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Die wilden Frühlingsblumen, die es irgendwie schafften, aus dem verseuchten Boden der Industriebrache zu wachsen, standen längst in Blüte, als Casey den ersten Reitversuch mit Storm, wie ihn alle nannten, wagte. Lange hatte sie nicht im Entferntesten daran gedacht. Fürs Erste ging es darum, ihn gesund zu pflegen. Körperlich erholte er sich rasch. Es war ein Geschenk, zu sehen, wie um das dürre Knochengerüst Millimeter um Millimeter eine neue Fleischschicht heranwuchs. Doch der Weg zu seinem Vertrauen war lang und beschwerlich. Nach jedem Fortschritt musste sie mehrere Rückschläge hinnehmen.

Das Problem lag nicht bei Casey. Drei Monate lang hatte sie ihn Tag für Tag vor und nach der Schule gestriegelt, gefüttert und im Hof vorsichtig am Strick herumgeführt. Und sie empfand dies keinen einzigen Augenblick lang als Belastung. Im Gegenteil: Sie genoss jede Minute, die sie mit ihm verbringen durfte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich danach gesehnt, ein eigenes Pferd zu haben, ohne dass sie je zu träumen gewagt hätte, dass ihr Wunsch einmal Wirklichkeit werden könnte. Jetzt besaß sie ein Pferd, das sie anfangs zurückhaltend, dann aber immer zutraulicher anblickte. Ein Pferd mit einem schäbigen, beinahe hässlichen Körper, in dem etwas Unzähmbares schlummerte. Ein Pferd, das zwar seinen eigenen Willen hatte, sie aber brauchte, ja vollständig von ihr abhängig war.

Und gerade das machte ihr auch Angst. Der hart verdiente Inhalt ihrer Sparbüchse und ihr kümmerlicher Samstagslohn aus dem Tea Garden reichten knapp, um Storm eine Woche lang mit Pferde-Pellets und einer Flasche von Janets Vitamintrank zu versorgen. Doch für Notfälle blieb kein einziger Penny übrig. Und bei einem Pferd wie Storm Warning waren Notfälle sozusagen an der Tagesordnung.

Von allem Anfang an gab es jede Menge besorgniserregender Zwischenfälle. Bei Lärm tickte er aus. Als Erstes hatte er in Panik ein Gatter zerstört, als eine Polizeistreife mit Blaulicht und Sirene durch die Hope Lane gejagt war. Casey musste alle Mitarbeiter und die Hälfte der anwesenden Reiter mobilisieren, um Mrs Ridgeley vom Gatter fernzuhalten, bis ihr Vater nach Feierabend herbeieilen und das Tor flicken konnte.

Storms Gewohnheit, plötzlich und ohne Vorwarnung zu explodieren, war eines. Viel problematischer war sein Hass auf Menschen. Außer Casey und Mrs Smith, gegenüber denen er sich wie ein wahrer Gentleman verhielt, ließ er nur wenige an sich heran. Gillian und Hermione konnten wirklich ausgezeichnet mit Pferden umgehen, aber es vergingen geschlagene sechs Wochen, bis sie ihm im Vorbeigehen einen freundschaftlichen Klaps geben durften, und selbst das ließ er nur widerwillig über sich ergehen. Er behandelte Andrew, der sich – so vermutete Casey – insgeheim vor Pferden fürchtete, mit einer Gleichgültigkeit, die sie sonst nur von Menschen kannte. Ein Mehr an Wohlwollen war ihm nicht abzuringen. In der Hopeless Lane mieden ihn die Reiter, so gut sie konnten, denn wenn sie sich der Tür seiner neuen Behausung, der ehemaligen Rumpelkammer, näherten, legte er sofort die Ohren flach, schnappte nach ihnen oder ließ das Weiß seiner Augen aufblitzen.

Als Casey ihn einmal nach der Arbeit mit dem Schlauch abspritzte, trat Jin, eine sechzehnjährige Chinesin, die erst seit ein paar Tagen als Helferin auf dem Reiterhof war, unerwartet aus einer dunklen Ecke hervor, um ihn zu tätscheln. Er versetzte ihr einen solchen Tritt, dass sie durch das halbe Stallgebäude flog. Glücklicherweise traf er mit dem Huf genau die Tasche ihres Mantels, in der ein Paar Handschuhe und eine Pferdezeitschrift steckten. Auch wenn diese Polsterung den Schlag zumindest teilweise abgedämpft hatte, hinkte sie noch mehrere Wochen nach dem Zwischenfall über den Hof.

Jin war ein mageres Mädchen, das eine Brille mit dicken Gläsern, eine Zahnspange und einen Pferdeschwanz trug. Glücklicherweise war sie wie Casey eine bedingungslose Pferdenärrin. Sie suchte die Schuld eher bei sich selbst als bei Storm und beklagte sich deshalb nicht bei Mrs Ridgeley. Aber Casey wusste, dass die Sache hätte schlimm ausgehen können.

Als Storm in den Reiterhof gebracht worden war, waren seine Hufe in einem so schlechten Zustand gewesen, dass er Casey zuerst nicht an sie ranließ. Mrs Smith hatte ihr gezeigt, wie sie ihn mit einem Staubwedel daran gewöhnen konnte, eine Berührung seiner Beine zu akzeptieren. Nach wenigen Tagen hob er artig die Hufe, sobald Casey mit der Fingerspitze über seine Fesseln fuhr.

Aber als der Hufschmied wegen der Schulpferde auf den Hof kam, benahm sich Storm leider wie ein Mustang, sodass sich der Mann weigerte, ihn zu beschlagen.

«Aber sie wissen doch bestimmt, wie sie mit schwierigen Pferden umgehen müssen», beklagte sich Casey.

«Aber sicher», sagte der Hufschmied. «Ich gehe ihnen aus dem Weg.»

Nachdem sie lange genug gebettelt hatte, willigte er schließlich ein, ihr aus sicherer Entfernung Anweisungen zu geben, wie sie Storms Hufe ausschneiden und mit der Raspel glätten musste. An ein Beschlagen war selbstverständlich nicht zu denken.

Keines dieser Erlebnisse trübte Caseys Gefühle für Storm auch nur im Geringsten. Ein paar Stunden nach seiner Rettung vor dem Abdecker hatte sie sich hoffnungslos, unwiderruflich und bis über beide Ohren in ihn verliebt. In der Zwischenzeit war nichts vorgefallen, was diese Liebe hätte erschüttern können. Ganz im Gegenteil. Der stolze Geist, der trotz des ganzen Leids, das man ihm angetan hatte, in Storm weiterloderte, war genau das, wofür sie ihn am meisten verehrte.

Dass sie überhaupt erst daran dachte, mit ihm einen Reitversuch zu wagen, hatte nichts mit ihrem eigenen Wunsch zu tun. Vielmehr war Mrs Smith zu dem Schluss gekommen, dass der tagaus, tagein in seinem Stall eingepferchte Storm viel mehr Bewegung brauchte als den Auslauf, den ihm Casey bieten konnte, auch wenn sie jede Gelegenheit dazu nutzte, ihn neben sich über den Hof traben zu lassen.

«Er ist wie eine Dynamitstange mit brennender Lunte», sagte sie zu Casey. «Wenn man diese Energie nicht positiv umpolt, kippt sie ins Negative. Er ist mittlerweile kräftig genug, um dich zu tragen, und es wird ihm Auftrieb geben, wenn er jeden Tag seine Gangarten üben darf.»

Nicht zum ersten Mal fragte sich Casey, woher eine Frau, die «nur ein bisschen in der Dressur mitgemischt hat», so viel über das Gemüt der Pferde wusste.

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«Haben Sie einen Tipp für mich?», fragte Casey, während sie Storm eines Abends zur Aufstiegshilfe führte. Die letzten Reitschüler waren gegangen, und an der Hopeless Lane kehrte Ruhe ein. Ein aprikosenfarbener Sonnenuntergang legte sich über das unebene Dach des baufälligen Stallgebäudes.

Es war der erste Samstag der Osterferien. Mrs Smith und Casey hatten sich darauf verständigt, ihre nachmittäglichen Kaffeekränzchen in die Hopeless Lane zu verlegen. Einmal wöchentlich picknickten sie auf einem alten Teppich in Storms Stall. Sie tranken Kaffee aus einer Thermosflasche, aßen Shortbread und naschten – zusammen mit Storm – Würfelzucker. Casey konnte bei diesen Treffen Storms Fortschritte demonstrieren. Was Mrs Smith davon hatte, war Casey nicht ganz klar, abgesehen davon vielleicht, dass die ältere Dame nie glücklicher schien, als wenn sie von Pferden umgeben war.

Manchmal gesellte sich auch Jin zu ihnen. Die junge chinesische Helferin verehrte Casey und war einer der wenigen Menschen, die Storm tolerierte. Wie Casey war sie äußerst schüchtern und eher schweigsam, aber ganz offensichtlich in Storm vernarrt. Damit war ihr natürlich Caseys Sympathie sicher. Abgesehen von Mrs Smith war Jin der einzige Mensch, dem sie zugetraut hätte, sich in ihrer Abwesenheit um Storm zu kümmern. Gerne hörte sie auch zu, wenn Jin und Mrs Smith in einer Mischung aus Wort- und Zeichensprache mystische Diskussionen über Heilpflanzen und Zen-Buddhismus führten.

«Sanfte Hände, ruhige Gedanken», sagte Mrs Smith jetzt. «Wenn er nervös und gereizt wird, darfst du seine Adrenalinproduktion nicht zusätzlich anheizen. Denke vielmehr an ruhige Spaziergänge in lauschigen Tannenwäldern, an murmelnde Bäche und Federn, die langsam zu Boden schweben.»

Casey nahm die Zügel auf. «Storm, hörst du zu? Keine Explosionen, bitte. Lass uns auf einen entspannenden Spaziergang durch einen lauschigen Tannenwald gehen.»

Ihre Stimme klang unbeschwert, aber ihre Hände waren schweißnass. In der vergangenen Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Sie wurde von der Vorstellung geplagt, dass Storm ausbrechen, schwer stürzen und mit einer Ambulanz aus der Hopeless Lane gefahren werden würde.

Vorsichtig platzierte sie ihren Fuß im Steigbügel. Sofort legte Storm die Ohren an und drehte sich weg. Beim dritten Mal schaffte sie es schließlich, ohne größere Gegenwehr aufzusitzen. Sobald er ihr Gewicht im Sattel spürte, begann er zu tänzeln und zog am Gebiss. Er war anders als Patchwork. Temperamentvoll. Lebhaft. Quecksilbrig. Von seinem 165 Zentimeter hohen Rücken aus schien der Boden tief unter ihr zu liegen. Mrs Smith öffnete das Gatter, woraufhin Pferd und Reiterin erhaben auf den Reitplatz stolzierten, als hätten sie nie im Leben etwas anderes getan.

«Es hat sich gelohnt», sagte sich Casey. Seit Wochen hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Mit einer losen Bandage hatte sie angefangen, gefolgt von Satteldecke und Longiergurt. Und zu guter Letzt hatte sie sich an Zaumzeug und Sattel gewagt. «Die Zeit, die wir damit verbracht haben, die guten Gefühle, die Geduld – all das hat sich gelohnt.»

Ihre Nerven entspannten sich, und ihr Lächeln wurde immer breiter.

«Ich würde es bei einem leichten Trab belassen», mahnte Mrs Smith. «Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.»

Doch Casey schwebte längst in höheren Sphären. Sie saß auf ihrem Pferd. Ihrem neuen Pferd. Niemand durfte ihr vorschreiben, was sie zu tun hatte.

Der erste Ritt auf Storm sollte unvergesslich werden. Sie fühlte sich, als habe man sie an eine Rakete geschnallt. Seine Ohren standen aufrecht, und sein zerzauster Hals war gebogen. Er war zwar abgemagert und außer Form, aber er bewegte sich stolz über den Platz. Als er zu traben begann, ging zweimal ein Ruck durch seinen Körper, der Casey eine Ahnung von der in ihm schlummernden Kraft verlieh. Casey hatte in ihrem ganzen Leben nicht mehr als zehn Reitstunden genossen und sich dann und wann von Gillian, Hermione und Andrew einen Tipp geholt. Umso glücklicher fühlte sie sich jetzt, ein Pferd reiten zu dürfen, das voller Energie war. Anders als all die anderen hölzernen und bockigen Pferde auf dem Reiterhof.

«Er bewegt sich schön», kommentierte Mrs Smith, «nur von Muskeltonus keine Spur. Aber das darf uns nicht überraschen. Etwas schief und faul. Und das Bäuchlein muss weg.»

«Faul?» Casey fühlte sich in Storms Namen beleidigt. «Wenn es nach ihm ginge, wären wir längst im Victoria Park.»

«Faul ist nicht gleich faul», gab Mrs Smith zurück, die wie ein Cowgirl auf der obersten Stange des Zauns hockte. «Er betont die Vorderhand, die Hinterhand vergisst er völlig. Er hat sich daran gewöhnt, nicht denken zu müssen, und ist auch mental träge geworden. Aber das ist halb so schlimm. Im Moment geht es nur darum, dass er etwas Bewegung kriegt und sich daran gewöhnt, wieder geritten zu werden.»

Aber Casey hörte ihr nicht zu. Sie wollte beweisen, dass Storm alles andere als faul war. Sie wollte selbst die Geschwindigkeit spüren. Und so trieb sie ihn – ohne daran zu denken, dass sie auf einem ehemaligen Rennpferd saß –mit dem Schenkel an.

Er machte einen Satz und fiel sofort in gestreckten Galopp. Sie flogen über den Platz und wurden mit jeder Runde schneller. Mrs Smith und die Umrisse der Pferdeköpfe in ihren Stalltüren verschwammen vor Caseys Augen. Sie versuchte, sich zu erinnern: Sanfte Hände, murmelnde Bäche und Federn, die langsam zu Boden schweben. Als das nicht half, zerrte sie verzweifelt an den Zügeln. Mrs Smith rief ihr etwas zu, doch der Wind pfiff ihr um die Ohren, sodass sie kein Wort verstand.

Wer weiß, was geschehen wäre, hätte nicht genau zu diesem Zeitpunkt in Mrs Ridgeleys Wohnung, die direkt über dem Büro lag, der Feuermelder losgeheult. Vielleicht wäre es Casey gelungen, Storm langsam unter Kontrolle zu bringen, und sie hätte ihn über die Monate zu einem sicheren Pferd gemacht, an dem sie nichts als Freude hatte. Sie hätte mit ihm an der Hopeless Lane viele schöne Stunden Bodenarbeit betrieben, und ab und zu wären sie über eine Stange gesprungen. Zusammen wären sie alt geworden, ein heiß geliebtes Pferd und eine Reiterin, die über Tannenwälder und Bergbäche meditiert hätte.

Stattdessen landete Casey kopfüber auf dem Boden. Nach Atem ringend sah sie aus der Froschperspektive, wie Storm im Höllentempo auf das nächstgelegene Zaunstück losdonnerte, vor dem in einem losen Haufen Utensilien fürs Springreiten lagen. Auf der anderen Seite des Zauns befand sich ein breiter Wassertrog aus Beton.

«Nein», wollte Casey schreien, doch ihre Stimme versagte.

Im lilafarbenen Zwielicht wirkte Storm beinahe schwarz. Mit flatternder Mähne und aufgestellten Ohren hob er ab und sprang über Zaun und Trog. Nachdem er mit traumwandlerischer Sicherheit auf der anderen Seite gelandet war, drehte er in Richtung der Stallungen ab.

Mrs Smith kam zu Casey herübergerannt. «Oh mein Gott, Casey, ist alles in Ordnung mit dir?»

Benommen rappelte sich Casey auf. Storms Sprung hatte sich in die Netzhaut ihrer Augen eingebrannt. «M-mir g-geht’s gut», stammelte sie. «Nein, es geht mir eine Million mal besser als gut. Oh, Mrs Smith, haben Sie gesehen, wie Storm durch die Luft geflogen ist? Ich kann’s nicht glauben. Wie ein Feuerpferd, als hätte er Flügel. Ein Pferd, das jedes Hindernis auf der ganzen Welt schaffen kann. Ein Pferd, das Badminton gewinnen kann!»