Agneta hat beschlossen: Jetzt muss es geschehen. Sie schaut lange auf das Bild, das an der Wand hinter Tilda hängt. Es ist nur ein an der Wand befestigtes Blatt Papier, nicht mal gerahmt. Weißer Hintergrund und ein paar schwarze Striche. Wenn man es mit Fantasie betrachtet, sieht es aus wie ein Mensch, der in sich zusammengesunken dahockt. Agneta muss es jetzt wirklich tun. Vor ihrem inneren Auge sieht sie ihren Psychologen, der ihr sagt, dass es jetzt Zeit wird, als würde er alles wissen. Sie hat nicht vor, es seinetwegen ihrer Tochter zu erzählen, und auch nicht wegen Anneli. Sie richtet den Blick auf ihre Tochter. Im Sommer hat sie immer Sommersprossen auf ihrer rundlichen Nase. Und ihre Haare kriegen ganz von alleine Locken, das hat wahrscheinlich mit der Luftfeuchtigkeit zu tun. Sie setzt im gleichen Moment zum Sprechen an, als Tilda ihr Handy in die Hand nimmt und mit schnellen Fingern darauf herumtippt.
«Wem schreibst du da?», fragt Agneta stattdessen. Ihre Stimme, die eigentlich darauf eingestellt war, jetzt alles zu erzählen, klingt klein und ängstlich.
«Niemandem», sagt Tilda und legt das Handy wieder aus der Hand. Agneta betrachtet ihre Tochter. Das Make-up, für das sie am Morgen eine Viertelstunde gebraucht hatte, ist weggeweint durch die Tränen ihres Flurzusammenbruchs. Sie bringt es nicht über sich zu fragen, weswegen sie so zusammengebrochen ist, denn sie will es gar nicht hören. Agneta schafft es nicht und hat es noch nie geschafft, sich damit zu beschäftigen. Tilda hat die Knie jetzt wieder an den Körper gezogen. Die Jeans sieht nicht so aus, als würde sie spannen, aber Tilda sitzt, und das ist gut so, denn jetzt wird sie die Worte aussprechen. Knut liegt unter dem Sofa, ein paar Meter hinter ihnen, er dreht den Kopf herüber und streckt die Beine aus. Die CD, die Tilda aufgelegt hatte, als sie zu essen anfingen, ist zu Ende. Tilda ist ganz klein, wie sie so zusammengesunken in sich selbst mit angezogenen Beinen dahockt. Agnetas Brustkorb schnürt sich zusammen, nicht mehr nur aus Sauerstoffmangel. Sie kann sich nicht vorstellen, was ihre Worte mit ihrem Kind machen werden.
«Es gibt da was, worüber ich mit dir reden muss.» Die Worte finden ihren Weg heraus, obwohl sie sie nur im Kopf gedacht hatte. Sie prallen ein paarmal zwischen ihnen hin und her. Tilda brummt, fährt aber fort, die Gabel auf dem Teller in dem Soßenrest hin und her zu ziehen. Agneta räuspert sich, macht ein paar tiefe, rasselnde Atemzüge und kommt im letzten Moment ins Schwanken.
«Ich hab viel über das Haus nachgedacht.»
«Ich hab nicht vor, nach Hause zu ziehen, Mama.» Diesmal spricht Tilda die Worte nicht so betont, dass gleich die Spucke durch die Gegend fliegt. «Am besten wäre es, wenn du es einfach verkaufst, du brauchst ja gar nicht so viel Platz.»
«Ja, aber ich dachte, wenn du …»
«Ich werde es nicht übernehmen. Herrgott noch mal, wie oft muss ich das eigentlich noch sagen?»
«Aber sollte es nicht in der Familie bleiben? Denkst du das wirklich?» Agneta schluckt ärgerlich und dann noch einmal, als ihre Brust Widerstand leistet. Sie atmet langsam aus, um den Druck in ihrem Brustkorb zu lindern. Das Zimmer vor ihr scheint auf einmal in Schieflage zu geraten. Sie zwingt sich, wieder einen weicheren Ton anzuschlagen.
«Eigentlich war es ein anderes Thema, über das ich …» Agneta kann den Satz nicht fertig sprechen, denn Tilda steht auf und geht mit ihrem Teller zur Spüle.
Agneta sucht Jörgens Nummer auf ihrem Handy und ruft ihn an, als Tilda die Tür hinter sich und Knut zumacht. Hinter Jörgens Namen steht auch kein Nachname in ihrer Kontaktliste.
«Ja, hallo?», sagt er in fragendem Ton und klingt nicht so erfreut, wie sie gehofft hatte. Der Fernseher läuft im Hintergrund, die Eishockeybahn ist wie immer wichtiger als die reale Welt um ihn herum. Das Geschrei der Kommentatoren dröhnt durch den Hörer und die mehr als tausend Kilometer bis hinunter zu ihr, denn es ist wohl gerade ein Tor gefallen.
«Ich möchte, dass du mir sagst, dass ich es ihr jetzt einfach sagen soll», sagt Agneta hastig. Sie holt Luft, und es fällt ihr nicht mehr ganz so schwer wie vorher. Jörgen sagt «aha» und «mhm», und die Kommentatoren schreien ihr noch lauter ins Ohr. Er ist besser als alle anderen Männer, die sie jemals gehabt hat. Trotzdem. Manchmal will sie sich einfach die Ohren zuhalten, wenn er redet.