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«Nein», sagte Mrs Smith. «Nein, und nochmals nein. Damit habe ich abgeschlossen. Und ich verspüre keinerlei Lust, mich je wieder in Frack und Zylinder zu stürzen. Frag doch Penelope Ridgeley oder eines der Mädchen. Gillian scheint mir eine ziemlich begabte Reiterin zu sein. Und außerdem: Was ich über die Vielseitigkeitsreiterei weiß, passt auf die Rückseite einer Briefmarke.»

«Aber Sie kennen sich doch gut in der Dressur aus», sagte Casey hartnäckig. «Das Vielseitigkeitsreiten besteht aus drei Disziplinen. Wenn ich die Richter mit der Dressur nicht überzeuge, kann Storm im Gelände oder beim Springen eine noch so gute Leistung bringen. Und überhaupt kann ich mir Stunden bei Gillian oder Mrs Ridgeley gar nicht leisten.»

Leicht schnippisch gab Mrs Smith zurück: «Und ich soll dich etwa zum Nulltarif trainieren?» Sie packte die Fish & Chips aus, die sie für ihr Samstagabendessen gekauft hatten, nachdem ihnen klar geworden war, dass Shortbread allein nicht genügen würde, um den Appetit zu stillen, den die nachmittägliche Aufregung hinterlassen hatte.

Casey wurde rot. «Nicht zum Nulltarif. Ich könnte Sie ja an meinen Preisgeldern beteiligen.»

«Ach so? In fünf, sechs oder sieben Jahren? So viel Zeit geht nämlich schnell einmal drauf, wenn man Pferd und Reiter in der Vielseitigkeit auf die höchste Leistungsstufe bringen will. Von den Kosten ganz abgesehen. Und wenn du das mit Badminton wirklich willst, dann brauchst du genau das richtige Pferd, nicht irgendeines.»

Casey griff an Mrs Smith vorbei und fischte sich ein dickes Kartoffelstäbchen voller Essig und Salz aus dem Zeitungspapier. «Storm ist das richtige Pferd. Das wissen Sie doch ganz genau.»

«Das Einzige, was ich weiß, ist, dass er in einer Art und Weise traumatisiert worden ist, die unsere Vorstellungen sprengt. Ich weiß, dass er noch vor drei Monaten völlig verwildert war. Du hast mit ihm beachtliche Fortschritte erzielt, und dennoch ist er immer noch ein Buch mit sieben Siegeln für mich und nach der Vorstellung von heute Nachmittag als Reitpferd eine latente Gefahr. Und ich weiß auch, dass Pferde Fluchttiere sind. Selbst ein lahmendes Shetland-Pony würde es schaffen, einen Armeepanzer zu überspringen, wenn es in Panik gerät. Storm hat nur gemäß seiner Natur gehandelt.»

«Das kann sein. Aber er hat es hervorragend getan», beharrte Casey. «Wenn er einen anderthalb Meter hohen Zaun schafft, obwohl er außer Form, untrainiert und geschwächt ist, kann man sich vorstellen, wozu er in der Lage ist, wenn er auf hohem Trainingsstand und im Vollbesitz seiner Kräfte ist.»

Lächelnd schob ihr Mrs Smith einen Teller hin. «Das Fantasieren überlasse ich gerne dir, Casey. Damit schließen wir dieses Thema ab. Wie wär’s mit einem schönen alten Film zu unserem Abendessen?»

Die ganzen Enttäuschungen des letzten Jahres, die Ablehnungen und die Verletzungen kamen auf einmal wieder an die Oberfläche. Casey knallte ihren Teller auf die Küchentheke. «Und damit hat sich’s? Ohne Erklärung? Dass Sie mich nicht trainieren wollen, ist ja in Ordnung. Das kann ich akzeptieren. Aber Sie könnten mir wenigstens sagen, warum nicht. Sie und mein Vater sagen mir immer wieder, ich solle meinen Träumen nachleben und mich nicht mit einer Arbeit herumschlagen, die ich nicht mag. Doch kaum bietet sich mir eine Chance, meinen Traum umzusetzen, wendet ihr euch ab von mir.»

«So einfach ist das nicht, Casey.»

«Warum ist es nicht so einfach?» Casey ließ ihren Emotionen freien Lauf. «Ich dachte immer, wir sind Freunde! Warum die ganze Geheimniskrämerei über Ihre Pferdevergangenheit? Was für ein Rätsel steckt dahinter? Sind Sie schwer gestürzt und haben Sie dann das Handtuch geworfen? War das das Problem? Oder haben Sie beim Dressurreiten den Durchbruch nicht geschafft und sind deshalb jetzt verbittert? Oder waren die ganzen Pferde und die schönen Rosetten nichts als ein Fantasiegebilde, um mich zu unterhalten? Haben Sie das alles erfunden?»

Mrs Smith setzte ihren Teller sorgfältig auf der Theke ab. Man sagt, die Augen seien das Fenster zur Seele, und genau das mochte Casey so gern an ihrer Freundin: Aus ihren Augen sprachen ein inneres Licht, eine Lebensfreude, eine schalkhaftes Wesen. Doch von all dem war jetzt nichts zu sehen. Im Gegenteil: Sie waren ruhelos, gehetzt.

Casey war untröstlich. Warum nur hatte sie so abscheuliche Dinge gesagt? Sie hätte alles gegeben, um ihre gedankenlosen Worte zurückzunehmen. Doch ihre Anschuldigungen standen im Raum, der Schaden war nicht wiedergutzumachen. «Haben Sie das alles erfunden?»

«Nein, da tust du mir unrecht», antwortete Mrs Smith ruhig. «Du liegst falsch, völlig falsch. Es macht mich traurig, dass du so denkst, aber ich habe dich im Dunkeln gelassen, und das war mein Fehler. Ich hätte mich nie in die Rettung von Storm reinziehen lassen dürfen. Es hat ein längst gelöschtes Feuer in meinem Inneren neu entfacht, hat Erinnerungen wieder an die Oberfläche gespült, die zu vergessen Jahrzehnte gebraucht hat.»

Sie schöpfte tief Atem. «Aber in einem hast du recht: Ich schulde dir eine Erklärung. Es ist eine lange Geschichte, aber bevor ich sie dir erzähle, beharre ich darauf, dass wir unser leckeres Abendessen genießen. Ich kann es nicht ab, dass man Lebensmittel wegwirft.»

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Casey stopfte so viel Fish & Chips in sich hinein, dass sie fast platzte. Dann schob sie noch ein Stück vom besten selbst gemachten Apfelkuchen mit Streusel und Vanillesoße hinterher, den sie je gegessen hatte. Erst jetzt gab Mrs Smith nach und schloss die hölzerne Truhe auf, die als Kaffeetisch diente. Ihr Inhalt – so sagte sie – werde alles erklären.

Sobald der erste Gegenstand aus der Truhe zum Vorschein kam – es war eine Fotografie –, wusste Casey, dass jede Antwort sechs neue Fragen auslösen würde. Auf dem Bild war eine junge und äußerst hübsche Mrs Smith zu sehen, die auf einem prächtigen kastanienbraunen Hengst saß. Sie hatte sich schick herausgeputzt, trug Zylinder, Frack und weiße Reithosen. Mit breitem Lächeln auf dem Gesicht schüttelte sie vom Pferderücken herab einem Mitglied der Königsfamilie die Hand.

Casey verschlug es den Atem. «Sie wurden Zweite bei den Europameisterschaften? Das ist ja unglaublich.»

Mrs Smith antwortete nicht. Sie war gerade dabei, einige Silbertrophäen auszupacken, die im Laufe der Zeit blind geworden waren. Dann kramte sie Rosetten und Diplome hervor und schließlich ein Album mit Fotos, die sie mit ihrem Pferd vor staunenden Zuschauern auf den verschiedensten Turnierplätzen zeigten.

Casey war baff. «Das verstehe ich nicht. Warum haben Sie mir nichts davon erzählt? Wenn ich so erfolgreich gewesen wäre, würde ich es durch die ganze Welt posaunen.»

Mrs Smith hörte auf, in der Truhe herumzuwühlen, und fuhr sich müde mit ihrer staubbedeckten Hand über die Augen. «Das ist, weil du nur die Erfolge siehst. Das ist, weil du nicht weißt, wie die Geschichte ausging.»

Casey schwieg. Wahrscheinlich hatte Mrs Smith recht. Seit sie befreundet waren, hatte sie nur Bruchstücke über den Anfang und die Mitte ihres Lebens mitgekriegt. Die letzten Kapitel waren verhüllt und verschwommen geblieben, voller obskurer Andeutungen und vager Einzelheiten, die sie überwiegend der schöpferischen Freiheit ihrer Freundin zugeschrieben hatte.

Sie wusste nur, dass ihre Mutter im Wochenbett gestorben war und dass Mrs Smith, wie sie selbst, von einem Vater erzogen worden war, den sie vergötterte. Auch ihr Leben hatte von A bis Z im Zeichen von Pferden gestanden. Aber damit hatte es sich dann schon mit jeder Ähnlichkeit.

Im Gegensatz zu Casey war Mrs Smith mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden. Ihrem vermögenden Vater hatte in der Grafschaft Gloucestershire ein Landsitz mit ausgedehnten Waldgebieten gehört. Sie war ein verwöhntes Kind gewesen, das regelmäßig in den Skiurlaub fahren durfte, zu Gartenpartys der Schönen und Reichen mitgenommen wurde und einen Stall voller Klassepferde ihr Eigen nannte. Doch zu diesen Pferden wollte sich Mrs Smith nicht äußern – abgesehen davon, dass sie viel zu jung viel zu viele geschenkt bekommen hatte.

«Dabei kommt selten etwas Gutes raus, meine Liebe», sagte sie.

Als sie 25 Jahre alt war, starb ihr Vater und hinterließ ihr sein ganzes Vermögen. Doch dieses Erbe sollte sich als unheilvoll erweisen. Der angebliche Reichtum ihres Vaters stand auf tönernen Füßen. Über viele Jahre getätigte Risikogeschäfte, Schuldenberge und Erbschaftssteuern zwangen Mrs Smith, den Landsitz mitsamt den Pferden abzustoßen. Von dem übrig bleibenden Erlös konnte sie sich mit Müh und Not ein kleines Landhaus in der Nähe kaufen. Dort lebte sie ein Jahr lang, bis sie ihr Herz an einen Mann verlor, der sich später als verschwenderischer Lebemann herausstellen sollte.

Mrs Smith schloss die Truhe und ließ sich neben Casey auf dem Sofa nieder. Sie verschränkte ihre Finger wie zum Gebet und sagte: «Was ich dir verschwiegen habe, ist, dass ich nach dem Verkauf des Landgutes meines Vaters das neunjährige Dressurpferd behielt, mit dem ich fünf Jahre lang trainiert hatte. Hast du schon einmal den Ausdruck ‹wandelndes Gedicht› gehört? Nun, keine Beschreibung hätte besser auf Carefree Boy gepasst. Er war ein Hannoveraner, und er war, ist und bleibt die Liebe meines Lebens.»

Mit einem trockenen Lachen fuhr sie fort: «Storm erinnert mich ein bisschen an ihn. Er galt als äußerst schwierig. Zum ersten Mal sah ich ihn bei einer Auktion. Damals war er vier Jahre alt. Aus keinem ersichtlichen Grund drehte er durch und warf den Reiter, der ihn die Gangarten vorführen ließ, ab. Mein Vater war gar nicht begeistert davon, mir solch ein Pferd zu kaufen, doch ich hatte mich einfach in Carefree Boy verguckt. Seine wilde Art gefiel mir. Und ich hatte damals einen überaus starken Willen.»

«Damals?», warf Casey ein und blickte sie vielsagend an.

Mrs Smith musste lächeln. «Gut, ich geb’s ja zu. Das ist immer noch so. Doch wie dem auch sei. Am Tag, als Carefree Boy in mein Leben trat, hat es zwischen uns gefunkt. Man könnte sagen, wir waren seelenverwandt. Sein ganzes Leben lang blieb er schwierig und gegenüber Fremden und Pflegern, die er nicht kannte, unberechenbar bis zum Gehtnichtmehr. Nur mit mir und meinem deutschen Trainer Nikolaus, dem Pferdeflüsterer der Dressurwelt, war er sanft wie ein Kätzchen. Aber wir waren ja auch Freunde. Im Dressurreiten waren wir ein unschlagbares Paar. Carefree Boy spielte sich liebend gerne auf. Je größer das Publikum, desto glänzender sein Auftritt. Ihn in Höchstform zu reiten war wie ein Flug auf den Schwingen eines Fabelwesens. Ich war jung und ehrgeizig und glaubte, die Welt liege uns zu Füßen.»

Sie senkte den Blick. «Und genau dieser Tunnelblick besiegelte meinen Untergang.»

Casey saß gespannt auf der Sofakante. «Was ist passiert? Was ist schiefgelaufen?»

«Da ich ständig auf Turnieren und immer auf Achse war, überließ ich meine Geschäfte meinem Mann, Robert. Schon vor meiner Heirat waren Gerüchte an mein Ohr gedrungen, er sei ein Spieler, Trinker und Frauenheld, doch ich wollte sie nicht wahrhaben. Und als ich dann aufwachte, war es zu spät. Carefree Boy und ich hatten es in die britische Dressur-Equipe für die Olympischen Spiele geschafft. Von dem Augenblick an gab es für mich sonst nichts mehr.»

«Sie ...? Sie waren ...? Wow! WOW!» Casey starrte ihre Freundin mit offenem Mund und uneingeschränkter Bewunderung an.

«Halt, ich habe nicht gesagt, dass ich an den Olympischen Spielen teilgenommen habe. Ich sagte nur, dass wir uns qualifiziert haben. Das ist ein großer Unterschied.»

«Aber ...»

Einen Augenblick lang schwieg Mrs Smith, doch dann sagte sie mit stockender Stimme: «Einen Monat vor Abreise der britischen Reitermannschaft machte mir Robert ein Geständnis. Er hatte ohne mein Wissen das Haus und Carefree Boy als Sicherheit für seine Spielschulden verpfändet. Dann setzte er alles auf einen letzten Wurf mit dem Würfel. Und verlor. Dummerweise hatte ich ihm eine Vollmacht für die Regelung meiner Finanzen erteilt. Ich war machtlos.»

«Und so hat man Ihnen Carefree Boy einfach weggenommen?», fragte Casey entgeistert.

«An einem schrecklichen Tag, den ich nie vergessen werde, habe ich alles verloren: mein Haus, das Pferd, das ich mehr liebte als alles andere auf dieser Welt, meinen Traum von den Olympischen Spielen. Meinen Ehemann habe ich auch verloren, doch das war vielleicht besser so. Doch das Allerschlimmste war, dass Carefree Boy an meinen Erzrivalen verkauft wurde, einen Mann, der für seine brutalen Methoden im Umgang mit Pferden bekannt war.»

«Konnten Sie ihn nicht davon überzeugen, Ihnen das Pferd zurückzuverkaufen?»

«Du kannst mir glauben, ich habe nichts unversucht gelassen. Nur hat mich Robert leider an den Rand des Ruins gebracht. Nikolaus erklärte sich bereit, die Summe vorzustrecken, doch der neue Besitzer wollte um keinen Preis verkaufen. Er kannte das Potenzial, das in Carefree Boy steckte. Doch seinen Stallburschen schien das entgangen zu sein. Einen Monat, nachdem Carefree Boy auf den neuen Hof gezogen war, starb er an einer schweren Kolik einen schmerzvollen Tod.

Eine ganze Zeit lang war für mich das Leben nicht mehr lebenswert. Nicht dass man nicht nett gewesen wäre zu mir: Die Sponsoren blieben mir treu, viele Freunde, die es gut meinten mit mir, boten mir Plätze in ihren Reitställen oder wunderbare Reitpferde an. Aber für mich war es vorbei. Ich verließ die einzige Welt, in der ich mich zu Hause fühlte, mit nichts als einem Koffer in der Hand. Ich ging in das Londoner East End, weil meine Mutter hier geboren wurde. Damals war hier alles spottbillig und anonym – genau was ich wollte.»

Sie streichelte die orangefarbene Katze, die auf der Sofalehne lag und schlief. «Außerdem gab es hier jede Menge herrenloser Pferde, die Schutz brauchten.»

Casey liefen Tränen über die Wangen. Sie wischte sie mit dem Ärmel weg. Mrs Smith reichte ihr ein Papiertaschentuch.

Nach einer Weile sagte Casey: «Seit mehr als dreißig Jahren ist also Storm das erste Pferd, dem Sie sich nahe fühlen?»

Mrs Smith blickte Casey von der Seite an. «Ich mag mein Leben. Ich besuche Storm gerne und ich mag unsere Kaffeekränzchen am Samstagnachmittag, aber mit dem Reitsport habe ich ein für allemal abgeschlossen. Seit Jahrzehnten schon.»

Casey nahm ihre Hand. «Aber das muss nicht sein. Sie, ich und Storm, wir zusammen wären doch ein wunderbares Team.»

Mrs Smith zog die Hand zurück. «Nein, Casey, das geht nicht, und du verstehst bestimmt auch weshalb.»

Casey ließ ihren Blick über all die Fotos, Rosetten und Trophäen schweifen, die immer noch auf dem ausgetretenen Wohnzimmerteppich herumlagen. Das Bild von Carefree Boy trieb ihr wieder Tränen in die Augen. «Ja, ich weiß. Wenn mir jemand Storm wegnehmen würde, ich würde genauso reagieren. Es tut mir leid, dass ich Sie darum gebeten habe, uns zu trainieren, und damit bei Ihnen wieder so viele schmerzliche Erinnerungen ausgelöst habe. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Sie nie mehr danach fragen werde.»

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Es war beinahe 22 Uhr, als Casey von Mrs Smith nach Hause begleitet wurde. Casey hatte noch versucht, es ihr auszureden. Doch Mrs Smith blieb hart und sagte, sie könne ein bisschen frische Luft und Bewegung gut gebrauchen. An diesem Samstagabend wimmelte es auf den Straßen von aufgedrehten Szenegängern, lustlosen Wochenendarbeitern und Männern von der Art, die selbst nachts mit Sonnenbrillen herumlaufen. Bässe wummerten aus offenen Autofenstern. Ungeduldige Fahrer machten ihrem Ärger mit Dauerhupen Luft.

Das alles ging völlig an Casey vorbei. Sie sprach in angeregtem Ton über ihren Vater. «Ich glaube, er hat wirklich seine Berufung gefunden. Ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen. In den letzten Jahren hatte er so viele Stellen und x-Millionen Geschäftsideen, doch meistens wurde nichts draus. Einige waren ein völliger Reinfall. Aber mit dem Half Moon Tailor Shop ist es anders. Dad verlässt das Haus am Montagmorgen fast hüpfend, so sehr freut er sich auf seine Arbeit.»

Mrs Smith lachte. «Er mag seinen Boss wohl?»

«Und ob er ihn mag! Als wären die beiden schon ihr ganzes Leben lang die besten Kumpel gewesen. Dad sagt, Ravi Singh sei der anständigste Mann, den er je kennengelernt hat, und Ravi findet, Dad sei die beste Entdeckung, die er je gemacht hat. Er habe ein natürliches Talent als Näher und Designer. Er hat ihm gesagt ...»

Sie blieb so unvermittelt stehen, dass Mrs Smith in sie hineinlief. Sie standen gerade vor dem Gunpowder Plot Pub, wenige Straßen von Caseys Zuhause entfernt.

«Was ist los? Ist dir ein Geist erschienen?»

«Ich .. ääh ...» Casey hatte sichtlich Mühe, ihre Gefühle zu kontrollieren. «Entschuldigung, was haben Sie eben gesagt?»

«Casey, was ist jetzt gerade passiert?»

«Nichts. Nichts ist passiert. Ich bin müde. Das ist alles. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich von hier an allein nach Hause gehen. Nochmals vielen Dank für heute Abend.»

«Warum diese Eile plötzlich?», fragte Mrs Smith, packte Casey am Arm und führte sie zum Fenster des Pubs zurück. «Du hast doch eben hier reingeschaut und etwas gesehen, was dir nicht gefallen hat.»

Nun schaute sie mit zusammengekniffenen Augen in die schummrige Kneipe hinein. «Dein Vater! Was macht er denn hier? Ich dachte, am Samstagabend sei er immer im Tin Drum. Und wer sind diese Männer? Dem großen Glatzkopf dort hinten möchte ich nachts nicht in einer dunklen Gasse begegnen.»

«Es ist egal.» Casey wand sich aus dem Griff von Mrs Smith. «Ich geh’ jetzt. Gute Nacht.»

Mrs Smith lief ihr hinterher. «Nein, offensichtlich ist es ist nicht egal. Diese Männer, das sind sicher ... Partner ... Kollegen ... die dir nicht gefallen.»

Casey nickte nur traurig. Es war zwecklos, etwas vor Mrs Smith verstecken zu wollen. Sie hatte einen Röntgenblick, mit dem sie Gedanken lesen konnte.

«Das sind die sogenannten Kumpel, die ihn in eine Sache hineingeritten haben», brach es aus ihr heraus. «Wegen ihnen hat er eingesessen. Sie waren zusammen vor Gericht und ließen ihn wie eine heiße Kartoffel fallen. Ich habe gesehen, wie sie sich nach der Verhandlung auf dem Parkplatz krumm gelacht haben.»

«Ich weiß nicht, ob dich das tröstet, aber er sah nicht gerade aus, als wolle er sich mit ihnen unterhalten. Er schüttelte den Kopf, und seine Körpersprache war klar ablehnend.»

Aber Casey hatte innerlich längst abgeschaltet. Mittlerweile standen sie vor dem Eingang ihres Wohnblocks. Sie wollte jetzt nur noch in die Wohnung Nr. 414 schleichen, ins Bett schlüpfen und den Kopf tief im Kissen vergraben.

«Machen Sie sich keine Gedanken. Es ist nicht wichtig. Ich muss mich wohl einfach daran gewöhnen, dass ich meinem Schicksal niemals entfliehen werde. Ein Ort wie dieser, Redwing, ist wie Sekundenkleber. Von hier kommt man nicht mehr weg. Und dann gibt es diesen Bumerang-Effekt. Die Leute versuchen, von hier wegzukommen. Auch Dad hat’s versucht. Doch irgendwie landen sie immer wieder hier. Ich kann jetzt nur noch darauf hoffen, dass mich Mrs Ridgeley als Hilfsreitlehrerin nimmt und Storm an der Hopeless Lane bleiben darf. Aber das geht nur, wenn mein Vater nicht wieder hinter Gittern landet. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe kein Selbstmitleid. Ich bin nur realistisch. Die Sache mit Badminton war sowieso ein Hirngespinst. Als könnte ein Teenager, der kaum reiten kann, auf einem 1-Dollar-Pferd aus einer Abdeckerei an einem dreitägigen Vielseitigkeitswettbewerb mitreiten ...»

«Hör auf!», schrie sie jetzt Mrs Smith an. «Hör sofort auf! Ich halte es nicht aus, wenn du so redest. Du musst dich und Storm nicht so schlechtmachen. Gut, dann will ich deine Trainerin sein, aber du musst akzeptieren, dass du im Vielseitigkeitsreiten gut und gern fünf Jahre brauchst, um ein Champion zu werden und das auch nur, wenn Storm gesund bleibt und sich von seiner körperlichen Verfassung und seinem Temperament her überhaupt eignet.»

Casey blickte sie ungläubig an und hoffte, sich verhört zu haben. «Ich habe keine fünf Jahre Zeit. Mir bleiben höchstens zwei. Wenn ich es bis 18 nicht zur Profireiterin schaffe, muss ich einen normalen Job annehmen. Irgendeinen Job.»

«Vergiss es! Das haben bisher nur ganz wenige Reiter geschafft und nur unter den allerbesten Bedingungen.» Mrs Smith deutete auf Caseys Wohnblock mit seiner gefängnisgrauen Fassade, den verrosteten Fenstergittern, den allgegenwärtigen Überwachungskameras. Im fahlen Mondlicht sah alles noch viel schauriger aus als bei Tag. «Und wie du schon gesagt hast: Dir sind diese Bedingungen nicht vergönnt.»

Jetzt schob sich Caseys Unterkiefer entschlossen vor. «Ich kann es schaffen, wenn Sie mich trainieren. Ich kann es schaffen, wenn Sie mir dabei helfen, aus Storm ein ebenso gutes Pferd zu machen wie Carefree Boy.»

Eine Gruppe kichernder Mädchen quoll aus der Eingangshalle und ließ eine Tabakwolke zurück.

Mrs Smith nahm sie gar nicht wahr, zu sehr war sie in Gedanken vertieft. Angelica, mach jetzt bloß keine Dummheit. Du hast mit diesem Wahnsinn schon vor Jahren abgeschlossen. Sag Nein. Sag Nein, solange du noch kannst.

Doch zu ihrem Ärger wollte ihr Sprachzentrum ihr nicht gehorchen. Stattdessen hörte sie sich sagen: «Ich trainiere dich, aber nur unter einer Bedingung. Du tust, was ich dir sage, und du hinterfragst meine Anweisungen nicht, solange sich diese einigermaßen im Rahmen der Vernunft bewegen.»

Casey quietschte vor Glück und fiel ihr um den Hals. «Das verspreche ich hoch und heilig. Vielen Dank, Mrs Smith! Vielen, vielen Dank!»

Mrs Smith wand sich aus Caseys Umarmung und strich ihre Kleidung glatt. Ein unerwartetes Glücksgefühl überkam sie. Die Entscheidung war gefallen, jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit 62 trat sie in die zweite Phase ihres Reiterlebens. «Wann treffen am Sonntagmorgen die ersten Leute im Reiterhof ein?»

«So um neun.»

«Gut, dann sehen wir uns morgen früh um fünf.»

«Um fünf? An einem Sonntag

«Was hatte ich dir gesagt?»

Grinsend antwortete Casey: «Ich wollte nur ganz sicher sein. In Ordnung, bis morgen um fünf Uhr.»