Sie haben kein Geld. Sie haben kein Geld. Sie haben kein Geld mehr, und sogar ihre Kleidung riecht nach billiger Kleidung, die auf dem Markt gekauft worden ist, die im Ausverkauf in Reguengos oder Évora gekauft worden ist, trotz der Dienstboten, trotz des Silbers, trotz der Bilder, trotz des großen Herrenhauses in Monsaraz und der Fabriken und Ländereien, alles hat der Alte, der oben im Bett liegt, Jahr für Jahr mit Hypotheken belegt. Er war reich, oder es heißt, daß er reich war, damals, als noch keiner von uns geboren war, und er hat den Schein des Wohlstands mit tausendundeinem legalen und illegalen Purzelbäumen gewahrt, indem er Fristen verlängerte, Wechsel prolongierte, Kompromisse mit den Gläubigern aushandelte, während er gleichzeitig in Lissabon ausgab, was er nicht hatte, indem er zweimal denselben Bauernhof oder dreimal dasselbe Wohnhaus verkaufte und, falls es notwendig war, weitere Ländereien und weitere Häuser unter wirren, wirksamen Verrenkungen erfand, die dazu führten, daß sich schließlich immer Leute und Banken gegenseitig ausspielten, weil sich in diesem Land alle im Recht auf nichts glauben, in dem nichts das ist, was man gemeinhin besitzt, und gar nicht das, was uns die Verstorbenen neben Schulden, einer brummigen Sehnsucht in bezug auf den leeren Platz am Tisch und dem Lächeln aus dem Bild hinterlassen, das mit dem Absterben der Erinnerung an Substanz verliert. Und deshalb haben die hier kein Geld. Sie haben mich gerufen und haben kein Geld. Sie haben kein Geld mehr, obwohl sie, wenn auch weniger geschickt als der Kranke, dessen Zirkussaltos weitermachen und mich zwingen, sechzehn Kilometer weit zu reisen, um mich dann mit Tees, mit Freundlichkeiten und mit Plätzchen aufzuhalten, die meinen Zahnersatz verbiegen, während sie irgendeine Mongoloide suchen, um ihr den Daumen auf einem Blatt Papier plattzudrücken, damit ich ihnen dafür ein halbes Dutzend Scheine gebe, die ihnen allenfalls helfen, drei oder vier Tage lang zu essen, bis sie die Kohlköpfe auf dem Friedhof abweiden oder den bereits verpfändeten Hausrat noch einmal verpfänden. Sie haben mich vom Dominospiel mit meinem Taufpaten weggeholt, sich wie ein Akkordeon seufzend in Entschuldigungen gewunden, ohne daß ihnen oder mir eingefallen wäre, daß das Fest der Stadt gefeiert wird und wir uns deshalb hinter einem Linienbus und einer endlosen Autoschlange mit Zehnstundenkilometergeschwindigkeit den Hang hinaufquälten (ganz abgesehen von den Männern und Frauen, die zu Fuß in Sonntaggottesdienstkleidung ohne Gottesdienst den Berg hinauf und hinunter stiegen) und uns, als wir in die Stadtmauern kamen, in einem Labyrinth aus Musik, Feuerwerkskörpern, Buden mit Schmalzgebackenem, Auslagen von Goldschmieden und schrägem Zigeunerlächeln verloren, bis wir gleich hinter einem barfüßigen Schwarzen, der auf Glasscherben trat und Feuer schluckte und rülpste, unversehens auf das Haus stießen, das beinahe so eindrucksvoll war wie die Kirche: fünf Balkons im ersten Stock, eine Hautkrankheit an den Fensterrahmen und ein Geschöpf in Trauerkleidern, obwohl es noch gar keinen Grund zum Trauern gab. Das Geschöpf beobachtete uns von der Tür her, flüsterte Worte ins Haus hinein, trat höflich zur Seite, um mich vorbeizulassen, Seien Sie so freundlich, Herr Doktor, der Salon liegt gleich links, sah dem Alten ähnlich, hatte aber nicht seine Dandy-Zigarettenspitze und seine hämische Kraft, und ich dachte, Das ist also die Frau des Prokuristen, die er täglich mit möglichst allen Weibern betrügt, sogar mit der halbverrückten Nichte, die am Hang wohnt, Bettüberwürfe verkauft und von der hinter vorgehaltener Hand gesagt wird, daß sie das asthmatische Kind, das im Laden mit den Wollresten spielt, vom Onkel bekommen hat. Ich setzte mich auf einen samtbezogenen Armstuhl und schämte mich meiner Stiefel aus Schafleder und meiner Arbeitshosen, in denen ich das Land bestelle, sonntags hacke ich immer das Gemüse im Garten, und das Geschöpf und der Mann drückten mir eine Tasse in die Hand und stopften mir den Mund mit Keksen voll, und ich kaute und sah sie gelangweilt und deprimiert an wie die Tiere in den Ställen; die Feuerwerkskörper störten mich, mich störte die Musik, mich störte ihre angstvolle Unruhe, und ich stellte an den helleren Rechtecken an der Wand fest, daß Bilder fehlten, und mir war klar, daß sie schon längst damit angefangen hatten, Ölgemälde und Silbergegenstände bei den Antiquitätenhändlern in Évora zu versetzen, um den Arzt und den Metzger zu bezahlen, die beide gleichermaßen aufwendig, blutrünstig und nutzlos waren, wo es doch so viele Kräutertees gibt, um die Nierensteine zu bekämpfen, die wir schließlich rauspinkeln, und so viele Hasen auf dem Feld, die man zum Mittagessen mit der Hand fangen kann, und also die Kosten beim Metzger mit oder ohne Diplom ebenso unbegreiflich sind wie die Phasen des Mondes und Ebbe und Flut.
»Verzeihen Sie, daß wir Sie von Ihrem Spiel losgerissen haben«, entschuldigte sich das Geschöpf, wobei es wie ein Hamster auf dem Sofa hin und her wieselte, mir noch mehr Kekse und Brötchen anbot und es darauf anlegte, mir alle Regenrinnen des Körpers ein für allemal zu verstopfen. »Aber ich nehme an, daß mein Mann Ihnen erklärt hat, warum wir es so eilig haben, wir brechen heute abend zu einer Geschäftsreise nach Spanien auf.«
Von der Decke her kam ein Summen, als würde etwas Elektrisches ununterbrochen die Bodendielen pflügen, ich hörte es aber nicht genau, weil das Krachen der Feuerwerkskörper immer wieder alles übertönte, also sah ich mir wieder das Paar vor mir an, das, dachte ich mir, rasant und säuerlich alterte und im selben Bett schlief, einander jedoch niemals berührte, und ich dachte weiter, Sie haben kein Geld. Sie haben kein Geld mehr. Ich wette, sie werden, abgesehen von ein paar Brosamen, die ihnen ein gefälliger Gläubiger gelegentlich gibt, nie wieder Geld haben.
»Ich habe dem Herrn Doktor auf dem Weg erklärt, was los ist«, beruhigte sie der Mann. »Daß wir Probleme mit dem Erbe klären müssen, daß wir es dringend klären müssen, bevor er – stirbt, da es kein Testament gibt. Es müssen einfach alle unterzeichnen, und deine mongoloide Schwester hat sich beim Fest in Luft aufgelöst. Ich habe den Verwalter und zwei Dienstmädchen losgeschickt, um sie zu suchen, aber bislang: keine Spur.«
Das Summen wurde lauter, zeichnete eine Klangellipse und verschwand wieder. Das Geheul der Werwölfe zog durch die Straßen und erschreckte die Gänse. Der von stachligen Barthaaren umgebene Rachen des Geschöpfes öffnete sich wie bei einem Hai:
»Im Falle meines Bruders ist es einfach, den holt man von oben, befiehlt ihm, schreib hier deinen Namen, und das ist alles. Viel schwieriger ist es, um diese Zeit die Blöde zu finden. Aber wenn der Herr Doktor die Güte hat, ein bißchen zu warten, treiben wir sie Ihnen im Handumdrehen auf.«
Der Mann stieg die Treppe hinauf, das Summen verstummte, und kurz darauf erschien im Vorzimmer ein als Bahnhofsvorsteher verkleideter Mann, an dessen Jacke Verdienstkreuze und Blechmedaillen festgesteckt waren, er trug ein Signalhorn um den Hals, hatte zwei Fahnen, eine grüne und eine rote, unter den Arm geklemmt und starrte uns und das Teewagengepäckstück tadelnd an wie Fahrgäste, die zu spät auf dem Provinzbahnhof angekommen waren, der zwischen einer Waage und einem Pissoirhäuschen unter Pinien verloren dalag. Er blies ins Horn und riet uns, die Kekse und die Tassen in die Eisenbahnwagen zu tragen, wobei er auf eine imaginäre Uhr zeigte, die hinter dem Lüster am Stuck hing: Drei Minuten nach der vorgesehenen Abfahrtszeit, wann glauben die Herrschaften wohl in Lissabon anzukommen? Er war so fest überzeugt von dem, was er sagte, und seiner Sache so sicher, daß ich wenige Augenblicke lang glaubte, tatsächlich in einem Waggon zu sitzen, vor dem (etwa bei der Küche) eine Lokomotive stand, die zwischen den Bäumen entlangpfiff und -brauste, durch Ortschaften ohne Namensschild fuhr und Kinder und Frauen grüßte, die mir von den an den rot-weißen Schranken der Bahnübergänge aufgelaufenen Pferdewagen her zuwinkten. Die Maschinen ließen die Möbel erzittern, ein Stapel Zeitungen vibrierte, die Burgruine löste sich in der Seidenpapierferne der Hitze auf. Wir fuhren an einem Bahnsteig mit kunstvoll gemalten Buchstaben in einem Fliesenrechteck vorbei, Haben Sie die Papiere, Herr Doktor? fragte das Geschöpf, doch ich konnte, da ich den Mund voller Zucker und Mehl hatte, nichts sagen, sondern öffnete die Aktentasche und reichte sie ihnen, während ich mit der Zunge einen riesigen Keksstöpsel zerkrümelte. Das Geschöpf spazierte auf der Suche nach der Stelle für die Unterschrift in den Seiten auf und ab. Da, wo das Datum steht, röchelte ich und spuckte Krümel und Klumpen aus dem Gebiß. Irgendwo wird es schon eine Stelle dafür geben, sagte der Mann und zog am Deckblatt. Ich habe es satt, alle Seiten durchzugehen, und Platz find ich auf diesem Scheißding schon mal gar nicht, sagte das Geschöpf, wetten, daß der Typ das alles irgendwie hingehauen und die Unterschriftenzeile vergessen hat? Ich trank einen Schluck Tee, um ein Stück Keks herunterzuspülen, doch die süße, elastische Masse blieb an meinem Gaumen kleben wie ein widerspenstiges Weichtier. Er hat es nicht vergessen, gib mal her, sagte der Mann, die Notare ziehen auf dem Urkundenpapier einen Strich an der Stelle, an der man bekennen muß, wie man heißt. Der Bahnhofsvorsteher durchdrang die Kommoden mit seinen Blicken und beobachtete hinter den Schubladen die Ankunft eines Schnellzuges. Laß das los, kreischte das Geschöpf, laß die Finger davon, der Typ hat mir die Akte kaputtgemacht, und ich dachte würgend, Sobald ich diesen Teufelskerl los bin, kehre ich schnellstens nach Reguengos zurück, dachte, verflucht sei die Stunde, in der ich mich in das total vergammelte Auto dieses Kerls gesetzt habe. Da ist sie, sagte der Mann, blätter nicht weiter, sonst verlierst du die Stelle wieder, und ich schwieg, versuchte mich vom Mehl zu befreien, nicht am Kuchen zu ersticken, widerliche, harte Stücke herunterzuschlucken, und begann zu befürchten, daß dieses Bettlerpaar, das sich als reiche Leute verkleidet hatte und die Armut mit einer Krawatte und Schmuck aus Glas zu verbergen versuchte, mir eine Woche Arbeit zerreißen würde, bis sich das Geschöpf des goldbetreßten Ärmels des Bahnhofsvorstehers bemächtigte, der an der Wand die Rangierarbeiten mit unsichtbaren Waggons befehligte und sie von weit her ansah wie jemand, der aus einem Alptraum oder von einem Flug zurückkehrt, sie krallte einen Fingernagel ins Papier und sagte, Unterschreib mit deinem Namen auf diesem Strich, Gonçalo, und zum Ehemann und mir, hat einer von euch beiden zufällig einen Kugelschreiber, den er mir leihen könnte?
»Ist das der Bericht über die Zugbewegungen des Tages?« fragte der Eisenbahner mißtrauisch. »Denn wenn das kein offizielles Dokument ist, unterschreibe ich gar nichts.«
»Natürlich ist das der Bericht, mein Freund«, beruhigte ihn der Schwager, indem er mir den Kugelschreiber aus der Jacke fischte. »Glaubst du, im Dienst bleibt Zeit zum Spielen?«
Die Böllerschüsse und das Stimmengewirr des Festes rüttelten an den Fensterscheiben, und trotz so vieler Verwalter, so vieler Schneiderinnen und Dienstmädchen waren sogar die Blumen in den Vasen staubig und tabakgebräunt wie die Vorhänge, die gewaschen werden mußten, und die Türen der Schränke, die vom Alter gewölbt waren, ließen den Schimmer von altem Geschirr sehen und eine Art Dunkelheit, die man auch bei Schreibtischen und in Grotten findet. Eine Hühnerhündin pinkelte ungehindert an eine geschnitzte Holzsäule, und die Flüssigkeit, die sich auf dem Boden verteilte, besaß den goldenen Farbton der Säulenverzierung, die Weintrauben und Platanenblätter nachahmte. Und ich dachte, Den Rissen im Putz nach zu urteilen, bricht eines Tages das ganze mistige Haus zusammen und erschlägt sie alle, eines Tages fällt es bis auf die Grundmauern in sich zusammen, und es wird nur ein Häufchen Staub zurückbleiben, das nach Ammoniak stinkt, und hier und da wird ein sterbendes Bellen umherschweben.
»Und der Hauptbahnhof, den ich am Fuß von Vaters Bett bauen will?« sagte der Eisenbahner, indem er die Papiere zurückgab. »Ich hab hier die Pläne und den ungefähren Kostenvoranschlag, die an die Büros in Lissabon geschickt werden sollen.«
Es sind nicht nur die Risse, dachte ich, die Fäulnis in den Möbeln und den Deckenbalken, die Bilder, die wackeln, wenn wir gehen, diese rostige Stille hinter den Worten: Es sind die Risse in den Gesichtern, der Holzwurm in den Muskeln der Leute und in den verknöcherten Wurzeln des Feigenbaums, und ich sehe das alles und esse einen Keks nach dem anderen, lese die Krümel mit dem angefeuchteten Zeigefinger von der Hose auf, während mir das Geschöpf die Teller mit den Keksen zuschiebt, meine Tasse füllt, mir Zucker hineintut, mir rät, Trinken Sie, es sind nicht nur die Risse und das Vergammelte an den Möbeln, sondern die Grabesstille im Vorraum, die gelbliche Farbe der Luft, die Geräusche von draußen, die den Zement und die Ziegelsteine aus Pappe durchlöchern, ein Dienstmädchen brachte noch eine Teekanne aus der Küche, die Hündin ließ sich wie ein Haufen in der eigenen Pisse auf dem Teppich nieder, die Frau beugte sich zu mir hin und lächelte das angetrunkene, erschreckende, hämische Lächeln ihres Vaters, Trinken Sie, trinken Sie nur. Das beschissene Haus bricht zusammen und begräbt uns hier alle, Ich schwöre dir, es handelt sich um den Hauptbahnhof, sagte der Mann, nimm den Kugelschreiber, worauf wartest du noch? Ich sehe hier nichts von Bahnhöfen, antwortete der Schwager, hier steht nur was von Ländereien und Häusern. Essen Sie, trinken Sie, essen Sie, forderte mich das Geschöpf auf und näherte sich meinem Stuhl mit einem Teller auf jeder Handfläche. Du verstehst wirklich überhaupt nichts davon, wie der Staat funktioniert, schalt ihn der Mann, denkst du, man redet ganz offen über diese Dinge, bevor der Präsident der Republik sie verkündet? Ist doch klar, daß es sich hier um eine Art Code handelt. Der Eisenbahner las die Papiere noch einmal, bewegte dabei die Lippen wie eine Betschwester, packte den Kugelschreiber, zögerte beim Strich, dieser hier, sagte der Schwager, schreib deinen Namen da hin, und nächste Woche bekommst du vom Premierminister eine Dankeskarte und wirst für einen Orden vorgeschlagen. Das Geschöpf stäubte mir mütterlich eifrig die Zuckerkristalle vom Hemd, Sie machen sich ganz dreckig, Herr Doktor, schalt sie, Sie haben wirklich eine ungestüme Art zu essen, es sieht so aus, als hätten Sie einen Achttagehunger, und es kamen noch mehr Törtchen und Sandwiches und kandierte Früchte und Mandeln, und der Speichel lief mir am Mund herunter, befleckte mein Hemd, überschwemmte mich, der Bahnhofsvorsteher streckte die Zunge raus, um besser schreiben zu können, und ging dann, Tsch-Tsch-Tsch, weg, die Treppe hinauf, bis er sich auf der letzten Stufe im leisen, elektrischen Geräusch der Lokomotiven verflüchtigte, die im Deckenfutter wie erschöpfte Ratten umherliefen. Der Idiot steht schon mal hier, verkündete der Schwager, indem er die Unterschrift zeigte wie ein Stierkämpfer seinen Hut dem Publikum, es fehlt nur noch deine mongoloide Schwester, und dann hätten wir’s. Es wird nicht das Haus sein, das mich unter sich begräbt, dachte ich und war zu kraftlos, um meinen Körper noch bewegen zu können, es werden die Kekse sein, die sie mir anbieten, die sie mir in den Mund stecken, die sie mich zu schlucken zwingen. Bring dem Herrn Doktor einen Johannisbeersaft zur Erfrischung, sagte das Geschöpf, und es kam ein Krug mit einem Holzlöffel darin: Um der Verdauung nachzuhelfen, erklärte sie, das muß alles in einer Minute an den Mandeln heruntergelaufen sein. Wo steckt deine Schwester, fragte der Mann und zückte die Papiere, hat sie heut nachmittag jemand aus der Anrichte gelassen?, und das Dienstmädchen starrte ihn verängstigt an, und die Feuerwerkskörper krachten und pfiffen, und die Kühe muhten hinter den Mauern, hat jemand sie heute nachmittag aus der Anrichte gelassen? wiederholte der Mann brüllend, Wer würde ihr denn trotz deiner Anordnungen die Tür aufmachen? sagte das Geschöpf und schüttete den Johannisbeersaft und die rosafarbenen Eiswürfel in ein hohes Glas, noch dazu, wo ihre Tochter auf dem Fest frei herumläuft, um uns zu rauben, was uns gehört? Doch der Mann stand mit glühenden Augen auf, trabte fast im Laufschritt zur Küche, kam nach einem Tumult von Befehlen und Schimpfworten und Entschuldigungen und Beleidigungen wütend zurück und schlug mit der Akte gegen sein Bein, Halt mir den mit dem Johannisbeersaft fest, befahl er, als wäre das Erfrischungsgetränk eine Art Gefängnis mit hohen Mauern, halt ihn mir hier fest, denn deine liebe Schwägerin hat sie mit dem Sohn in der Stadt spazierengehen lassen, und ich habe da so meine Vermutung, wo sie ist. Das Geschöpf stand still mit der Tasse in der Hand da und hörte ihm zu. Diese blöde Ziege, diese Blähung eines Scheißverwalters, die mein Vater gezwungen hat, meinen Bruder zu heiraten, um sich über uns alle lustig zu machen, sagte sie leise, als würde sie beten, und so gelassen angewidert, daß es mich erstaunte. Der Ehemann warf die Papiere auf die Teller mit den Keksen, Keine Angst, in einer halben Stunde hab ich sie hier, halt mir den Notar hier fest, stopf ihn mit Essen voll, richte die Flinte auf ihn, bind ihn mit Stricken fest, zerquetsch ihm die Eier, Hauptsache, du läßt ihn nicht entkommen, und ich spülte den Mund mit Johannisbeersaft aus und dachte, Ich bin aus Reguengos hergelockt worden, um hier zu enden, und ich dachte an meinen Sonntag im Garten, an mein Gemüse, an die Arbeit, die auf dem Schreibtisch auf mich wartete, an die Gesetzesverordnungen, die Gesetzesbücher, die Testamente, die Urkunden, dachte, ich bin hier gelandet, um am Essen zu platzen wie ein Spanferkel. Der Mann ging schäumend in die Vorhalle, die Hündin sah ihn schlaff und schläfrig an, versuchte sich auf den Vorderläufen aufzurichten und fiel, wahrscheinlich voll mit Keksen und Tee und Kuchen und Johannisbeersaft, wieder auf den Teppich zurück, während das Haus gleichzeitig mit dem Alten im Todeskampf lag, als würde einer den anderen nicht überleben oder als hätte es keinen Sinn, daß einer den anderen überlebte, als würden beide vom selben sterbenden und greisen und staubigen Blut belebt, Trinken Sie weiter, ich bin gleich wieder da, sagte das Geschöpf, während es die Treppe hinaufstieg, ich lasse es nicht zu, daß auch nur ein einziges Tröpfchen in diesem Krug zurückbleibt, und als sie zurückkam, hatte sie eine dieser alten Pistolen mit einem Feuerstein dabei, mit der sie meinen Kopf bedrohte, indem sie die Arme zu mir vorgestreckt hielt, essen Sie schnell, essen Sie meinetwegen, bis Ihnen die Eingeweide oben und unten rauskommen, aber essen Sie. Ich schnappte mir mit den Fingerspitzen ein Sandwich, und die Pistole folgte stokkend meinen Bewegungen, als würde sie von einer Marionette gehalten, die wie eine Frau gekleidet war und vor mir auf dem Sofa saß, und ich sagte mir, Ich wette, das Herrenhaus fällt in sich zusammen, bevor hier alles zu Ende ist, und stellte mir vor, wie sich Dachbalken, Stuckplatten, Staubkörner lösten, zerquetschte Möbel ächzten, Dienstmädchen an ihren Schürzenflügeln hängend wie Hühner umherflatterten, eine Lokomotive sich Tsch-Tsch-Tsch-Tsch in den Garten flüchtete, all die Uhren in allen Häusern auf einmal zu viele Stunden schlugen, und ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, als der Mann triumphierend in den Salon trat und ein altersloses Wesen an seiner gestreiften Kittelschürze hinter sich herzog, Ich habe dieses Geschenk in einem Holzschuppen in Outeiro aufgetrieben, diese Schlaubergerin mit ihren Decken weiß nicht einmal, wie man Sachen ordentlich versteckt; das Geschöpf senkte die Pistole mit dem Feuerstein für einen Augenblick, und ich fragte schüchtern zwischen zwei Schlucken Ananassaft, Darf ich pinkeln gehen?
»Hast du die mit den Decken wenigstens bestraft?« sagte das Geschöpf und schüttete mir ein Schüsselchen Pinienkerne in den Rachen. »Ein paar kräftige Ohrfeigen sind schon vonnöten, wenn man so ein Spatzenhirn zur Räson bringen will.«
»Ihr Scheißladen ist total im Arsch«, beruhigte sie der Mann und schubste die Mongoloide von der Tür weg. »Die hier hat, seit sie auf dem Platz herumgeschlendert ist, einen Reisetick, stell dir das vor.«
»Machen Sie in die Hose wie alle hier«, riet mir das Geschöpf, während es sich mit der Waffe wie mit einem Fächer Luft zuwedelte und auf die Hündin als Vorbild hinwies, die gerade von einer Fasanenvision heimgesucht wurde und aufsprang. »Und trinken Sie dies Erfrischungsgetränk aus, ich kann es nicht mehr sehen.«
Der Mann holte eine Flasche Chinatinte aus einer alterslosen Schublade, die von Taschenmesserkerben zerfurcht war wie eine Greisenstirn, schüttete die schwarze Flüssigkeit, die undurchsichtig und matt war wie Teer im September, in eines der Portweingläser aus dem Buffet, tunkte einen Daumen der Kranken in die Tinte und drückte ihn unter die Unterschrift des Bahnhofsvorstehers, von dessen seltsamer Eisenbahnmanie ich schon vor vielen Jahren gehört hatte und der seine Fahnen sogar in Évora vor den Fassaden der Häuser schwenkte, die ihm mit entrüsteten oder gleichgültigen Steingrimassen darauf antworteten. Ich hatte seit Jahren immer wieder von ihm gehört, weil ihn in dieser Region des Alentejo alle kannten, sogar die Hunde, die Hühner und all die anderen Tiere, die in den Stunden der großen Hitze in den toten Straßen der kleinen Städte umherzogen und miterlebten, wie das Signalhorn zu den Abfahrten blies und die Gebäude zwang, mit Bremsklötzen, Pleuelstangen und Eisen zu fauchen, schnaufend um die Olivenbäume herum hügelabwärts zu fahren, gesteuert von verdutzten Invaliden und Kindern, die ihre Nasen stumm an den Fenstern der weißgekalkten Waggons platt drückten, bis sie in Lissabon an einem riesigen Fluß ausstiegen, in dem Karavellen und Kräne inmitten von Entdekkern schwammen, die Wämser trugen und in deren Bärten Stürme, Gewürze und Kokospalmen schimmerten, bis sie auf den Bänken der Avenida unter den Haartollen und blonden Locken der Transvestiten schließlich an Skorbut starben. Nachts sammelte dann und wann eine grüne Minna die Transvestiten und Vizekönige auf dem Weg zu den Gefängnissen der Staatsverwaltung ein, in denen sie überraschte Beamte hinter Aluminiumtischen empfingen, ihnen nach Rotwein stinkende Admiräle brüllend den Tod durch den Strang oder die Verbannung androhten, und dies in einem mittelalterlichen Portugiesisch, das die Männer-Frauen begeisterte, die sich auf den Holzbänken neigten wie Blumen in der Vase, falsche Wimpern entlausten und sich an mit Bleistift gemalten Schönheitsfehlern kratzten. Und der Morgen dämmerte herauf wie die pathetischen Morgenröten über dem Meer und ersäufte die Augenringe der überlebenden Seefahrer, die, Bauch nach oben und auf dem Deck des Fußbodens ausgestellt wie vergiftete Seehunde, ihren Kirschschnapsrausch schnarchend ausschliefen, in dampfendem Milchkaffee.
»Laß den Notar frei«, sagte der Ehemann und zeigte mir mit den übertriebenen Gesten, mit denen die Zigeuner ihre Zwillichseiden ausrollen, die Papiere. »Jetzt sind wir doch die einzigen Besitzer dessen, was der Alte hat, oder?«
Ich wollte antworten, doch der Johannisbeersaft, das vom Kuchen verschobene Gebiß und die Hühnerhündin, die an meinen Knöcheln knurrte, machten es mir unmöglich zu sprechen. Die Mongoloide humpelte von einem Eckschrank zum anderen und preßte schließlich an der Treppe zum ersten Stockwerk ihre Knie gegen die Brust. Ihre Augen glichen den grünlichen Algenblasen, die der Guadiana in Strudeln aus Steinen, Sand und Wasserfällen auf seinen Schultern zur Mündung trug.
»Die einzigen Besitzer wovon?« fragte das Geschöpf, indem es die Brille aus der Schürze zog und mißtrauisch meine Hefte studierte. »Nach allem, was hier steht, die einzigen Besitzer von Schulden, du Idiot.«
Das Summen an der Decke wurde lauter und leiser wie das Hin und Her der Gespräche im Café. Ein Beamter der Staatsverwaltung sagte Was? Was? zu einem Matrosen, der Kniebundhosen und ein Schwert trug und sich im Sturm an den Mast eines Flaschenhalses klammerte. Die trächtige Hündin, die mit ihren pelzigen Zitzen den Boden streifte, leckte mir die Schnürsenkel. Der Ehemann spähte ungläubig in die maschinengeschriebenen Seiten und schüttelte dicht am Hals seiner Frau überrascht den Kopf.
»Schulden. Schulden. Schulden. Schulden, und wir beide haften für sie«, sagte das Geschöpf und zeigte mit dem empörten Fingernagel des kleinen Fingers auf einen Paragraphen nach dem anderen. »Du hast es geschafft, uns beide zu Hypothekenmillionären zu machen.«
»Es muß doch irgend etwas hier geben«, zischelte der Mann, als würde er beten. »Nach all dem Aufwand mit der Behinderten muß es hier doch noch irgend etwas geben, was uns rausreißt.«
»Ja, das gibt es«, antwortete das Geschöpf, indem es die Papiere voller Verachtung auf den Tisch warf. Die ruhig-sanften Augen der Behinderten wirkten hohler denn je. »Wechsel, fällige Rechnungen, Briefe aus Krankenhäusern, die Geld anmahnen, Pfandscheine, die Hypothek auf das Haus. Zeig diesen Mist den Kommunisten, es kann ja immer noch sein, daß sie unsere Armut rührt.« Die Kühe in der Burg muhten in den Pausen zwischen der Musik und den Feuerwerkskörpern.
»Wenn Sie haben, was Sie wollten, bringen Sie mich doch nach Reguengos zurück«, bat ich mühsam, denn meine Zunge steckte im Zuckerschlamm fest.
»Das glaube ich nicht, ich kann es nicht glauben«, sagte der Ehemann, während er die Dossiers durchging, Gläser und Teller mit dem Handrücken wegschob und eine Flasche Johannisbeersirup umstieß, deren dickes Blut auf den Fußboden tropfte. »Du kennst den Alten, ich freß einen Besen, wenn er nicht noch irgendeine Überraschung parat hat.«
Die Hündin vergaß mich, um den Sirup zu schlabbern, und wartete, die Schnauze in die Luft gereckt, angespannt zitternd wie eine Saite auf jeden neuen Tropfen. Der Mann durchritt die Seiten wie auf einer Rennbahn in wütendem Galopp und schnaubte bei jedem Umblättern ängstlichen Schaum aus der Nase.
»Alles in Casinos ausgegeben, alles in Stundenhotels ausgegeben, alles in Krankenhäusern und bei den Ärzten für die schwachsinnigen Kinder ausgegeben«, sagte das Geschöpf und zuckte mit den Achseln. »Es wird wahrscheinlich nicht einmal mehr genug für die Beerdigung dasein, meinetwegen könnte er da oben im Kabuff verfaulen: In zwei Tagen wird er die ganze Stadt verpesten mit seinen Wunden auf dem Rücken und an den Beinen und all den Fliegen und Maden im Bauch. Wie meine Großmutter, die damals Monsaraz verpestet hat, als sie an der Reihe war, und zwar so, daß der Staatsanwalt den Sarg schon während der Totenwache versiegeln ließ.«
»Kann ich nach Reguengos zurück?« beharrte ich und dachte an das Gemüse in meinem Garten. »Ich nehme an, Sie brauchen mich jetzt nicht mehr.«
Die Mongoloide, deren Gesicht vom grauen Haar verdeckt wurde, hockte in ihrer Ecke wie eine kranke Turteltaube, Hände und Gesicht vermischten sich mit dem Grau der Kittelstreifen. Ein Feuerwerkskörper zerbarst auf der Veranda, massakrierte die Rohrstöcke in den Blumentöpfen, und gleich darauf kugelte eine Herde Schüsseln und Töpfe durch die Küche.
»Steck diesen Mist mit einem Streichholz an, aber verbrenn mir das Leinentischtuch nicht«, sagte das Geschöpf zum Ehemann, ohne mich zu hören. »Das hat mir gerade noch gefehlt, daß mir nur Ärger vermacht wird.«
Auf dem Tisch loderte eine Flamme auf und erschreckte die Hündin, die bellte und breitbeinig zurückwich und einen Schiß auf den Teppich setzte. Durch die Fenster der Veranda sah man auf den Feldern am Fluß zwischen zerbrochenen Vasen Pfeffer- und Zimtkaravellen aus Indien, die Korkeichen wogten, als ich aufstand, hoch oben auf den Olivenbäumen refften und entrollten Seemänner die Segel, eine Hühnergeier-Möwe flog über das Dach, und die Mongoloide, die die Treppe hinaufkletterte, blieb stehen, blickte auf die Flammen oder die Menschenmenge, die zum Kai der verlassenen Mühle rannte, und strich sich mit ihren dunklen Maulwurfsfingern die Haarsträhnen auf der Stirn glatt.