Kapitel 18
Demi
»Ich habe dich in den letzten Wochen kaum zu Gesicht bekommen.« In TJ
s Blick kann ich Enttäuschung und Mitgefühl gleichzeitig erkennen, aber nach einem kurzen Moment greift er über den Tisch und drückt meine Hand. Das Mitgefühl hat gewonnen. Zum Glück, denn ich fühle mich gerade nicht dazu in der Lage, ihn zu trösten. Meine mentale Gesundheit kommt an erster Stelle, und ich habe mich nicht aus Gründen rargemacht, die etwas mit ihm oder unserer Freundschaft zu tun haben.
»Du hast nicht viel verpasst. Ich war keine tolle Gesellschaft.« Ich knabbere an meinem Bananenmuffin.
»Du bist immer eine tolle Gesellschaft«, sagt TJ
lächelnd.
»Das hast du nett gesagt.«
»Es ist die Wahrheit. Wie geht es dir?«
»Besser. Ich meine, mein Freund hat mich betrogen, also schmeiße ich im Moment keine Partys, aber ich bin auch nicht mehr versucht, ihm etwas anzutun oder sein Apartment in die Luft zu jagen.« Was ein sehr großer Fortschritt ist, wenn man bedenkt, wie ich mich nach Corinnes Einweihungsparty verhalten habe.
Ich glaube wirklich, dass ich an diesem Abend einen Blackout hatte. Ich kann mich an alles erinnern, was ich getan habe, doch die Erinnerungen sind verschwommen. Wie ich Nicos Sachen aus dem Fenster geworfen, seine PlayStation zerschmettert und ihm ins Gesicht geschlagen habe. Die deutlichsten Erinnerungen sind die an Hunter und seine Mitbewohner. Das blöde Brettspiel, das wir gespielt haben, hat es geschafft, mich zu beruhigen, deshalb werde ich Zombies!™
immer lieben.
»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragt TJ
. »Oder hast du seine Nummer immer noch geblockt?«
»Immer noch geblockt.« Ich hatte keine andere Wahl, als es zu tun. Nico hat mich so oft angerufen und mir geschrieben, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. »Aber er ist letzte Woche vor meinem Haus aufgetaucht«, gestehe ich.
TJ
s Blick verfinstert sich. »Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Es gab nichts zu erzählen. Er hat an der Tür geklopft, und Josie und die anderen haben gedroht, ihn zu kastrieren, wenn er noch mal auftaucht.«
»Gut. Und vergiss nicht, mein Angebot steht – ich werde ihn für dich aufmischen, wenn du willst.«
Ich lächle halbherzig. »Das ist er nicht wert. Außerdem will ich nicht, dass du verletzt wirst.« TJ
ist nicht dürr, aber er ist nur einen Meter sechsundsiebzig groß und schlaksig gebaut. Nico würde ihn bei einer Schlägerei umbringen.
Seine Hand spannt sich in meiner an.
»Ich wollte damit nicht sagen, dass du ein Schwächling bist«, rudere ich zurück. »Ich weiß, dass du das nicht bist. Ich meine nur, dass er die Mühe nicht wert ist. Außerdem müsstest du dich hintenanstellen. Pax legt schon Extraeinheiten im Fitnessstudio ein, damit er ihm – ich zitiere – ›so richtig in den Arsch treten kann, und zwar nicht im positiven Sinne‹.« Wir müssen beide lachen. »Und Darius redet überhaupt nicht mehr mit ihm.«
»Wow. Wirklich?«
»Ja. Über D kann man sagen, was man will, aber du weißt ja, was er über Monogamie denkt.« Darius ist sehr religiös, und er verdammt alles Unmoralische. »Ach, und Hunter natürlich nicht zu vergessen. Er würde Nico liebend gerne eine Tracht Prügel verpassen.«
Da wir gerade von Hunter sprechen – ich kriege in diesem Moment eine Nachricht von ihm. Es ist ein Bild von einem Ei in einer winzigen Hängematte. In einer zweiten Nachricht steht einfach nur:
@PabloEggscobar
O mein Gott.
Pablo hat jetzt seinen eigenen Instagram-Account.
TJ
beugt sich neugierig vor. »Was ist das für ein Foto?«
»Sie haben ein Haustier-Ei.« Ich lege das Handy weg und schüttle den Kopf.
»Was? Wer?« TJ
klingt verwirrt.
»Das Eishockey-Team. Ihr Maskottchen ist ein hart gekochtes Ei, um das sie sich alle kümmern müssen. Ich denke, es ist so eine Art Teambuilding-Maßnahme. Hunter hat nicht viel darüber gesagt.«
»Wird es nicht anfangen, zu faulen und zu stinken?«
»Das tut es bereits. Mittlerweile ist es in Folie gewickelt und wird über Nacht in den Kühlschrank gelegt, aber das kann den Geruch nicht ganz verbergen. Letzte Woche hatte Hunter das Ei, und ich habe einen leichten Anflug von Schwefel gerochen.«
»Das ist doch verrückt. Ich werde diese Sportler nie verstehen.«
»Ich denke nicht, dass das alle Sportler so machen. Das ist ein Ding der Eishockeymannschaft von Briar. Die sind alle verrückt. Hunter eingeschlossen.«
»Warum schreibst du ihm dann ständig?«, fragt TJ
betont beiläufig.
»Weil wir Freunde sind.« Ich zucke mit den Schultern. »Meine Freunde dürfen verrückt sein.«
Und Hunter war – trotz all seiner seltsamen Angewohnheiten – ein toller Freund, seit sich meine Beziehung in Luft aufgelöst hat. Auch seine Mitbewohnerinnen sind ganz tolle Menschen. Brenna ist eine totale Klugscheißerin, und ich liebe sie. Summer und ich haben nicht viel gemeinsam, aber sie bringt mich zum Lachen. Und Rupi ist … sie ist eben Rupi. Ihre Beziehung mit Hunters Freund Hollis fasziniert mich. Ich kann wirklich nicht sagen, ob sie sich heiß und innig lieben oder sich abgrundtief hassen. Vielleicht eine Mischung aus beidem? So oder so sind sie höchst unterhaltsam.
Ich merke, dass Ablenkung am besten bei einer schlimmen Trennung hilft. Das heißt, ich konzentriere mich auf die Zwischenprüfungen, auf Matheaufgaben, Chemieversuche, Vorlesungen in Psychologie – auf alles, bei dem mein Gehirn gefordert ist. Auf Treffen mit Pippa, Filmabende mit meinen Verbindungsschwestern, Besuche bei Hunter zu Hause … Bis jetzt klappt es ganz gut.
»Wann fährt dein Bus heute?«, fragt TJ
über den Rand seiner Tasse
hinweg. Ein Teebeutel hängt darüber hinaus. Er trinkt keinen Kaffee, also hat er sich Kräutertee bestellt.
»Um halb acht.« Ich stöhne auf. »O Mann, ich freue mich gar nicht auf Thanksgiving. Meine Eltern werden beide einen Herzinfarkt bekommen, wenn ich ihnen von Nico erzähle.«
»Moment … Du hast ihnen noch nicht erzählt, dass ihr euch getrennt habt?«
»Nein. Das wird eine Thanksgiving-Überraschung.«
»Blöd. Sie mögen ihn sehr, oder?«
»Ihn mögen?
Sie lieben
ihn. Sie sehen in ihm ihren zukünftigen Schwiegersohn. Sie werden fürchterlich ent…« Ich halte mitten im Satz inne, als eine vertraute Person das Coffee Hut
betritt.
Corinne.
Mein ganzer Körper verspannt sich augenblicklich. Corinne hat nach der Einweihungsparty ein paarmal versucht, mich anzurufen. Als ich ihre Anrufe ignoriert habe, hat sie mir geschrieben und gefragt, ob wir reden können. Ich habe ihr geantwortet, dass ich mich melden werde, wenn ich dazu bereit bin.
Das ist jetzt zwei Wochen her, und ich bin noch weit davon entfernt, bereit zu sein.
Sie erschrickt, als sie mich sieht. Dann erringt sie ihre Fassung wieder und kommt tatsächlich auf uns zu.
»Versteck mich«, flehe ich TJ
an, aber es ist zu spät. Corinne kommt an unseren kleinen Tisch und lächelt nervös.
»Hi«, sagt sie leise.
»Hi«, erwidere ich schroff.
»Ich weiß, du hast gesagt, du meldest dich, wenn du bereit bist, aber … na ja, die Feiertage stehen vor der Tür, danach kommen die Prüfungen, dann die Frühjahrsferien …« Sie zuckt verlegen mit den Schultern. »Vielleicht sollten wir das jetzt gleich klären?« Die Frage hängt zwischen uns in der Luft.
TJ
wirft mir einen fragenden Blick zu, als würde er wissen wollen, ob er einschreiten soll.
Ich schüttle unmerklich den Kopf. »Gut«, sage ich zu Corinne. An TJ
gewandt, sage ich: »Macht es dir was aus? Du wolltest dich doch sowieso bald mit deinem Mitbewohner treffen, oder?«
Er nickt. »Ja, kein Problem.« Er wirft Corinne einen warnenden Blick
zu, als er aufsteht.
Sie geht an die Theke, um sich einen Kaffee zu holen. Ihre schwarzen Locken fallen ihr über den Rücken. Sie trägt einen flauschigen blauen Wintermantel, den sie in der Schlange auszieht.
»Ich will das wirklich nicht tun«, sage ich zu TJ
.
»Ich weiß, aber du schaffst das.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Du kannst alles schaffen«, versichert mir TJ
. »Du hast keine Angst. Aber wenn du mich wirklich brauchst, sag Bescheid, und ich werde Ryan sitzen lassen und sofort zurückkommen.«
»Du bist der Beste.«
Er berührt meine Schulter und streichelt kurz darüber, bevor er die Hand wieder wegnimmt. Einen Moment später klingelt die Glocke über der Tür, als er das Café verlässt.
Als Corinne zurückkommt, sagen wir erst mal beide nichts. Ich starre sie nur an, denn ich werde mit Sicherheit nicht das Wort ergreifen.
»Es tut mir leid«, eröffnet sie das Gespräch.
Wie originell. »Ja, das sagtest du bereits.«
»Ich weiß, und ich werde es noch so oft wiederholen, bis du mir glaubst, dass ich es ernst meine.«
»Oh, ich glaube dir. Aber es ist leicht, um Vergebung zu bitten. Was dir nicht so leicht hätte fallen dürfen, ist, mit dem Freund einer Freundin ins Bett zu gehen.«
Die Schamesröte steigt ihr ins Gesicht. Sie schluckt und nickt kurz. »Ich weiß. Ich habe einen Fehler gemacht. Und wenn du mich irgendetwas dazu fragen möchtest, dann verspreche ich dir, ehrlich zu antworten.«
»Okay, dann fangen wir mal an.« Mein Tonfall ist schroffer, als ich es vorhatte, doch ich kann mich nicht zusammenreißen. »Wie oft hast du mit ihm geschlafen?«
»Einmal«, sagt sie sofort. »Es war kurz nach dem Umzug. Er ist eines Abends vorbeigekommen, um mir zu helfen, ein Regal aufzuhängen.«
Ich versuche, mich zu erinnern, wann das gewesen sein könnte. Wahrscheinlich an einem der Abende, an denen Nico länger arbeiten musste. Ich frage mich, wie oft er mich diesbezüglich in den letzten Jahren angelogen hat. O Gott, diese ganze Unterhaltung ist so
erniedrigend.
»Wir haben ein Bier getrunken, und du weißt ja, dass ich Alkohol nicht besonders gut vertrage – was natürlich keine Entschuldigung ist«, fügt sie schnell hinzu. »Ich möchte es nicht auf den Alkohol schieben, aber ich war betrunken. Und er war, na ja, du weißt schon, er war eben Nico. Er ist ein Charmeur.«
»Ja, das ist er«, sage ich knapp. Es sind seine Grübchen. Diese Grübchen haben die Frauen schon immer schwach gemacht.
Corinne starrt auf ihre Hände, die um ihre Kaffeetasse liegen. »Er hat mich geküsst, und ich wusste, seinen Kuss zu erwidern, wäre keine gute Idee, aber ich konnte nicht klar denken, und dann hat er gesagt …« Sie hält inne.
»Was hat er gesagt?«
»Er hat mir erzählt, dass ihr Probleme habt, aber dass du nicht willst, dass jemand davon erfährt.«
Mir klappt die Kinnlade runter.
»Und dann hat er gesagt …« Sie wird wieder rot. »Er hat gesagt, dass bei euch im Bett nichts mehr läuft.«
»Dass bei uns im Bett nichts mehr läuft?« Ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. »Wir hatten regelmäßig Sex.« Mir war nur nicht klar, dass er auch noch mit anderen Frauen geschlafen hatte.
»Es tut mir leid. Ich will mich wirklich nicht damit entschuldigen, dass ich dumm war, aber das war ich. Ich war dumm und unsicher, und ich hatte schon so lange keinen Freund mehr, und dann war da plötzlich dieser charmante, gut aussehende Kerl, der mich beachtet, mit mir geflirtet und mir all diese schrecklichen Sachen über euch erzählt hat.«
»Und du hast ihm geglaubt?« Ich bin zutiefst verletzt.
»Nein«, gibt Corinne zu. »Ich wollte ihm glauben, denn dann hätte ich mich nicht ganz so schlecht gefühlt. Aber ich habe mich schrecklich gefühlt – bevor es passiert ist, währenddessen und danach. Und dann hat er auch noch versucht, sich wieder heimlich mit mir zu treffen. Ich habe ihm gesagt, dass wir das auf keinen Fall tun werden. Ich wollte dir die Wahrheit sagen, aber er hat gemeint, er würde es leugnen und mich als Schlampe hinstellen, die ihn verführt hat.«
Ich weiß nicht, was ich noch glauben soll. In seinen Nachrichten
nach unserer Begegnung vor meinem Haus hat Nico mich mit seinen Erklärungen und Entschuldigungen bombardiert. Und das war genau das, was er geschrieben hat – dass Corinne ihn angemacht hat und er zu betrunken war, um ihre Avancen abzuwehren.
»Ich weiß nicht, ob dir das hilft, aber …« Corinne zieht ihr Handy aus der Tasche. »Das sind die Nachrichten, die zwischen uns hin- und hergingen.«
Sie schiebt das Handy über den Tisch, und ich hebe es widerwillig auf. Als Erstes klicke ich auf Nicos Kontakt, um sicherzugehen, dass auch die richtige Nummer unter seinem Namen eingespeichert ist. Menschen sind Lügner, und die Technologie kann heutzutage leicht manipuliert werden. Doch es ist die richtige Nummer.
Ich will es eigentlich nicht tun, zwinge mich aber dazu, den Chatverlauf zu lesen. Und da steht es – schwarz auf weiß. Oder besser gesagt, grau auf blau. Mein liebenswerter Ex-Freund fragt meine Freundin, ob sie noch einmal miteinander schlafen können. Corinne lügt nicht. Die gesamte Unterhaltung ist widerwärtig.
Nico:
Ich muss die ganze Zeit an dich denken. Wann können wir das wiederholen? ;)
Corinne:
Nie. Ich werde das nie wieder tun, Nico.
Er:
Im Ernst? Plötzlich bist du so abweisend?
Sie:
Nein. Ich fühle mich schrecklich. Ich will Demi erzählen, was passiert ist.
Er:
Spinnst du? Willst du mich verarschen?
Sie:
Nein, will ich nicht. Ich kann nicht mehr schlafen, nicht mehr essen. Ich komme mir total schlecht vor. Sie ist eine meiner besten Freundinnen. Ich habe nicht viele davon. Was wir getan haben, war so was von dumm, und ich schäme mich dafür. Ich fühle mich furchtbar. Ich muss es ihr sagen.
Er:
Das wirst du nicht tun, Corinne. Sie wird denken, dass du lügst.
Sie:
Nein, wird sie nicht.
Er:
Doch, wird sie, denn ich werde ihr sagen, dass du lügst.
Es geht noch eine Weile so weiter, und Corinne hat recht. Sie besteht darauf, die Wahrheit zu sagen, aber Nico warnt sie davor, was passieren wird, wenn sie es tut.
Ich lege das Handy hin. Mir treten Tränen in die Augen, doch ich weigere mich zu weinen.
»Es tut mir wirklich leid«, flüstert sie. »Und ich weiß, dass das unsere Freundschaft unwiderruflich verändert hat. Ich bitte dich, mir zu verzeihen und mir vielleicht noch eine Chance zu geben. Wenn du bereit bist, natürlich.«
Ich nicke langsam. »Ich akzeptiere deine Entschuldigung, und ich werde daran arbeiten, dir zu verzeihen, aber … das kann ich jetzt noch nicht. So weit bin ich noch nicht.« Dass es ihr aufrichtig leidtut, mit meinem Freund geschlafen zu haben, ändert nichts an der Tatsache, dass sie es getan hat.
»Ich verstehe.«
»Aber ich bin froh, dass wir endlich geredet haben«, sage ich und meine es auch so. Ich bin nicht eins dieser Mädchen, die »der anderen Frau« die Schuld geben. Ja, Corinne war schwach und hat unsere Freundschaft mit Füßen getreten, doch sie war nicht diejenige, die mit mir zusammen war, die mir ihre Liebe versichert und mir gesagt hat, dass wir eines Tages heiraten werden. Corinne war eine miese Freundin, aber Nico hat mich belogen und betrogen.
»Ich muss jetzt gehen.« Ich schiebe den Stuhl zurück. »Ich muss für Thanksgiving packen.«
»Fährst du nach Boston?«
»Ja. Ich fahre heute Abend und komme am Sonntag zurück. Bist du bei deiner Familie in Vermont?«
»Nein, wir feiern Thanksgiving mit Freunden in Hastings.« Sie zögert. »Pippa wird auch da sein. Ich hoffe, das ist okay.«
Ich unterdrücke ein Seufzen. Pippa geht in letzter Zeit wie auf Eiern und versucht, ihre Freundschaft zu Corinne mir gegenüber nicht zu erwähnen. Verdammter Nico – er hat alles so kompliziert gemacht.
Männer sind Schweine.
Meine Eltern freuen sich riesig, dass ich zu Hause bin, auch wenn es bloß für ein paar Tage ist. Als ich ankomme, biegt sich der Tisch bereits unter dem üppigen Buffet, das heute Abend nur für uns drei ist. Morgen kommen viele aus der Familie aus Miami zu uns. Dad ist Einzelkind, aber Moms Familie ist riesig. Morgen wird es wahnsinnig laut werden. Zwei der drei Schwestern meiner Mutter kommen mit ihren Kindern, und all meine Cousins und Cousinen sind viel jünger als ich. Es wird also von Grundschulkindern nur so wimmeln. Moms einziger Bruder Luis und seine Frau Liana haben gerade einen kleinen Jungen bekommen, und ich freue mich riesig, sie wiederzusehen. Ich liebe Babys.
Heute Abend ist quasi die Ruhe vor dem Sturm.
»O Gott!« Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich das Festmahl sehe, das Mom zubereitet hat. »Mom, du bist die Beste.«
»Danke, mami
.« Sie küsst mich auf die Stirn und drückt mich dann auf einen Stuhl. »Jetzt iss! Du siehst so dünn aus, Demi. Was ist los? Stimmt etwas nicht?«
Ich runzle die Stirn. Nach der Trennung ist mir der Appetit wirklich vergangen, und er kehrt gerade erst wieder zurück. Aber ich hätte nicht gedacht, dass ich abgenommen habe. Alle meine Klamotten sitzen noch.
Da es unmöglich ist, meine Mutter anzulügen, sage ich nur: »Warten wir noch auf Dad. Ich erzähle es euch zusammen.«
»Dios mío!
Ich wusste es. Es stimmt etwas nicht. Sag uns, was es ist. Marcus!
«, schreit sie, und mir platzt fast das Trommelfell. Es überrascht mich, dass die Bilder nicht von den Wänden fallen.
Mein Vater lässt sich Zeit, die Treppe runterzukommen. Er hat gelernt, zwischen den verschiedenen Schreien von Mom zu unterscheiden, und wohl beschlossen, dass das kein Notfall ist. Als er endlich ins Esszimmer kommt, begrüßt er mich mit einer Umarmung und einem Kuss. »Hi, Baby.«
»Hey, Daddy.« Ich stecke mir eine gebratene Garnele auf die Gabel und lasse sie auf meinen Teller fallen.
»Was ist los?« Er schaut Mom an und setzt sich auf seinen üblichen Platz am Kopfende.
»Demi muss uns etwas sagen.«
Sein Blick wandert zu mir. »Ach ja? Was denn?«
»Kann ich erst dieses leckere Krabbentörtchen aufessen?« Ich kaue extra langsam, koste den Geschmack voll aus und hole mir dann noch mal eine Garnele vom Tisch. Schnell stecke ich sie in den Mund. »Mmm. Hast du die in Ananas angebraten? Und Knoblauch? Die sind echt lecker.«
Ich versuche, Zeit zu schinden, und Mom weiß das genau. »Leg die Gabel runter, Demi.«
Oh-oh. »Na gut.« Ich lege meine Gabel auf den Teller, schlucke und wische mir den Mund mit einer Serviette ab. »Mom, vielleicht solltest du dich auch hinsetzen.«
Jetzt schrillen bei beiden die Alarmglocken. »Dios mío«,
ruft sie wieder, »du bist schwanger! Marcus, sie ist schwanger!«
Ich starre sie entgeistert an. »Was? Nein! Ich bin nicht schwanger. Mein Gott, jetzt setz dich doch endlich hin.« Schnell füge ich hinzu: »Bitte.«
Mit eingezogenem Kopf lässt sich Mom auf den Stuhl neben meinem Vater fallen.
Ich lege meine Hände auf den Tisch und räuspere mich, als würde ich ihnen gleich eine wirklich niederschmetternde Nachricht überbringen. »Okay, erst einmal, ich bin nicht
schwanger.« Ich werfe ihnen einen warnenden Blick zu. »Aber es hat etwas mit Nico zu tun, und ich will, dass ihr ruhig bleibt …«
»Geht es ihm gut?«, fragt Mom entsetzt. »Ist er im Krankenhaus?«
»Nein, er ist nicht im Krankenhaus, und ich habe euch gerade gebeten, ruhig zu bleiben. Könntet ihr mir das versprechen, bevor ich weiterrede?«
Dad winkt mit seiner großen Hand ab. »Rede weiter.«
»Versprecht es«, befehle ich.
Sie murmeln beide vor sich hin, dass sie versprechen, ruhig zu bleiben.
Ich hole tief Luft. »Nico und ich haben uns vor ein paar Wochen getrennt.«
Als Mom den Mund öffnet, bedeute ich ihr mit einer Handbewegung, ruhig zu bleiben. Sie schließt ihn wieder.
»Ich weiß, dass ihr das nicht hören wollt«, fahre ich fort. »Und glaubt mir, ich habe es auch nicht kommen sehen. Ich war in dem Glauben, dass wir glücklich zusammen sind und zwischen uns alles
stimmt.«
Dad runzelt die Stirn. »Was hat er getan?«
»Er hat mich betrogen.«
Stille.
»War es … eine betrunkene Aktion auf einer Party?« Mom klingt tatsächlich hoffnungsvoll.
»Selbst, wenn es das gewesen wäre, wäre es unverzeihlich«, sage ich ernst.
»Na ja, das ist leichter zu verzeihen als …«
»Mit drei verschiedenen Mädchen«, unterbreche ich sie, und sofort schließt sie wieder den Mund. »Eine von ihnen war meine Freundin, die andere die Schwester eines Arbeitskollegen und die dritte irgendein Mädchen, das er in einer Bar kennengelernt hat, als er mit seinen Freunden unterwegs war.« In einer seiner Nachrichten hat er mir von dem dritten Mädchen gestanden. »Vier, wenn man das Mädchen mitzählt, mit dem er mich auf der Highschool betrogen hat.« Auch das hat er mir inzwischen gebeichtet. »Also werde ich ihm sicher nicht verzeihen. Ich bin fertig mit ihm. Vielleicht können wir eines Tages wieder normal miteinander umgehen, und der einzige Grund, warum ich das in Betracht ziehe, ist, weil unsere Familien befreundet sind.«
»O Demi«, sagt Mom traurig.
»Natürlich würde ich niemals von euch verlangen, den Kontakt zu Dora und Joaquín abzubrechen, aber …« Ich zögere und reibe die Hände aneinander. »Ich weiß, wir haben die Delgados zu Weihnachten eingeladen, aber – und jetzt flehe ich euch an – vielleicht können wir sie bitten, nicht zu kommen?«
Dad, der beschützend reagiert hat, als ich ihm von Nicos Untreue erzählt habe, sieht nun zerknirscht drein. »Aber alles ist schon geplant, Liebling.« Ich kenne meinen Vater gut – er will vor seinen Freunden nicht dumm dastehen.
»Das verstehe ich, aber ich bitte dich, als deine einzige Tochter, mein Wohlbefinden in dieser Sache darüber zu stellen. Ich kann Weihnachten nicht mit Nico und seiner Familie verbringen. Das geht einfach nicht. Die Trennung ist immer noch zu frisch, und es wäre fürchterlich für mich. Es würde … es würde mich verletzen«, sage ich leise und wende dann meinen Blick ab, weil ich es hasse, vor meinem
Vater Schwäche zu zeigen. Er ist so stark, dass es sich wie ein großes Versagen anfühlt, vor ihm zusammenzubrechen.
Doch die Worte erzielen den gewünschten Effekt. Mit Tränen in den Augen steht Mom auf und kommt zu mir, um mich zu umarmen. »Oh, mami
. Es tut mir so leid.«
Während wir uns umarmen, betrachte ich meinen Vater, der immer noch Nicos Aktionen zu verarbeiten scheint. »Du denkst wirklich nicht, dass du ihm noch eine Chance geben wirst?«
»Nein«, antworte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch, »das kann ich nicht.«
Dad sieht mich unglücklich an. »Ich kenne diesen Jungen, seit er acht Jahre alt ist. Er war immer ein guter Kerl.«
»Das dachte ich auch.«
»Da steckt bestimmt mehr dahinter. Vielleicht hat Nico …«
»Er hat mich betrogen, Daddy.«
»Das will ich auch nicht entschuldigen«, sagt er schnell. »Versprochen, das will ich nicht. Ich will nur sagen, dass vielleicht mehr hinter der Sache steckt. Vielleicht hat Nico emotionale Probleme, von denen wir nichts wissen, oder er verheimlicht eine Sucht, die …«
»Oder vielleicht ist er auch einfach nur ein verdammtes Arschloch«, zische ich.
Dad runzelt die Stirn. »Drückt sich so eine angehende Medizinstudentin aus?!«
»Das ist mir egal, und ich werde auch nicht hier stehen, während du versuchst, mich davon zu überzeugen, dass mein Ex-Freund, der mich mehrmals betrogen hat, es wert ist, ihm eine zweite Chance zu geben. Auf keinen Fall, Dad. Ich werde nicht wieder mit ihm zusammenkommen, und ich werde sein Verhalten nicht entschuldigen. Wir sind fertig miteinander.«
»Vielleicht eines Tages …«
Ich gebe einen verzweifelten Laut von mir. »O mein Gott, nein! Es ist aus. Und bitte, bitte, lade sie nicht zu Weihnachten ein.« Bei dem Gedanken, die Feiertage mit Nicos Familie verbringen zu müssen, dreht es mir den Magen um. Ich dachte immer, mein Vater wäre auf meiner Seite, aber im Moment scheint er tatsächlich zwischen Nico und mir hin- und hergerissen zu sein. Obwohl ich seine Tochter bin.
Ohne ein weiteres Wort stürme ich aus der Küche und eile die Treppe hoch in mein Zimmer. Keine zehn Sekunden später steht Mom im Türrahmen.
»Demi, Baby.« Sie sieht meine feuchten Augen und hält ihre Arme auf, in die ich mich wie ein kleines Kind fallen lasse.
»Warum ist er nur so dumm?«, murmle ich gegen ihre Brust.
»Weil er ein Mann ist.«
Ich muss kichern.
»Willst du noch weiter darüber reden?«, fragt Mom und reibt mir über den Rücken.
»Nein, es gibt nichts mehr zu sagen. Aber ich wünsche mir wirklich, du würdest runtergehen und Dad sagen, dass er damit aufhören soll. Sag ihm, wenn er Nico zurückhaben will, dann muss er selbst mit ihm ausgehen.«
Sie lacht leise auf. »Ich werde es ihm sagen. Und ich will, dass du Folgendes weißt: Ja, es fällt uns schwer, zu glauben, dass Nicolás so etwas getan haben soll, aber der Schmerz in deinen Augen sagt mir, dass der Junge dich sehr verletzt hat. Und jeder, der meine Kleine verletzt …« Sie macht eine verschwörerische Pause und kneift die Augen zusammen. »Bist du dir sicher, dass wir sie nicht zu Weihnachten einladen sollen, damit ich ihr Essen vergiften kann?«
»Nein«, sage ich bedrückt. »Ich mag den Rest seiner Familie zu gern.« Ein Seufzen entfährt mir. »Und ich will auch nicht, dass er tot ist. Ich glaube, es tut ihm wirklich leid, was er getan hat. Aber das bedeutet nicht, dass ich ihn zurücknehme. Weißt du, wie erniedrigend es ist, zu wissen, dass er mit anderen Frauen geschlafen hat? Und gleichzeitig hat er mich angelogen und mir dumme Geschenke gekauft, um mir das Gefühl zu vermitteln, dass …« Meine Stimme bricht, und ich halte inne, weil es keinen Sinn ergibt, weiterzureden.
Es ist aus zwischen Nico und mir. Und ich will ihn wirklich nicht zurück. Seit ich seine Nummer geblockt habe, fühle ich mich total erleichtert.
»Ähm, Mom. Ich wäre gerne ein bisschen allein«, gestehe ich. »Könntest du vielleicht einen Teller für mich beiseitestellen, damit ich später essen kann?«
»Natürlich, mami
. Wenn du mich brauchst, musst du einfach nur rufen, okay?«
Als sie weg ist, lege ich mich aufs Bett und starre an die Decke. Im Zimmer wurde Staub gewischt und geputzt, bevor ich gekommen bin, und es riecht nach Kiefernholz und frischer Bettwäsche. Mom weiß einfach, wie ich mich wohlfühle.
Ich drehe mich auf die Seite und spiele mit dem Zipfel des Kopfkissens. Das ist echt beschissen. Ich hasse es, wie sehr Nicos und meine Familie miteinander verbunden sind. Ich werde immer wieder an ihn erinnert werden, obwohl ich ihn einfach nur vergessen will. Ehrlich gesagt, bin ich bereit, nach vorne zu schauen. Mir gefällt sogar der Gedanke, mit jemandem Neuen zusammenzukommen.
Seufzend öffne ich Instagram und scrolle gedankenabwesend durch meinen Feed. Ich stelle sicher, dass ich Pablo Eggscobar folge, der immer noch nur ein Foto hochgeladen hat. Ich frage mich, ob diese kleine Hängematte selbst gemacht ist. So etwas gibt es ja wohl kaum zu kaufen. Hastings ist nicht gerade dafür bekannt, dass dort Accessoires und Klamotten für Eier feilgeboten werden.
Plötzlich schreibt mir Hunter, was eine gelungene Ablenkung von den sozialen Medien ist.
Hunter:
Bist du gut in der Stadt angekommen?
Ich:
Ja. Ich bin jetzt hier. Aber es war die schlimmste Busfahrt, die ich je erlebt habe. Der Kerl neben mir hat mir ständig Bilder von seinen Frettchen gezeigt.
Er:
Frettchen???
Ich:
Frettchen.
Er:
Semi, ich glaube, du hast neben einem Serienmörder gesessen. Nächstes Mal schickst du mir ein Foto von deinem Sitznachbarn, damit ich etwas habe, das ich der Polizei zeigen kann.
Ich lache leise vor mich hin und tippe:
Bist du in Greenwich?
Ich weiß, er wollte nach dem Training heute Morgen dorthin fahren.
Er:
Ja, ich bin mit Summer und Fitzy gefahren. Er verbringt Thanksgiving bei ihrer Familie.
Ich:
Und bei dir sind es nur du und deine Eltern? Keine Onkel/Tanten/Großeltern?
Er:
Nein. Bloß wir drei. Ganz toll.
Ich:
Ist es so schlimm?
Er:
Mein Vater hat die Frau vom Catering angeschrien, weil sie eine gemeinschaftliche Soßenschüssel auf den Tisch gestellt hat anstatt eine kleine für jeden. Ich habe gehört, wie sie danach in der Küche geweint hat.
O mein Gott, das ist ja brutal. Und ich kann nicht fassen, dass seine Familie zu Thanksgiving einen Catering-Service kommen lässt. Meine Mutter würde nie im Leben einer anderen Person das Essen für Thanksgiving anvertrauen.
Ich:
Das ist scheiße. Wenn es dich aufmuntert, mein Vater ist gerade auch ein Idiot. Ich habe ihnen von Nico erzählt, und Dad hat versucht, mich zu überzeugen, ihm noch eine Chance zu geben!
Er:
Im Ernst?
Ich:
Ja. Er hat einen Narren an ihm gefressen.
Er:
Willst du ihm noch eine Chance geben?
Ich:
Auf keinen Fall. Kurz, bevor du geschrieben hast, habe ich sogar darüber nachgedacht – Trommelwirbel bitte –, mit einem anderen ins Bett zu gehen.
Er:
Oh, wie aufregend. Das macht bestimmt Spaß.
Ich:
Wie sieht’s aus, meldest du dich freiwillig?
Moment. Was?
Was habe ich da gerade geschrieben? Und zu meiner noch größeren Verwirrung antwortet Hunter mit einem LOL.
Ich:
Was soll das denn bitte heißen?
Er:
Das heißt Laugh out loud.
Ich:
Ich weiß, was LOL bedeutet! Aber warum lachst du darüber?
Er:
Weil du einen Witz gemacht hast …?
Ich:
Was? Mit mir ins Bett zu gehen ist lächerlich? Findest du mich nicht süß?
Er:
Du bist mehr als süß.
Ich kann nicht verhindern, dass ich rot werde. Diese ganze Unterhaltung ist lächerlich. Natürlich hat sich Hunter nicht dafür angeboten, mit mir ins Bett zu gehen, und jetzt bin ich nur auf Komplimente aus, da ich unsicher bin, weil mein Ex-Freund seine Hose nicht anlassen konnte.
Er:
Können wir ernst sein? Fragst du mich wirklich, ob ich mit dir ins Bett gehe?
Mein Daumen schwebt über dem Buchstaben J. Ich könnte ihn einfach tippen. Und dann noch ein A. Doch das würde die Tür zu etwas aufstoßen, das auch nach hinten losgehen könnte. Hunter und ich sind Freunde. Ich finde ihn attraktiv, aber das ist das erste Mal, dass ich darüber nachgedacht habe, wir könnten mehr als Freunde sein.
Ich kriege gar nicht die Chance, die zwei Buchstaben zu tippen, weil Hunter schon eine weitere Nachricht schickt.
Er:
Du weißt ja, dass ich Nein sagen müsste, Semi. Ich bin nicht verfügbar.
Ich versuche gar nicht erst, die Enttäuschung zu verbergen, die mich überkommt. Meine Emotionen spielen zurzeit sowieso verrückt.
Ich:
Ich weiß. Es war eigentlich auch nur ein Scherz.
Er:
Eigentlich?
Ich:
60/40
Er:
Also zu vierzig Prozent wolltest du das durchziehen?
Ich:
Was durchziehen?
Er:
Na, den Reißverschluss meiner Hose.
Ich muss laut lachen. Plötzlich bin ich gar nicht mehr so enttäuscht.
Ich:
Wenn du das sagst. Aber die Diskussion ist sinnlos. Wie du bereits sagtest, du bist nicht verfügbar.
Ich lege das Handy zur Seite und setze mich aufrecht hin. Mit Hunter zu kommunizieren, heitert mich jedes Mal auf. Ich grinse immer noch und habe plötzlich Hunger. Zum Glück wartet unten ein Festessen auf mich.
Kurz vor Mitternacht kriege ich erneut eine Nachricht von Hunter. Ich will gerade ins Bett gehen, als mein Handy aufleuchtet.
Hunter:
Wenn ich verfügbar wäre, wärst du meine erste Wahl, Demi.