Kannst du mal schauen, ob wir ein Flexticket haben?, fragt Gerda Karla eine weitere nervige Orgafrage, während sie gerade aus Hamburg rausfahren. Gerda hat viel länger ein Smartphone als Karla, überhaupt ist sie schon seit den frühen 2000ern ein Handyprofi, aber manchmal hat sie keinen Bock, aktiv zu sein, schaltet lieber auf Autopilot. Nur dass das bedeutet, dass dann jemand anderer Pilot sein muss. Gerda behauptet, sie käme mit kaum einer App zurecht, und Karla muss deswegen qua Generation liefern, das habt ihr nun von eurer Arroganz, da müsst ihr uns jetzt eben immerzu helfen, denkt sich Gerda. Sie will das mit dem Ticket wissen, weil sie gern einen kurzen Abstecher machen würde, in das Kaff, in dem sie früher mal einen Freund hatte. Da fährt der Zug nämlich vorbei, das hat sie in der Verbindungsauskunft gesehen, die Karla vorhin rausgesucht hatte. Es ist wirklich kein Umweg, kein großer Akt, es wäre also egoistisch von Karla, das auszuschlagen.
Es ist ein Flexticket. Also steigen sie aus, um eine Stunde später weiterzufahren. Gerda will einfach nur ein bisschen gucken, sagt sie, ob sie was wiedererkennt. Karla fragt nicht nach, ahnt aber, was los ist, als Gerda sagt: Ich kannte hier mal jemanden. Karla weiß, dass ihre Mutter kein sogenanntes Kind von Traurigkeit ist und es wahrscheinlich um eine Liebelei geht. Sie überlegt, ob die Person, um die es hier geht, vielleicht tot ist, bleibt aber erstmal stumm. Dann fragt sie nur, ob sie hier im Café am Bahnhof warten soll? Sie habe eh ein Buch dabei. Das stimmt gar nicht, sie will einfach in ihrem Smartphone daddeln und Natalie ein paar Sprachnachrichten zurückschicken.
Ja, lass uns das so machen. Bis gleich!
Sie umarmen sich. Karla lächelt schon wieder. Es ist verrückt.
Gerda fragt sich, ob sie den Weg wiederfinden wird. Hier hatte er sie immer abgeholt. Am Gleis 2. Dann ging es die Bahnhofstraße lang, dann kam ein Kreisverkehr, dort war ein Italiener, wo sie mal Eis essen waren, irgendwo war noch ein Musikladen, und dann kam schon die kleine Zweizimmerwohnung, an deren Inventar sie sich auch noch ganz genau erinnern kann. In ihrer Erinnerung war sie oft hier, tatsächlich war es aber nur viermal. Sie hatten sich über eine Zeitungsannonce in einem Leipziger Stadtmagazin kennengelernt, er hatte ein paar Platten abzugeben. Sie haben ein paar Mal telefoniert, um ein Treffen auszumachen, das einfach nicht zustande kommen wollte, stattdessen verquatschten sie sich über alles andere. Mascha hatte zu der Zeit gerade Mele bekommen, ihr ging es nicht gut, also wohnte Gerda ein paar Wochen bei ihr, und er war mit seinem Umzug beschäftigt. Er wollte bald eines Jobs wegen in den Norden ziehen, es war wirklich schlechtes Timing. Also fuhr Gerda eines Tages mit weichen Knien hierher, in dieses Kaff, um ihn zum ersten Mal zu treffen. Um die Platten ging es da schon nicht mehr.
Ihr gefiel der Ort sofort und er gefällt ihr auch heute. Alle Häuser sind aus Backstein, alles ist rot. Es sieht genauso aus wie damals, nichts ist anders, nichts wirkt größer oder kleiner, wie es manchmal ist, wenn man nach vielen Jahren an einen Ort zurückkehrt. Es ist November und genauso verregnet, wie es sich für diesen Monat gehört. Wie damals. Früher war immer Regen, Regen war immer früher. Mit jedem Schritt kommen Erinnerungen an seine Gestik und Mimik wieder. Sie hatte sein Gesicht vergessen, wird ihr gerade klar. In ihrem Kopf war nur noch eine Karikatur von ihm übriggeblieben. Die Mütze, die er immer trug, die spitze Nase, der ungleichmäßige Bart und die dick gerahmte Brille, das war noch da. Aber nicht seine grünen Augen, das giggelnde Geräusch, das er machte, wenn er lachte, wie er immer so leicht an ihr vorbeiguckte, wenn er aufgeregt war, seine rauen Hände, die er immer in der Jeans versenkte, sein Hintern in dieser Jeans. Ihr fällt wieder ihre weiche Regenhaut von damals ein, die Jacke, die sie trug, wie lange sie gebraucht hatte, um sie auszuwählen, weil sie gedacht hatte: Die Jacke wird das Erste sein, was er von dir sieht. Es ist alles wieder da.
Am besten erinnert sie sich an ihren letzten Besuch im Sommer. Es fand gerade die Loveparade in Duisburg statt, die beiden saßen fassungslos vorm Fernseher und versicherten einander immer wieder, dass ihre Kinder ganz bestimmt nicht dort waren. Aber die jungen Leute, die sich da drängten und in die Kameras weinten, sahen einfach genauso aus wie ihre jungen Leute. Irgendwann in der Nacht hatten sie das letzte Kind erreicht, und jedes einzelne fand es absurd, was sollten sie denn in Duisburg. Die Identifizierung mit den Eltern der toten jungen Leute beherrschte das ganze Wochenende, und Gerda hatte über die Jahre immer wieder daran denken müssen.
Es ist zwar ein Kaff, in dem gerade mal 10 000 Menschen wohnen, aber Gerda findet die Wohnung einfach nicht mehr. Der Kreisverkehr stimmt, sie sieht den Italiener, der Musikladen ist dort, wo sie ihn vermutet hat, aber da, wo das Haus sein müsste, da ist es nicht. Nicht mehr? Ist es etwa abgerissen worden, zusammengefallen, im Boden versunken, weggeflogen? Sie läuft noch ein wenig rum und entdeckt so viel, was sie bei ihren Besuchen nicht gesehen hat, weil sie sich immer nur gegenseitig angeguckt haben – und plötzlich steht sie davor. Es ist ganz woanders, aber es ist ohne Zweifel das Haus. Sie ist aufgeregt, dreht sich mehrmals um sich selbst, will nicht hingucken und dann doch. Auf dem Klingelschild steht: Er wohnt hier nicht mehr.
Es ist eigentlich egal, denkt sie schnell, sie hatte natürlich nicht vor, zu klingeln oder einen Zettel zu hinterlassen, es wäre nur irgendwie beruhigend gewesen, zu wissen, dass er noch dort war, noch vorhanden, theoretisch erreichbar.
Heute nennt man das, was die beiden hatten, eine toxische Beziehung, durch die Entfernung konnten sich beide an ihrem Standort immer irgendwelchen Quatsch übereinander überlegen, bis aus den Projektionen nur noch ein Gegeneinander wurde. Es ging nicht gut aus, und Schluss wurde letztendlich per E-Mail gemacht. Gerda wusste schon bald danach: Es ging nie so richtig um ihn, und hier und heute auch nicht so sehr. Sondern um die Zeit und irgendwie auch den Ort. Es war das erste Mal seit langem, dass sie sich wieder richtig was traute, als sie damals in den Zug stieg und hierherfuhr. Als die Kinder alle ausgezogen waren, sie in ihrer ersten Alleinewohnung seit Jahrzehnten saß und rauswollte in die Welt und zu den Leuten. Klaro, er ist nur ein Symbol dieser Zeit, einer Aufbruchszeit, an die man sich später vor allem deshalb so stark erinnert, weil sie so anstrengend war. Und doch wünscht sie sich gerade, sein Name wäre noch da, die Wohnung würde noch so aussehen wie damals, das Bett wäre noch von den beiden verwuschelt und seine Platten würden noch verstreut auf dem Boden liegen, weil sie sie aus dem Regal genommen und angehört hatte, wenn er arbeiten war. Sie wünschte, sie könnte ganz kurz zurück in diese Szene, nur für einen Moment.
Dabei hatte sie natürlich alles aufgeschrieben. Nur hatte sie die Zettel jetzt nicht dabei. Gerda hatte sich genau notiert, warum es damals nicht gepasst hat und sie die Vergangenheit nicht romantisieren sollte. Sie weiß, sie darf das nie vergessen. Auch dass seine Platten eigentlich gar nicht so gut waren.
Das letzte Mal hörte sie von ihm, als er die Krebsdiagnose bekam. Die Aussichten waren gut und er war, laut eigener Aussage, ein zäher Hund, der nach der Behandlung endlich ganz ans Meer ziehen wollte. Da wird er jetzt sicher sitzen und U2 oder Wilco hören. Gerda will Karla das alles gleich im Zug erzählen, macht es dann aber doch nicht. Schnell weg, schnell weiter.