbuch, das ich gestern aus Mamas Keller mitgenommen hatte. Ich zündete ein paar Kerzen an und wählte dann Annis Nummer. Sie ging sofort dran.
»Hey, Schneckchen!«, begrüßte ich sie mit ihrem alten Spitznamen aus Jugendzeiten.
»Hey, schöne Frau, wie geht es dir?« Ich hörte sie im Hintergrund mit Papier rascheln.
Ich zögerte. »Bist du noch in deinem Atelier?«
Anni seufzte in den Hörer, aber ihre Stimme verriet, dass sie dabei lächelte. »Ja, ich habe gerade so einen Flow, das muss ich ausnutzen.«
»Ich will dich nicht stören. Es ist nur …«
»Du störst mich nie. Alles okay?«
»Ja, schon. Ich vermisse Simon und Hannah mehr, als ich dachte. Aber im Café ist gerade viel los, das lenkt mich ab.«
»Das ist doch gut.« Annis Stimme klang so warm, dass ich mich direkt ein bisschen entspannte.
»Ich wollte dich was fragen.«
»Schieß los.«
Ich spielte mit dem weichen Wachs einer der Kerzen. »Wenn du die Tagebücher von jemandem finden würdest, der dir viel bedeutet hat und der gestorben ist …«
»Ob ich sie lesen würde?«
»Genau.«
Einen Moment lang war es still in der Leitung. Dann sagte Anni: »Wenn es noch eine wichtige Frage gäbe, die mir diese Person nie richtig beantwortet hat, dann ja. Ja, dann würde ich sie lesen.«
Als ich nicht direkt reagierte, fügte meine schlaue Freundin sanft hinzu: »Maria, ich glaube, du solltest sie lesen. Wenn Iris sie nicht weggeworfen hat, dann gibt es dafür einen Grund.«
Wir sprachen noch etwas über ihre Kinderbuchillustrationen, ihren Freund Thies und über Morlen, dann mutmaßten wir gemeinsam darüber, warum Simon sich gerade nicht bei mir meldete. Wie immer fand Anni genau die richtigen Worte, um mich zu beruhigen. Dann ließ ich sie weiterarbeiten.
Ich legte das Telefon auf den Tisch und griff nach dem Notizbuch. Anni hatte recht. Behutsam schlug ich Mamas Tagebuch auf. Mit zittrigen Fingern fuhr ich über die klare, geschwungene Schrift in blauer Tinte. Daneben hatte Mama einen gepressten Sandhaferhalm geklebt. Gepflückt bei einem Dünenspaziergang auf Baltrum, Frühsommer 1983 stand darunter. Ich atmete tief durch und begann zu lesen.
August 1984
Liebe Maria,
wer hätte gedacht, dass du in mein Leben schneist? Du bist und bleibst ein kleines Wunder für mich. Während ich dies hier schreibe, liegst du in deiner Wiege neben mir und schläfst. Du bist zart und süß, aber wenn du wach bist, verrät dein Blick, dass du eine echte Löwin werden wirst, wenn du groß bist, wie dein Sternzeichen. Es heißt, Kinder kämen auf die Welt wie ein unbeschriebenes Blatt, aber als ich dir zum ersten Mal ins Gesicht sah, in der Nacht, in der du geboren wurdest, wusste ich: Das ist eine Lüge. Du jedenfalls bist kein unbeschriebenes Blatt. In deinen Augen steht geschrieben: Eines Tages wirst du eine große, stolze Frau sein. Eine Frau, die manches stärker fühlt als andere, die durch tiefere Täler muss als die meisten. Und du wirst fluchen und dich fragen, warum du diese vielen großen Gefühle hast. Aber in guten Momenten wirst du erkennen: Auch das Glück empfindest du stärker als andere. Wenn du liebst, wird es dich oft an den Rand der Verzweiflung bringen. Und manchmal an Orte, an denen wenige vor dir waren.
Wer weiß, vielleicht liege ich falsch. Vielleicht sind es nur meine Hormone, der Schlafmangel, die Medikamente, die sie mir geben, weil ich bei der Geburt viel Blut verloren habe. Vielleicht werden wir diesen Text eines Tages gemeinsam lesen und darüber lachen, wie vermessen ich war zu denken, ich wüsste, wer du einmal sein wirst, als du gerade vier Tage alt warst. Aber für den Moment, es ist wirklich wahr, sehe ich dich vor mir – ich sehe in dir bereits die wundervolle Frau, die du eines Tages sein wirst. Meine Vision sagt mir: Du wirst viele Fragen haben. Deswegen beginne ich dieses Tagebuch für dich. Ich hoffe, es wird einige davon beantworten können. Ich hoffe, es wird dir helfen zu verstehen, wer ich war und wie du die wurdest, die du bist. Wann auch immer du dies hier lesen wirst: Ich hoffe, du wirst mich dadurch etwas besser verstehen. Ich hoffe, du wirst mir verzeihen. Und wo auch immer du gerade bist, mein Kind: Ich hoffe, es geht dir gut.
Meine Gedanken rasten. Wie konnte es sein, dass in Mamas Keller die ganze Zeit über dieser Schatz gelagert hatte, ohne dass ich davon wusste? Wieso nur hatte sie mir nie davon erzählt? Und warum hatte sie die Tagebücher nicht entsorgt, als sie noch die Chance dazu hatte, sondern sie so ordentlich aufbewahrt? Hatte sie wirklich gehofft, dass ich sie nach ihrem Tod finden würde?
Ich legte das Tagebuch aufgeschlagen vor mir auf den Tisch. Diese Zeilen zu lesen, tat mir körperlich weh. Ich hörte Mamas Stimme, als würde sie mir alles vorlesen. Als wäre sie noch da. Ich hatte ihr Haus aufräumen wollen, um einen Schritt weiterzukommen. Und nun begab ich mich tief in unsere gemeinsame Vergangenheit. Wollte ich das wirklich?
Ich stand auf und sah nach Morlen. Sie hatte sich fast komplett unter ihrem Bettzeug vergraben, obwohl es eine milde Nacht war. Als ich die Decke von ihrem Gesicht schob, seufzte sie leise. Um sie nicht weiter zu stören, ging ich zurück in die Küche und stellte mich ans geöffnete Fenster. Am dunkelblauen Himmel schien hell der Mond. Ob Hannah und Simon wohl gerade denselben Mond betrachteten? Ich hatte nicht geahnt, dass mir die Distanz zu ihnen so zu schaffen machen würde. Ich nahm mein Handy vom Tisch und wählte Simons Nummer. Diesmal ging er dran.
»Hey, meine Süße.«
»Hey, wo steckt ihr?« Ich zündete mit dem Feuerzeug eine weitere Kerze auf der Fensterbank an.
»In Belgien mittlerweile, wir haben echt Spaß.«
Ich betrachtete die flackernde Flamme. »Ich vermisse euch, ich kriege gar nichts mit.«
»Tut mir leid.« Er klang überrascht. »Die Tage sind so voll. Aber Hannah geht es super, sie lernt überall Kinder kennen und buddelt im Sand. Heute hab ich ihr eine Schwimmweste angezogen und sie mit raus genommen.«
»Was hast du?« Ich lachte.
»Sie hat es geliebt.«
»Das glaube ich.«
Nach einem Moment der Stille fragte er: »Alles okay bei dir?«
»Es geht.« Ich rückte den Kerzenständer zurecht.
»Was ist los?«
»Die Dachreparatur wird teuer. Zu teuer. Und Morlen hat einen Freund.«
»What?«
»Ja, und ich habe angefangen, Mamas Haus auszumisten.« Mein Blick streifte das geöffnete Tagebuch auf dem Tisch.
»Oh. Das ist bestimmt nicht leicht.«
»Ja, aber du hattest recht, es muss sein. Gerade denke ich, ich werde dort nie wohnen können. Verkaufen wäre wohl doch besser.«
»Ach, meine Süße.«
»Simon, du fehlst mir.«
»Du mir auch.«
»Wirklich? Ich habe irgendwie das Gefühl, ich fehle dir nicht besonders. Ist alles okay zwischen uns?«
Es war diese eine Sekunde, in der er nicht antwortete. Diese eine Sekunde, die mich hinterher wach liegen und grübeln ließ. Die dazu führte, dass ich ihm doch nichts von Mamas Tagebuch erzählte.
»Alles bestens«, erwiderte er schließlich.
»Noch drei Wochen, dann hab ich euch wieder«, sagte ich schnell, um dieses ungute Gefühl zu vertreiben, um ihn irgendetwas sagen zu hören, was die Sekunde als eine Lücke im Funknetz entlarven würde.
Aber Simon atmete nur in den Hörer. Dann brach die Verbindung ab. Verzweifelt starrte ich mein Handy an. Ich würde warten. Vielleicht rief er ja noch einmal an. Bis dahin würde ich weiterlesen.
Deine Geschichte beginnt einige Jahre vor deiner Geburt, auf Baltrum. Das ist die kleinste bewohnte ostfriesische Insel, drei Dutzend Häuser um einen Dorfplatz in den Dünen, umgeben von Pudersand und Meer. Dort gibt es keine Autos und keine Sorgen, die ein ordentliches Glas Friesengeist nicht herunterspülen könnte – das behaupten zumindest die Urlauber, die jedes Jahr wiederkommen. Auch ich fuhr eines Tages dorthin. Ich war Anfang dreißig und noch ohne Familie. Nach und nach hatten alle meine Freundinnen geheiratet, die meisten hatten bereits Kinder, nur für mich war bisher nie der eine Mann dabei gewesen, an den ich mich hätte binden wollen. Ich habe mich oft gefragt, warum das so war. Vielleicht lag es an der Beziehung meiner Eltern, die mir so gar nicht erstrebenswert erschien. Vielleicht am Gesichtsausdruck meiner Mutter, wenn sie meinen Vater ansah und zu mir sagte: »Das, was dich an einem Mann am Anfang stört, das wird dich irgendwann um den Verstand bringen. Es sollte also zu Beginn nicht allzu viel davon geben.« Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich mir immer schon selbst genug gewesen war. »Ich brauche keinen Kerl, um glücklich zu sein«, das war immer mein Leitspruch. Und doch, natürlich gab es da auch diesen romantischen Teil in mir. Der vielleicht keinen Kerl brauchte, aber einen wollte. Trotzdem, irgendwie hat es für mich nicht sein sollen.
Auf Baltrum jedoch, in jenem heißen Sommer, traf ich einen Mann. Hannes. Er war auf der Insel geboren, hatte sie noch nie verlassen, und er sagte mir recht offen, dass er dies auch nicht zu tun gedenke. Wieso auch? Hier hatte er alles, was er brauchte: ein Boot, mit dem er zum Angeln hinausfuhr. Freunde, mit denen er sich abends zum Boule-Spielen auf dem Dorfplatz traf. Seine Tischlerwerkstatt hinter dem hübschen kleinen Kapitänshaus, das seine früh verstorbenen Eltern ihm vermacht hatten. Und das Teleskop auf dem Dachboden, mit dem er abends in den Nachthimmel über der Nordsee sah und mir die Sternbilder erklärte. Es hat mich immer schon zu Menschen hingezogen, die eine starke Leidenschaft für etwas besitzen. Die ihr Schicksal nicht einfach hinnehmen, wie es kommt, sondern etwas daraus machen.
Hannes war ein solcher Mensch. Ich sah es in seinem Gesicht, wenn wir uns unterhielten. Vor allem wenn er über die Sterne sprach. Dann funkelten seine hellen Augen, und ich betrachtete ihn fasziniert. Ich glaube, es schmeichelte ihm, dass ich ihm gern zuhörte. Und so lud er mich schließlich ein, mit ihm den Sternenhimmel zu erforschen. Und während er in in die Nacht hinausschaute und mir erklärte, wo der Orionnebel auf die Trapezsterne traf, sah ich ihn an, diesen großen, dürren Mann mit dem wirren Haar. Und irgendetwas in mir wusste in diesem Moment: Wir gehören zusammen. Vielleicht nicht, wie andere Paare zusammengehören, die sich brauchen, die ohne einander nicht sein können. Hannes und ich, wir kamen beide gut alleine klar. Aber genau deswegen war da dieses Band zwischen uns. Kein Mann vor ihm hatte mich länger interessieren können, er aber besaß diese innere Kraft, die mich nicht losließ. An seiner Seite war ich tatsächlich glücklicher als allein.
Ich zog schon bald aus meinem Hotel zu ihm. Ich half ihm bei der Arbeit in der Werkstatt, um in seiner Nähe zu sein. Nach Feierabend liefen wir stundenlang gemeinsam durchs Watt und suchten nach Bernstein. Er sprach dabei nicht viel, seine Augen suchten den Boden ab, und manchmal blickte er auf und sah mich an. Diese Blicke sagten mir alles, was ich wissen musste.
Als ich nach drei Wochen abreiste, war mein Herz schwer. Würde ich ihn je wiedersehen? Wir hatten nicht darüber gesprochen. Zu meiner Erleichterung erreichte mich ein paar Wochen später ein Brief. Darin standen nur zwei Sätze: »Du bist hier jederzeit willkommen. Für immer der deine, Hannes«.
Du denkst jetzt vielleicht, dass es untypisch für mich wäre, daraufhin meine Tasche zu packen. Und das war es auch. Aber ich hatte das starke Gefühl: Wenn es für mich doch irgendwo auf der Welt diesen einen Mann gibt, dessen anfängliche Fehler ich später aushalten, an dessen Seite ich mir ein Leben vorstellen kann, dann ist er es. Ich packte also nicht nur meine Tasche. Ich ließ meine alte Existenz hinter mir. Ich ging ein großes Risiko ein. Doch als Hannes am Hafen von Baltrum stand, der Wind seine wilden blonden Locken zerzauste und ich das Blitzen in seinen Augen sah, bevor er mich in die Arme schloss, da war ich sicher: Ich hatte alles richtig gemacht.
Müde richtete ich mich auf. Die Buchstaben fingen an, vor meinen Augen zu verschwimmen. Draußen war der Himmel nun nachtschwarz. Ich blies die Kerzen aus. Während ich auf unser Himmelbett fiel und mich erschöpft zusammenrollte, dachte ich: Werde ich doch noch herausfinden, was mit meinem Vater geschehen ist? Hat Mama am Ende all das niedergeschrieben, was sie nie imstande war, mir zu erzählen? Liegt im Keller seit Jahren die Antwort auf meine größte Frage, das eine fehlende Puzzleteil, von dem ich dachte, es würde nie wieder auftauchen? Und will ich es nach so vielen Jahren wirklich noch finden? Denn bestimmt gab es gute Gründe, warum meine ansonsten so offene Mutter nie über meinen Vater gesprochen hatte.
Ich zog die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Anni hatte recht: Sie hatte die Tagebücher nicht verschwinden lassen, damit ich selbst entscheiden konnte, ob ich sie lesen wollte oder nicht. Und während ich bereits halb träumte, kam mir ein letzter Gedanke: Mama hatte gewusst, wie ich entscheiden würde.