Kapitel 5
Hunter
Ich bin der Erste, der am Donnerstagnachmittag zum Teammeeting kommt. Früher war ich nie pünktlich, aber jetzt, da ich der Captain bin, habe ich Vorbildfunktion. Und hier bin ich – alleine.
Die Eishockey-Anlage von Briar ist erstklassig, und wir haben einen super Videoraum, in dem es drei Reihen mit Tischen und großen, gepolsterten Stühlen und einen riesigen Bildschirm gibt, auf dem man die Spiele analysieren kann. Wir haben uns bereits die ganze Woche lang die Spiele von Eastwood angeschaut. Sie sind unsere Rivalen in der Conference, und morgen sind sie unsere ersten Gegner der Saison.
Ich mache mir nicht allzu große Sorgen. Das Team von Eastwood ist dieses Jahr nicht besonders stark – unseres schon. Obwohl Fitzy, Hollis und Nate Rhodes nicht mehr da sind, haben wir immer noch ein paar sehr gute Spieler. Mich, Matty – einen ausgezeichneten Torwart – und ein paar der besten Neuen aus der Highschool, die Coach Jensen direkt in ihrem ersten Semester rekrutiert hat.
Nachdem das Team mich nach Nate zum neuen Captain gewählt hat, habe ich ihn angerufen und nach Tipps gefragt, wie ich die Moral aufrechterhalten, die Jungs motivieren und sie anführen kann. Aber er hat mir nicht wirklich einen Ratschlag gegeben. Er hat gesagt, dass sich die Dynamik jedes Jahr mit den neuen Gesichtern ändert und ich mit der Zeit lernen werde, wie es geht. Ich müsse ja nur ungefähr dreißig Kerlen den Weg weisen und zusehen, dass sich alle auf das Wichtigste konzentrieren: zu gewinnen.
Diese Saison gibt es viele neue Gesichter. Ende August hatten wir eine Art »Vorspielen«, bei dem sich Jungs, die nicht direkt aus der
Highschool geholt worden sind, profilieren konnten. Einer meiner neuen Lieblingsteamkollegen ging auch daraus hervor – Conor Edwards. Und genau der betritt gerade den Raum, als ich es mir auf einem Stuhl in der ersten Reihe gemütlich mache.
Con beschreibt sich selbst als Fuckboy, aber er ist nicht annähernd der Idiot, den man erwarten würde. Eigentlich ist er sogar ziemlich bescheiden und hat einen trockenen Sinn für Humor, den ich sehr schätze.
»Was geht, Captain?«, fragt er, bevor er laut gähnt. Er fährt sich mit einer Hand durch sein sonnengebleichtes Haar und lenkt meine Aufmerksamkeit auf den Knutschfleck an seinem Hals.
Er erinnert mich an Dean, den älteren Bruder meiner Mitbewohnerin Summer, und einen guten Freund (und ehemaligen Mentor) von mir. Dean hatte nur Sex im Kopf, als er an die Briar kam. Es war ihm egal, was die anderen über ihn geredet haben. Sein Ruf als Aufreißer hat ihm aber nicht geschadet – im Gegenteil, jedes Mädchen wollte mit ihm ins Bett. Doch seine Freundin Allie ist die Einzige, der es gelungen ist, sein Herz zu erobern. Sie leben nun schon seit ein paar Jahren zusammen in New York.
Conor setzt sich neben mich. Ein paar ältere Studenten nehmen ebenfalls in der ersten Reihe Platz. Sie nicken uns zur Begrüßung zu. Wir nicken zurück.
Als Nächstes betritt Matt Anderson den Raum. Jetzt, da Fitz und Hollis weg sind, ist Matty mein bester Freund im Team. Er wurde letztes Jahr von L. A.
gedraftet, und ich hoffe wirklich, dass er einen Vertrag bei ihnen unterschreibt. Es ist ein tolles Team.
»Hey«, sagt Matt.
Langsam füllt sich der Raum. Die Stammmannschaft besteht aus ungefähr zwei Dutzend Typen. Der Rest des Teams sind Auswechselspieler und Kerle, die noch jede Menge lernen müssen. Obwohl Mike Hollis seinen Abschluss gemacht hat, gibt es doch immer einen Typen wie ihn in der Mannschaft. Den liebenswerten Idioten, wie Brenna ihn nennt. Dieses Jahr gebührt diese Ehre einem Kerl aus dem zweiten Semester namens Aaron, aber alle nennen ihn nur Bucky, weil er dem Charakter aus den Marvel Comics so ähnlich ist.
Bucky hasst es, aber so ist das eben mit Spitznamen – sie bleiben einem, ob man will oder nicht. Ein ehemaliger Spieler von uns – John
Logan – war besonders gut darin, Leuten verhasste Spitznamen zu verpassen.
Bucky nähert sich, einen Muffin mampfend, der ersten Reihe. »Hast du mit dem Coach darüber geredet?«, fragt er mich kauend.
Ich stelle mich dumm. »Worüber?«
»Über das Schwein, Mann.«
»Das Schwein«, wiederholt Jesse Wilkes, ein weiterer Student aus den unteren Semestern. Eigentlich war er mit seinem Handy beschäftigt, doch jetzt widmet er sich voll und ganz unserer Unterhaltung.
Verdammt, ich hatte gehofft, dieses Thema wäre endlich vom Tisch.
»Nein, noch nicht.« Und ich habe es auch nicht vor
, würde ich am liebsten hinzufügen, aber ich habe noch keinen Weg gefunden, wie ich das sagen soll.
Die Jungs bestehen darauf, dass wir ein Maskottchen brauchen, was ich persönlich nicht verstehe. Ich meine, wenn wir es irgendwie schaffen würden, einem Eisbären Schlittschuhe anzuschnallen, mit denen er dann in den Pausen Kunststücke vorführen könnte, ja, dann wäre ich dabei.
Aber ansonsten – wen interessiert’s?
Die Ankunft unseres Trainers hält mich davon ab, mich weiter gedanklich über meine Mitspieler lustig zu machen. Er klatscht laut in die Hände. »Wir wollen keine Zeit verschwenden«, ruft er. »Alle Augen auf den Bildschirm.«
Chad Jensen ist ein abgebrühter Kerl. Er hält sich bei nichts zurück. Wenn wir in seiner Arena spielen, erwartet er von uns, dass wir uns voll und ganz aufs Spiel konzentrieren – sonst können wir uns gleich schleichen.
»Achtet im ersten Spiel auf Kriska«, befiehlt er uns, als er das erste Video anmacht. Er sitzt an seinem Schreibtisch und verwendet seinen Tablet-Pen, um Johan Kriska, den Torwart von Eastwood, einzukreisen.
Der Student im ersten Semester gilt als einer der besten Collage-Goalies an der Ostküste. Ich habe mir ein paar seiner Spiele an der Highschool und die Spiele der Vorbereitungsrunde für Eastwood angeschaut. Ich muss darauf vorbereitet sein, wenn ich auf ihn treffe. Ich will nicht überheblich klingen, aber ich bin der beste Stürmer im
Team. Und der beste Torschütze, wenn man sich die Statistik der letzten Saison ansieht. Nat und ich waren für die Torschüsse vorgesehen, doch ich war immer derjenige, der die Vorlagen geliefert hat. Ich nehme an, der Schuss aufs Tor gebührt einfach dem Captain.
Langsam erarbeite ich mir, was ein Captain zu tun hat und was nicht.
Trotz seines herausragenden Rufes mache ich mir keine allzu großen Sorgen wegen Kriska. Ich habe bereits eine Schwäche entdeckt. »Seine Hand ist langsam«, mische ich mich ein. »Der Junge hat Probleme mit hohen Schüssen. Die hält er höchstens zu dreißig Prozent.«
»Ja«, bestätigt der Coach, »deshalb haben wir uns in den vergangenen Tagen im Training auf diese Schüsse konzentriert. Aber ich bin mir sicher, sie trainieren genauso hart, und Kriska weiß um seine Schwäche. Ich will morgen jede Menge niedrige Schüsse aufs Tor sehen. Er wird sich so darauf konzentriert haben, die hohen Schüsse zu halten, dass er überrascht sein wird, wenn wir es plötzlich unten versuchen.«
»Guter Plan.«
Wir schauen uns noch weitere aufgenommene Spiele an. Irgendjemand pfeift durch die Zähne, als Kriska einen scheinbar sicheren Torschuss mit dem Schläger rausfischt.
»Seht euch das an«, sagt der Coach und hält das Video an. »Er zeigt überhaupt keine Verzweiflung. Er geht sofort wieder auf seine Position, als wäre er nicht gerade mit dem Puck wie mit einem Maschinengewehr beschossen worden. Er ist absolut cool.«
Das ist schon beeindruckend. Torwarte benutzen ihren Schläger normalerweise nicht für die Abwehr, wenn es sich vermeiden lässt. Das machen sie mit den Handschuhen, den Pads und ihrem eigenen Körper. Wer mit dem Schläger einen Torschuss abwehrt, hat meistens nur Glück gehabt. Aber bei Kriska scheint das anders zu sein.
»Wir müssen bloß einen Weg finden, ihn zu zermürben«, sagt Matt.
Ich nicke zustimmend. Ich bin immer noch guter Dinge. Letzte Saison waren wir großartig. Es lag nicht an mangelndem Talent, dass wir das Finale nicht gewonnen haben. Wir hatten Verletzungspech und das Dilemma, dass Nate meine Ehre verteidigen wollte.
Regel Nr. 1 im Handbuch für Captains: Verteidige die Ehre deiner Jungs
.
Wir haben ein paar gute Jungs verloren, die ihren Abschluss
gemacht haben, aber wir haben viel mehr gewonnen. Es gibt keinen Grund, warum wir es nicht in die Frozen Four schaffen sollten, außer wir werden von einer Verletzungssträhne heimgesucht oder vom Pech verfolgt.
Das Meeting ist vorbei, als der Coach in die Hände klatscht und uns signalisiert, dass wir gehen können. Bucky hebt sofort einen Arm und räuspert sich. Laut. Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu.
Scheiße.
Der Coach sieht vom Laptop auf. »Was ist los?«
»Der Captain würde gerne etwas sagen«, verkündet Bucky.
Jensen richtet den Blick auf mich. Er hat die gleichen dunklen Augen wie Brenna – ständig einen Funken Spott in sich tragend. Aber da er ihr Vater ist …
»Davenport?«, fordert er mich auf.
»Äh …« Fuck, fuck, fuck. Ich werde mich gleich zum Vollidioten machen. Doch ich zwinge mich dazu, aufzustehen und zu sagen: »Einige der Jungs wollen ein Schwein.«
Der Coach runzelt die Stirn. Es passiert nicht oft, dass man diesen Kerl überraschen kann, aber im Moment ist er total verwirrt. »Ein was?«
Ich unterdrücke ein Seufzen. »Ein Schwein.«
»Ein Minischwein«, mischt sich Jesse Wilkes ein.
»Ein was, verdammt?«, wiederholt der Coach.
»Die Sache ist die«, versuche ich zu erklären. »Buckys Schwester und sein Schwager haben gerade ein Schwein von einem Züchter in Vermont bekommen. Kein großes, sondern nur eine Miniversion. Sie züchten wohl ganz fantastische Schweine. Wie Hunde, bloß dass sie mehr essen und scheißen.«
»Was wird das hier?« Der Coach schüttelt den Kopf. »Was wollt ihr mir sagen?«
Ich versuche, es ihm besser zu erklären. »Sie wissen ja, dass manche Teams Maskottchen haben? Die Darby College Rams haben diesen Geißbock, der im Clubhouse hinter ihrer Arena wohnt. Oder die Coyotes in Providence – sie haben einen Hund, der halb Wolf ist und den jeder abwechselnd zu sich nach Hause mitnimmt?«
»Tabasco«, erklärt ein älterer Verteidiger.
»Ich liebe diesen Hund«, sagt Tree fröhlich.
»Wusstet ihr, dass Tabasco auf Befehl poppen kann?«, fragt Bucky beeindruckt.
»Toll«, mault Conor, »das kann ich auch.«
Lautes Gelächter ertönt.
Der Coach hält die Hand hoch, um uns zum Schweigen zu bringen. »Fragt ihr Idioten mich gerade, ob ihr ein Haustier haben könnt?«
»So ungefähr.« Ich werfe ihm einen flehenden Blick zu. »Als der neue Captain wurde dieser Wunsch offiziell an mich herangetragen.«
»Ein Raum voller ausgewachsener Männer verlangt nach einem Haustier.«
Ich nicke.
»Das wäre gut für die Moral«, beharrt Bucky. »Denken Sie darüber nach, Coach. Wir könnten das Schwein vor den Spielen aufs Eis bringen, und das ganze Publikum würde ausflippen. Es wäre fantastisch für die Stimmung.«
»Wie kann ein Schwein die Stimmung anheizen? Wird es die Nationalhymne singen?«, fragt der Coach höflich.
»Kommen Sie schon, Coach, seien Sie nicht dumm«, zieht Con ihn auf. »Jeder weiß doch, dass Schweine nicht singen können.«
»Bist du auch dafür, Edwards?«, fragt der Coach skeptisch. »Willst du das Schwein auch?«
Conor grinst verschmitzt. »Es könnte mir nicht egaler sein.«
»Wir sind alle dafür«, sagt Bucky ernst.
Der Coach lässt seinen scharfen Blick durch den Raum schweifen. »Mein Gott. Meint ihr das ernst? Denkt ihr wirklich, dass ihr dreißig, wie ihr hier sitzt, ein Tier am Leben halten könnt?«
»Hey«, protestiert Matt, »ich habe zwei Hunde zu Hause.«
»Und wo ist dein Zuhause?«
»In Minneapolis.«
»Und wo bist du gerade?«
Matt erwidert nichts.
»Ihr seid alle Vollzeit-Collegestudenten mit einem vollen Terminplan fürs Eishockey. Und ich rede noch nicht einmal von eurer Freizeit. Denkt ihr wirklich, ihr könntet euch um ein lebendiges Wesen kümmern? Ihr spinnt ja wohl.«
Nun hat er genau das Falsche getan. Einer Horde von Eishockeyspielern zu sagen, dass sie etwas nicht kann? Plötzlich
wollen sich auch die Kerle, denen das Schwein vorher noch egal war, verteidigen.
»Ich könnte auf das Schwein aufpassen«, sagt Joe Foster, ein neues Mitglied der Mannschaft.
»Ich auch.«
»Ich auch.«
»Ja, kommen Sie schon, Mann. Geben Sie uns eine Chance.«
Die Kiefermuskeln unseres Trainers bewegen sich, als wolle er eine Reihe von Schimpfwörtern zurückhalten. »Ich bin gleich zurück«, sagt er schließlich, bevor er ohne Erklärung das Zimmer verlässt.
»Ach du Scheiße, denkt ihr, er besorgt jetzt ein Schwein?«
Ich drehe mich zu dem Trottel um, der diese Frage gestellt hat. »Natürlich nicht«, zische ich Bucky an. »Wo, zum Teufel, sollte er denn das herbekommen? Glaubst du, er hat eins in der Garderobe versteckt?« Ich schüttle ungläubig den Kopf. »Du wolltest ja unbedingt, dass ich frage. Nun hält er uns alle für geistesgestört.«
»Es ist nicht geistesgestört, wenn man sich nach der Liebe von einem Schwein sehnt.«
Jesse johlt auf. »Leute, jetzt weiß ich, was auf Buckys Grabstein stehen wird.«
»Halt die Klappe, Wilkes.«
Meine Teamkollegen verarschen sich immer noch gegenseitig, als der Coach zurückkommt. Mit großen Schritten geht er in die Mitte des Raumes und hält ein Ei, das er wohl aus der Mannschaftsküche geholt hat, in die Höhe.
»Was ist das?«, fragt Bucky entgeistert.
Unser Trainer grinst. »Das ist euer Schwein.«
»Coach, ich glaube, das ist ein Ei«, sagt einer der Neuzugänge zögerlich.
Das bringt ihm einen abfälligen Blick ein. »Ich weiß, dass das ein Ei ist, Peters. Ich bin ja kein Idiot. Wie dem auch sei, bis zum Ende der Saison ist dieses Ei euer Schwein. Ihr wollt, dass ich mich dafür einsetze, dass ihr ein Mannschaftstier bekommt? Was, nebenbei bemerkt, jede Menge Schreibkram mit sich bringt? Dann beweist mir, dass ihr euch um etwas kümmern könnt.« Er schwenkt das Ei durch die Luft. »Es ist hart gekocht. Wenn es bricht, habt ihr es getötet. Bringt es mir in einem Stück zurück, dann können wir über euer
Schwein reden.«
Der Coach schnappt sich einen Edding vom Schreibtisch und kritzelt etwas auf das Ei.
»Was machen Sie da?«, fragt Bucky neugierig.
»Ich unterschreibe es. Und glaubt mir, ich sehe genau, wenn meine Unterschrift gefälscht wurde. Wenn dieses Ei also bricht, braucht ihr nicht einmal im Traum daran zu denken, es durch ein anderes zu ersetzen. Wenn ich nicht genau dieses Ei wieder zurückbekomme, dann kriegt ihr auch kein Schwein.« Der Coach legt das Ei in Buckys Hand. »Gratuliere, ihr habt nun ein Maskottchen.«
Bucky wirft mir einen triumphierenden Blick zu und hebt einen Daumen.
Wenn es das ist, was ein Mannschaftscaptain zu tun hat, dann weiß ich nicht mehr, ob ich diesen Job wirklich will.