Als Casey am nächsten Morgen verschlafen in den Hof der Hopeless Lane torkelte, sah sie sofort, dass aus jeder Stalltür ein Pferdekopf guckte – nur aus einer nicht.
Tränen schossen ihr in die Augen. Nachdem sie, unruhig und von Traumfetzen geplagt, geschlafen hatte, redete sie sich schließlich ein, dass ihr Pferd überleben würde und sie ein eigenes Pferd, einen Freund haben würde. Wie sie für dieses Pferd aufkommen sollte, wusste sie nicht, und sie stahl sich aus der Wohnung, noch bevor ihr Vater aufwachte und sie mit dieser Frage konfrontieren konnte. Sie wusste nur, dass sie alles unternehmen würde, um diesem Pferd ihre ganze Liebe und Pflege zuteilwerden zu lassen, damit es wieder zu seiner alten Lebenskraft finden konnte. Aber wenn es noch immer in seiner Box lag, war dies das schlimmstmögliche Zeichen. Entweder war es schon tot oder es lag im Sterben.
Sie rannte los. In Gedanken verfluchte sie Mrs Smith, weil sie dem Tier Janets abenteuerlichen Trank verabreicht, und sich selbst, weil sie es allein zurückgelassen hatte.
Mrs Smith hatte Casey um halb zwei nachts in ein Taxi gesetzt, nachdem sie sie davon überzeugt hatte, dass sie dem Pferd keinen Dienst erweisen würde, sollte sie sich eine Lungenentzündung zuziehen. Die Taxifahrerin kannten sie vom Tea Garden her. Casey, deren Beine sich mittlerweile wie gefrorene Hammelkeulen anfühlten, war nicht abgeneigt gewesen, das Angebot anzunehmen, zumal Mrs Smith versprochen hatte, sich über Nacht um das Pferd zu kümmern.
«Aber was ist mit Ihnen?», sagte sie bang. «Sie müssen erschöpft sein. Und ich mache mir Sorgen, dass Sie erfrieren.»
«Erfrieren? Auf keinen Fall. Mit diesem Mantel hätte Robert Scott in wohliger Wärme durch die ganze Antarktis spazieren können. Und was das Schlafen angeht ... dafür bleibt mir noch reichlich Zeit, wenn ich tot bin.»
Und so war Casey nach Hause gegangen und hatte das Pferd seinem Schicksal überlassen.
Als sie fast an der Stalltür war, blieb sie stehen. Sie hatte den Mut nicht, sie aufzustoßen.
Erst hörte sie Gelächter, und dann trat Mrs Smith, gefolgt von Mrs Ridgeley, aus der Sattelkammer ins Freie.
«Ich nehme an, das sind Freudentränen, Casey», zog Mrs Smith sie auf. «Hast du ihn schon begrüßt?»
«Ich ... äh ... nein ... ich habe gedacht ... äh ... ich hatte Angst ...»
Lächelnd sagte Mrs Smith: «Ich weiß genau, was du gedacht hast. Dann steck deinen Kopf mal durch die Stalltür und schau selbst nach, wie es ihm geht.»
Casey zögerte.
«An deiner Stelle wäre ich auch verunsichert», sagte Mrs Ridgeley. «Als ich um sechs Uhr hier eintraf, hatte ich fest damit gerechnet, dass er längst auf einer saftigen Koppel im Himmel weidet. Als er sich dann rührte, wäre ich beinahe tot umgekippt. Aber sieh ihn dir doch selbst an.»
Auf Beinen, die so schwer waren, als steckten sie in Schneestiefeln, wankte Casey auf die Stalltür zu. Ihre Augen brauchten ein paar Sekunden, bis sie sich an das schummerige Licht im Stall gewöhnt hatten. Doch noch bevor sie etwas sehen konnte, hörte sie ein Hrrmph, das sie zuerst ihrer Fantasie zuschrieb. Dann sah sie ihn. Er stand im Zwielicht, die Ohren gespitzt, den Kopf erhoben. Einen Augenblick lang sah sie in ihm das prachtvolle Tier, das er einmal gewesen sein musste, doch rasch verflüchtigte sich das Bild vor ihrem geistigen Auge, und schon war er wieder das ausgehungerte, kranke Wesen, dem sie das Leben gerettet hatte. Aber er war auf den Beinen, und seine Augen leuchteten. Er war immer noch sehr schwach, doch hatte er sich mehrere Schritte vom Reich des Todes entfernt.
Seine Nüstern flatterten wieder, Caseys Herz begann zu hüpfen. Er freute sich, sie wiederzusehen! Das Pferd, das noch vor ein paar wenigen Stunden jeden töten wollte, der sich in seine Nähe wagte, freute sich, sie zu sehen!
«Danke, Mrs Smith! Danke, danke, dass sie ihn gerettet haben», rief sie aus, ohne ihre Augen von dem Pferd abzuwenden, weil sie Angst hatte, es könne wie ein Trugbild wieder verschwinden.
Lachend antwortete Mrs Smith: «Du hast ihn gerettet, Casey. Ich hab kein Verdienst daran. Du und Janets Heiltrank. Und den Rest besorgten dann die Pellets hier. Allerdings musste ich mich auf die Knie werfen, um dieser alten Geizliese eine Handvoll abzuringen.»
Casey war geschockt. Jetzt war sie schon anderthalb Jahre als Helferin auf dem Reiterhof, und nie hatte es jemand, schon gar nicht ein Außenstehender, gewagt, gegenüber Mrs Ridgeley so unhöflich aufzutreten.
Zu ihrem großen Erstaunen gab diese augenzwinkernd zurück: «Kein Wunder, dass sie dir bei so einem Umgangston in der Dressur immer wieder Strafpunkte aufgebrummt haben, Angelica.» Mit einem Blick auf Caseys verdutztes Gesicht fügte sie erklärend hinzu: «Zufälligerweise sind uns deine Mrs Smith und ich vor langer, langer Zeit beim Reitsport begegnet. Wir kannten uns zwar nicht näher, doch unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt. Und wir haben immer wieder dieselben Leute getroffen und hatten das Pech, uns immer wieder denselben Richtern präsentieren zu müssen. Erinnerst du dich an diesen Schwachkopf, Charles Smedley-Wallington? Mann, war das ein Dödel.»
«Und ob ich mich an den erinnere!», sagte Mrs Smith. «Der konnte eine Piaffe nicht von Edith Piaf unterscheiden.» Wieder brachen sie in schallendes Gelächter aus.
Casey hatte keine Ahnung, worum es ging, doch sie war völlig überrascht zu erfahren, dass ihre Bekannte früher einmal Dressurreiterin gewesen war. Mrs Smith hatte es ihr gegenüber nie erwähnt.
«So, ich muss weiter», sagte Mrs Ridgeley. «Ich habe keine Zeit, den ganzen Tag herumzutratschen. Und zu unserem Gespräch von gestern Abend: Es bleibt dabei, du darfst ihn hier behalten, auf Probe natürlich, und jeden Monat sehen wir weiter, aber du bist allein verantwortlich für ihn. Du pflegst ihn, du fütterst ihn, du bezahlst für ihn. Sollte er zum Störfaktor werden, mich Geld kosten oder sonst irgendwie für Unruhe sorgen, seid ihr beide weg, und zwar sofort. Verstanden?»
Casey versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen, doch sie konnte das Grinsen, das ihr von einem Ohr zum anderen reichte, nicht verstecken. «Verstanden!»
«Du hast gar keinen Grund zur Selbstzufriedenheit, Casey. Du hattest zwar recht, was das Pferd angeht, und ich habe mich getäuscht, aber darauf brauchst du dir rein gar nichts einzubilden. Du hast jetzt bis um drei Uhr nachmittags Zeit, wenn Moth mit seinen Eseln zurückkommt. Bis dahin musst du das ganze Zeug ausgeräumt haben, das sich in den letzten zehn Jahren in der Rumpelkammer angehäuft hat. Ich möchte gar nicht daran denken, wie viele Ratten und Spinnen sich dort eingenistet haben.»
«Danke, Mrs Ridgeley. Ich bin Ihnen wirklich dankbar.»
«Ich hoffe nur, dass ich meine Entscheidung nicht noch bereuen werde», mahnte Mrs Ridgeley. «Und Casey ...»
«Ja, Mrs Ridgeley?»
«Ich bin froh, dass dir endlich ein vernünftiger Mensch zur Seite steht», sagte sie mit einem Augenzwinkern zu Mrs Smith hin. «Ich hoffe, die Zusammenarbeit hat Bestand. Und, Angelica, vergiss bitte nicht, mir bei Janet ein paar Flaschen Zaubertrank zu bestellen. Vielleicht versuche ich das Gesöff selbst mal.»
Dann lief sie in sich hineinlachend davon. «Charlie Smedley-Wallington. Was für ein Dödel!»
«Gute Frau», sagte Mrs Smith gedankenverloren, als sie allein zurückblieben. «Steht mit beiden Beinen auf dem Boden, macht Nägel mit Köpfen. Ich mag sie.» Sie öffnete die Stalltür. «Ich habe noch nicht probiert, ihm das Halfter anzulegen, Casey, aber ich denke, er sollte sich so bald wie möglich wieder daran gewöhnen.»
«Dressur?», fragte Casey. «Wieso haben Sie nie davon erzählt?»
Mrs Smith reichte ihr das Halfter. «Da gibt’s nichts zu erzählen. Ich habe da nur ein bisschen mitgemischt, aber ohne Erfolg. So, legst du ihm das Teil jetzt an, oder soll ich?»
Seltsamerweise war Casey tausend Mal aufgeregter als am Vortag, als das Pferd so wütend, ja rasend gewesen war, dass es niemanden erstaunt hätte, wenn sie schreiend davongerannt wäre. Zögernd ging sie auf das Tier zu. Beim Anblick des Halfters legte es die Ohren an und scheute mit einem heftigen Schütteln der Mähne zurück. Das Kribbeln in Caseys Magen wurde stärker, dennoch ging sie dichter an den Hengst heran. Man sah das Weiße in seinen Augen und er schien drauf und dran zu sein, nach ihr zu schnappen. Als sie es ein drittes Mal versuchte, kam er ihr mit der Hinterhand bedrohlich näher.
Casey wich zurück. Sie musste unweigerlich daran denken, wie sich der Mann von der Abdeckerei unter Schmerzen wand und sein verletztes Bein hielt.
«Aus meiner Erfahrung hilft bei solchen Schwierigkeiten meist eine kleine Lesung», sagte Mrs Smith. «Ist hier irgendwo ein Buch? Ein gutes, gehaltvolles Buch?»
«Wie bitte?», Casey konnte es kaum fassen, dass Mrs Smith dem Pferd in dieser Situation aus einem Buch vorlesen wollte.
«Ein Buch! Hättest du die Güte, mir ein Buch zu holen. Einen guten Roman, bitte.»
Wäre diese Aufforderung von irgendeiner anderen Person gekommen, Casey hätte sich glatt geweigert. Aber Mrs Smith hatte sich gerade in einer der kältesten Nächte des Jahres um das Pferd gekümmert und ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Damit hatte sie das Recht, darauf zu bestehen, dass Casey ihr das beschaffte, was sie verlangte.
Casey ging auf den Hof hinaus und kam mit einem zerlesenen Exemplar von Dracula zurück, das ihr Gillian geliehen hatte.
Mrs Smith hob die Augenbrauen. «Hervorragend. Jetzt setzt du dich in die Ecke dort drüben und fängst an, aus dem Buch zu lesen.»
«Lesen?»
«Schon bald wird er neugierig werden. Er wird ein Ohr in deine Richtung stellen und als Nächstes vielleicht einen Schritt auf dich zugehen. Du musst dich genau umgekehrt verhalten. Wenn er näher kommt, musst du dich von ihm entfernen. Betrachte es als eine Art von Tanz. Lass die Stalltür offen, damit er sich nicht eingeschlossen fühlt. Inzwischen gehe ich jetzt mal eine wohlverdiente Tasse Kaffee trinken.»
«Aber ...» Casey fehlten die Worte.
«Noch etwas: Vermeide den Blickkontakt mit ihm. Du musst stunden-, vielleicht gar tagelang die Augen gesenkt halten. Er ist vermutlich seit Jahren gequält und gepeinigt worden, und gestern hat man ihn zur Abdeckerei gefahren, um ihn zu schlachten. Es ist wichtig, dass wir ihm ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und dass du als seine Bezugsperson zurückhaltend und freundschaftlich auf ihn zugehst.»
Dann war sie weg und Casey mit dem Pferd und dem eiskalten Winterwind auf sich allein gestellt. Weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun können, setzte sie sich im Schneidersitz – so weit wie möglich vom Pferd entfernt – auf den Stallboden. Sie öffnete das Buch und sagte dann entschuldigend: «Es tut mir leid, dir das jetzt antun zu müssen. Nach der letzten Nacht und deinem bisherigen Leben steht dir der Sinn bestimmt nicht danach. Aber es wird vermutlich deine schlimmsten Erkenntnisse über die Menschheit bestätigen. Leider habe ich kein anderes Buch gefunden. Ehrlich gesagt, es ist ein ziemlich spannender Roman. Also, dann fange ich mal an ...»
Als Mrs Smith zurückkam, stand Casey mit dem Rücken gegen die Stalltür gelehnt und las laut vor: «Er verbeugte sich höflich und erwiderte: ‹Ich bin Dracula und begrüße Sie, Herr Harker, in meinem Hause. Kommen Sie herein, Sie bedürfen des Essens und der Ruhe, die Nachtluft ist recht kühl.›» Das Pferd war nicht nahe bei ihr, aber es hatte sich zu ihr gewandt und spitzte die Ohren. In der letzten Stunde hatte es mehrere kleine Schritte in ihre Richtung gemacht, doch sie war immer zurückgewichen.
«Es hat funktioniert», sagte Casey. Sie konnte die Aufregung in ihrer Stimme nicht unterdrücken. «Es war genau so, wie Sie vorausgesagt haben. Jedes Mal, wenn ich mich entfernt habe, wurde er unsicher, bewegte die Ohren und konnte dann einfach nicht anders. Er wollte um jeden Preis wissen, was ich vorhatte. Und was tun wir jetzt? Soll ich es noch mal mit dem Halfter probieren?»
Mrs Smith lächelte. «Wenn du meinen Rat willst, ich würde sagen: Nein. Lass ihm noch etwas Zeit. Er soll sich sicher fühlen. Räume die Rumpelkammer aus, genau wie Mrs Ridgeley es dir gesagt hat, und komm später noch einmal zurück. Vielleicht musst du tagelang lesen und dich zurückhalten, bis er immer zutraulicher wird. Leg ihm das Halfter erst um, wenn du absolut sicher bist, dass er dafür bereit ist. Lass dich von niemandem drängen. Im schlimmsten Fall müssen die Esel von Mr Moth eben ein paar Nächte in der Rumpelkammer schlafen. Ich bin sicher, dass sie das überstehen werden.»
Sie griff in die Tasche. «Hier ist eine Rolle Polo-Mints. Gib sie ihm – als Dankeschön für das gute Mitmachen.»
Als das Pferd nach anfänglichem Zögern seinen rauen, dünnen Hals ausstreckte und die Bonbons mit den Lippen ganz behutsam von ihrer Hand nahm, war sie überwältigt. Es fühlte sich an, als hätte sie gerade bei der Lotterie gewonnen.
«Hat er einen Namen?», fragte Mrs Smith, als sie wieder den Stall betrat.
«Silver Cyclone», antwortete Casey. «Aber abgesehen davon, dass er nicht zu ihm passt, finde ich ohnehin, dass er einen neuen Namen braucht. Sein jetziger Name gehört zu seiner schrecklichen Vergangenheit, und dort sollte er meiner Ansicht nach auch bleiben.»
«Da hast du völlig recht. Was für ein lächerlicher Name: Silver Cyclone. Wahrscheinlich hat er schon deshalb jedes Rennen verweigert. Hast du schon einen neuen Namen im Kopf? Ich finde Namen sehr wichtig. Der richtige Name kann das Schicksal eines Menschen oder eines Tiers verändern. Du musst ihm einen Namen geben, auf den er stolz sein kann.»
Casey zuckte mit den Schultern. «Ich habe mir schon den Kopf zermartert, aber mir kommt einfach keine gescheite Idee. Alle Namen, die mir bisher eingefallen sind, passen nicht. Sie sind entweder zu fade oder zu extravagant.»
«So wie du ihn mir gestern beschrieben hast, trägt er eine unbändige Naturkraft in sich», sagte Mrs Smith. «Ich gehe schwer davon aus, dass er die wieder entfalten wird, sobald es ihm wieder gut geht.» Mit einer Hand streichelte sie seine Flanke. Er legte die Ohren an und wurde unruhig, ohne sich jedoch von der Stelle zu bewegen. «Ich möchte dir etwas Interessantes zeigen, das mir gestern Abend aufgefallen ist, als ich seine Wunde versorgt habe.»
Casey schaute aufmerksam zu, als Mrs Smith mit den Fingern sein grau-beiges Fell auseinanderspreizte. Darunter schimmerte ein dunkles Silbergrau.
«Siehst du, diese Farbe ähnelt noch mehr dem Grau von Gewitterwolken als deine Augen», sagte Mrs Smith, «aber bei beiden muss man an dasselbe denken. Es ist wie bei der Wettervorhersage, wenn es heißt, dass eine Gewitterfront im Anzug ist.»
«Eine Sturmwarnung?»
In dem Moment, als ihr die Worte über die Lippen kamen, wusste sie, dass sie den Namen gefunden hatte.
Mrs Smith klatschte in die Hände. «Genau, das ist es!»
Also nannte sie ihn Storm Warning, und kaum hatte sie seinen Namen ausgesprochen, entfaltete er schon seine Wirkung. Es war, als sei das Schicksal, von dem Mrs Smith gesprochen hatte, wie ein Unwetter über den Stall hereingebrochen und würde sie zusammen mit dem frisch getauften Pferd heftig herumwirbeln. Die Vergangenheit war nicht mehr. Vor ihnen lag die Zukunft – unbekannt und ungewiss.