Die Begegnung mit Anna Sparks wirkte auf Casey elektrisierend. Sie hatte sich wie ein Aschenputtel im Reiterland gefühlt, als sie vor dem Zusammentreffen über den Parkplatz gegangen war. Ein Teil von ihr war hin und weg, weil ihr Traum, an einem richtigen Turnier teilzunehmen, Wirklichkeit geworden war. Sie war umgeben von Reitern, über die sie bisher nur gelesen hatte, und dort drüben lag die Geländestrecke mit richtigen Hindernissen. Ein anderer Teil von ihr wurde von Minute zu Minute überzeugter, dass sie in dieser elitären, vom Geld getriebenen Welt nichts verloren hatte.
Doch als das Mädchen, das für sie ein Idol gewesen war, sie niedergemacht und ihr Pferd und ihre Freunde verhöhnt hatte, erinnerte sich Casey an den Ratschlag von Mrs Smith. Im Vielseitigkeitsreiten wie auch im Leben zählten die wahren Werte: Liebe, Mut, Geduld. Es kam darauf an, eine Beziehung zwischen sich und dem Pferd aufzubauen, die von Vertrauen und Respekt getragen war. Alles andere war nichts als leerer Schein.
Zu Mrs Smith sagte sie nichts über Annas bissige Bemerkungen, doch diese hatte die Begegnung aus der Entfernung mitgekriegt und ihre eigenen Schlussfolgerungen gezogen. Beide schwiegen sich darüber aus, bis sie Storm in einer schicken Box mit Markise im Stallbereich untergebracht hatten.
Nachdem Casey die Tür verriegelt hatte, sagte Mrs Smith: «Dieser Rough Diamond ist schon ein tolles Pferd.»
Casey täuschte vor, sich für die Beschriftung eines Futtersacks zu interessieren. «Ja, sicher.»
«Man darf nie vergessen, dass solche Pferde nur die Noten eines Musikstücks ausmachen, das, was man hört, das ganze Trara! Pferde wie Storm Warning hingegen sind die Pausen zwischen den Tönen, die stillen Momente, die die Musik zu dem machen, was sie wirklich auszeichnet. Dasselbe gilt für ihre Reiter.»
Dieser einfache Gedanke hob Caseys Stimmung. Als sie sich lachend umdrehte, um sich in Bewegung zu setzen, stieß sie mit Peter zusammen. Für einen Augenblick berührten sich ihre Körper. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie noch nie so dicht bei einem Jungen gestanden hatte. Sie lief rot an und machte einen Schritt zurück.
«Was kann ich für dich tun?», fragte sie. Aus Schüchternheit reagierte sie abweisend, ohne es eigentlich zu wollen.
Er antwortete mit einem Lächeln, das einen Eisberg zum Schmelzen gebracht hätte, das sie aber irgendwie nervte. «Hi Casey. Ääh, ich hoffe, das ist OK für dich, aber ich wollte dich um einen Gefallen bitten. Mir ist vorher aufgefallen, dass dein Pferd ein loses Eisen hat …»
Casey drehte sich ruckartig zu Storm um und sah sofort, dass Peter recht hatte. Es musste unterwegs im Transporter passiert sein. Das lose Eisen war ihr beim Striegeln entgangen, weil sich ihre Gedanken um Anna Sparks gedreht hatten. Und Mrs Smith, die so etwas normalerweise im Blick hatte, war nach ihrer Ankunft auf dem Turnierplatz auch beschäftigt gewesen, weil sie sich mit Terminen, Örtlichkeiten und Reglements vertraut machen musste.
Und was am schlimmsten war: Mrs Smith hatte Casey vor dem Turnier bearbeitet, Storm neu beschlagen zu lassen. Vor fünf Wochen hatte es der Hufschmied der Hopeless Lane schließlich doch noch geschafft, bei Storm Warning neue Eisen anzubringen. Beide wussten, dass es sich dabei um einen schlechten Beschlag handelte, doch Casey wollte um jeden Preis Geld sparen und war der Meinung, die Eisen würden mindestens noch zwei Wochen halten.
Dass Peter mitgekriegt hatte, wie Anna Sparks sie zum Gespött gemacht hatte, war schlimm genug. Doch diese Peinlichkeit gab ihr jetzt noch den Rest. Mit finsterem Gesichtsausdruck wandte sie sich zu Peter.
«Hast du sonst noch etwas an Storm zu kritisieren, wenn du schon dabei bist? Sein Sattelzeug? Seine Verfassung?»
«Überhaupt nicht. Ich bin nur gekommen, um dich um einen Gefallen zu bitten. Darf ich dein Pferd beschlagen? Ich bin noch Lehrling.» Grinsend fügte er hinzu: «Ich will mir einen Kundenstamm aufbauen, und dafür muss ich Erfahrungen sammeln.»
Casey durchschaute Peters Absichten sofort. Wäre er kein Meister seines Faches, hätte Anna Sparks ihn niemals an ihr Pferd herangelassen. Er war nur zu ihr gekommen, weil sie ihm leid tat. Und wenn sie jetzt etwas nicht gebrauchen konnte, so war es ein betont unaufgeregter Junge mit Schlafzimmerblick, Strubbelhaar und unheimlich relaxten Bewegungen, der Mitleid mit ihr hatte. «Danke, aber wir brauchen keine Almosen.»
«Ganz im Gegenteil, wir brauchen alle Almosen, die wir kriegen können», mischte sich jetzt Mrs Smith ein. Mit einem warmen Lächeln auf den Lippen streckte sie Peter ihre Hand entgegen. «Ich heiße Angelica Smith, und du bist …»
«Entschuldigen Sie, Ma’am. Ich bin Peter Rhys, der Sohn des Hufschmieds.»
«Aus Wales, nehme ich an.»
«Richtig, Ma’am. Geboren und aufgewachsen auf der Farm meines Großvaters in Monmouthshire bei Hay-on-Wye.»
«Was für eine wunderbare Gegend! Der Garten Eden, das Paradies! Nun … ääh … Casey und ich würden dein Angebot, Storm zu beschlagen, sehr gerne in Anspruch nehmen. Seit Wochen schon möchte ich ihm neue Eisen aufnageln lassen. Ich weiß, dass wir das Risiko von Druckschmerzen nicht ganz ausschließen können, aber ich denke, wir müssen es wagen. Ich wäre froh, wenn du seine vier Hufe neu beschlagen könntest.»
Casey sah sie ungläubig an. «Und ich habe nichts dazu zu sagen?»
«Jein. Ja, weil das Pferd dir gehört. Aber vergiss nicht, dass morgen auf tiefem Boden geritten wird und sicher auch du alles daran setzen willst, dass Storm nicht ausrutscht und sich dabei verletzt. Und nein, weil ich deine Betreuerin bin. Wenn sich eine Gelegenheit bietet, die Sicherheit von dir oder Storm zu erhöhen, dann müssen wir sie ergreifen.»
Caseys Blick wanderte zu Peter. Der zuckte nur mit den Schultern, als wollte er sagen: Regelt diese Angelegenheit untereinander. Ich hab’ nichts damit zu tun.
«Gut, dann beschlage ihn, wenn du willst», sagte sie barsch. «Aber ich warne dich. Storm kann Fremde nicht ausstehen. Als der letzte Hufschmied sich an ihm zu schaffen machte, ist er völlig ausgetickt.»
«Ich hab dir ja gesagt, dass ich Erfahrungen sammeln muss», gab Peter leicht amüsiert zurück.
Nach diesem ganzen Vorgeplänkel war es beinahe ärgerlich für Casey, dass sich Storm nicht etwa wie ein Wildpferd benahm, sondern Peters Behandlung gehorsam und halb dösend über sich ergehen ließ. Casey wusste, dass dies – abgesehen von seiner offensichtlichen Pferdeliebe – weitgehend mit Peters Können und Fingerspitzengefühl zu tun hatte. Viel früher, als sie erwartet hatte, befand sich Storm wieder mit perfekt beschlagenen Hufen im Stall und mampfte genüsslich sein Abendessen.
Zu allem Überdruss hatte Peter auch sofort Mrs Smith für sich eingenommen, als er Storms Muskeltonus lobte. Mrs Smith war überzeugt, dass diese gute Verfassung zu einem großen Teil darauf zurückzuführen war, dass sie Storm nach dem Waschen und Trocknen mit einem trockenen Lappen zwanzig Mal hintereinander auf drei bestimmte Stellen seines Körpers klatschte. Dabei handelte es sich um eine althergebrachte Methode. Es stellte sich heraus, dass auch Peters Vater große Stücke darauf hielt.
«Er sagt, es wirkt belebend auf die Muskulatur, weil sie sich durch die sanften Klapse immer wieder zusammenzieht und entspannt. Er schwört darauf und ist überzeugt, dass die Pferde diese Behandlung mögen. Unsere Pferde jedenfalls können nicht genug kriegen davon.»
Und dann waren sie nicht mehr aufzuhalten. Sie schwärmten von einem Wasserfall in Wales, zu dem sie beide schon einmal gewandert waren. Sie sprachen über Dinge wie Storms «Konformation» und gebrauchten dabei jede Menge weiterer Fachbegriffe, die in Caseys Augen nur ein Tierarzt verstehen konnte. Auf jeden Fall wurde ihr klar, dass Peter genug über Pferde wusste, um nicht nur Storms struppiges Fell und seine herausstehende Hüftknochen zu sehen, sondern auch sein großes Potenzial und das, was ihn von den anderen Pferden abhob. «Das hier ist ein ungeschliffener Diamant im wahrsten Sinne des Wortes», sagte er.
Eigentlich hätte dies Casey freuen und stolz machen sollen. Aber sie hatte sich noch nicht von der Begegnung mit Anna Sparks erholt. Peter hatte sich zwar nicht am Gespräch beteiligt, aber auch nicht für sie stark gemacht. Deshalb wollte sie sich ihr Urteil über ihn noch bilden. Und so kam alles, was er sagte oder tat, bei ihr schlecht an, selbst wenn er sehr gut mit Storm umzugehen wusste und Mrs Smith ihn offensichtlich sehr sympathisch fand. Sie rang sich ein wenig überzeugendes Lächeln und ein paar karge Dankesworte ab, als er ging. Dennoch machte sich Peter mit hängenden Schultern davon, wofür sie sich wiederum schuldig fühlte.
Doch dann wurden sie alle von einer plötzlichen Erschöpfung übermannt. Mrs Smith legte sich auf die unbequeme Bank in der Fahrerkabine des Transporters, Moth klappte sein Feldbett im Laderaum des Fahrzeugs auf, und Casey kuschelte sich auf dem harten Boden von Storms Stallbox in ihren Schlafsack. Jetzt konnte sie nichts mehr am Schlafen hindern.
Und so fand Peter sie vor, als er kurz nach zehn Uhr zurückkam, um ein paar Werkzeuge zu holen, die er liegen gelassen hatte. Casey lag zusammengekauert auf einem Bett von Hobelspänen, sie war völlig hinüber, und ein Strahl Mondlicht zog sich über ihr Gesicht. Storm stand mit gesenktem Kopf über ihr.
Er bewacht sie, dachte Peter. Angelica Smith hatte nichts über Storms Vorgeschichte gesagt, und er hatte sich nicht getraut, danach zu fragen. Er war jedoch überzeugt, dass Casey auch schon an Storms Schlafstätte gewacht hatte. Obwohl er sie gerade erst kennengelernt hatte, war ihm klar, dass sich die beiden gegenseitig anbeteten. Storm jedenfalls ließ Casey nicht aus den Augen.
Peter beobachtete die beiden noch für ein paar Minuten, um dann die Stallbox unvermittelt zu verlassen. Er konnte nicht verstehen, warum ihm gerade dieses Mädchen so sehr unter die Haut ging. Er wusste nur, dass er Mühe damit hatte. Er konnte sich nicht damit anfreunden, in einem Wechselbad der Gefühle zu stecken. Deshalb wollte er sein Leben bis zum Zeitpunkt seiner ersten Begegnung mit diesem Mädchen zurückspulen. Genau gesagt bis heute Nachmittag um 16:30 Uhr, als er dabei gewesen war, Rough Diamonds linken Vorderhuf zu untersuchen.
Am nächsten Morgen würde sein Leben wieder auf Normalkurs sein. Er würde wieder Seite an Seite mit seinem Vater arbeiten, seine Freunde würden ihn wie immer aufziehen, zum Beispiel, weil er sich nicht für die hübschen, piekfeinen Mädchen der Turnierszene interessierte. Vielleicht sollte er tatsächlich mit einem dieser Mädchen gehen, nur um die Lästerer zum Schweigen zu bringen. Dann würde es sein, als habe es Casey Blue und ihr angeschlagenes Schlachtross nie gegeben.